Gesucht - die europäische Seele
Es ist noch nicht so lange her, da unterschied ein US-Minister altes und neues Europa. Kriterium: Wer mit den USA geht, mit ihnen kämpft, gehört zum neuen Europa. Lässt sich das so dividieren? US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld machte einen Anfang, er schalt Deutschland und Frankreich “das alte Europa“. Jetzt schreibt auch Formel-1-Organisator Bernie Ecclestone Europa ab. Wenn es nach ihm geht, werden Ferrari, BMW, Mercedes-Benz & Co. künftig in Asien ihre Autorennen ausrichten: “In zehn Jahren gehört Europa zur Dritten Welt.“ Prima, kann man da nur sagen. Das sind aber Kriterien! – “Nie und nimmer wird Europa bis zum Jahr 2010 die wettbewerbsfähigste Region der Welt sein. (…) Asien und Amerika laufen den Europäern davon“, prophezeit Christoph Keese von der Financial Times Deutschland, im Januar 2003 nach dem Weltwirtschaftsgipfel im schweizerischen Davos. Nimmt man das teilweise kleinliche Gequengel europäischer Staaten in der Diskussion um eine gemeinsame EU-Verfassung, dann stellt sich schon die Frage: “Quo vadis, Europa?“. Ist die “Seele“ längst an Kommerz und Ökonomie verkauft? Liegen Heil oder Unheil ganz darin?
Abstieg oder neue Chancen? Wenn Europa sich selbst finden will, muss es sich da suchen, wo es zu finden ist: in seinen kulturellen Traditionen. Von Jean Monnet, einst erster Hochkommissar der Montanunion, wird der Satz kolportiert: “Wenn ich es noch einmal machen müsste, würde ich mit der Kultur beginnen!“ Ist Europa hinreichend beschrieben als Wirtschafts- und Währungsunion? Ist Europa eben nur “Euro-Land“? “Helfen Sie uns, Europa eine Seele zu geben, sonst ist es nicht zu machen“, hat Jacques Delors in einem Gespräch mit protestantischen Bischöfen aus verschiedenen europäischen Ländern gesagt.
1994 hat der damalige tschechische Staatspräsident Václav Havel hat im Europäischen Parlament in Straßburg einen mutigen Weg gewiesen, indem er sagte: “Deswegen scheint es mir, dass die vielleicht wichtigste Aufgabe, der sich heute die Europäische Union gegenüber sieht, einhergeht mit einem neuen, aufrichtigen und klaren Nachdenken über das, was man europäische Identität nennen mag, einer neuen und wahrhaft klaren Benennung europäischer Verantwortung, einem verstärkten Interesse an einer echten europäischen Integration, an all ihren weiteren Verwicklungen in der gegenwärtigen Welt und an eine Erneuerung ihres Ethos oder, wenn Sie so wollen, ihres Charismas.“ – Europas Seele, läge sie hier?
Gute Verfassung? Immerhin – nie zuvor in den letzten Jahrhunderten war so lange, so sicher Frieden in Europa. Nie zuvor gab es ein vergleichbares solidarisches, partnerschaftliches Verhältnis zwischen Staaten und Menschen in Europa. Nie zuvor standen die gesellschaftliche Ordnung, die Rechtsordnung, der Schutz von Menschenwürde und -rechten auf einer so stabilen Grundlage wie heute.
Jedoch gilt auch (und das Schicksal Ex-Jugoslawiens bleibt mahnend und nahe): Auf einem realen, moralischen Trümmerfeld vor allem des letzten Jahrhunderts ist die europäische Idee entstanden, entstanden aus Erschütterung und Scham über so viele Kriege und Katastrophen, aus Entsetzen über die beiden Weltkriege, über Totalitarismus und Rassenwahn. Die Idee war geleitet von der Hoffnung, dass sich solches nicht wiederholen soll und darf. Große, christlich geprägte Politiker brachten die Idee eines vereinten Europa voran: Konrad Adenauer, Robert Schumann, Alcide De Gasperi.
Heikle Debatten. Auffällig viele Stimmen – Politiker, Historiker, Soziologen, Kirchenmenschen und -gremien – sprechen in den letzten Jahren von der “Seele Europas“. Spurensuche und Besinnungen in Zeiten des Übergangs? Erhöhter Bedarf an Orientierungen in beschleunigten Zeiten, die vieles hinter sich lassen?
Es war kein Zufall und wurde deutlich wahrgenommen, als Papst Johannes Paul II. 2003 sein Schreiben “Ecclesia in Europa“ veröffentlichte, ein nachsynodales Schrieben zu einer Konferenz europäischer Bischöfe etliche Jahre zuvor. Genau in diesem Jahr 2003 ging es um den Verfassungsentwurf, den eine Kommission unter Valerie Giscard d`Estaing ausarbeitete. Die weiteren politischen Debatten und Kontroversen haben ja sichtbar gemacht, wie heikel und fragil dieser Entwurf ist. Worauf bezieht sich ein derartiges und völlig neues Grundlagendokument? Wo schlägt sein Herz? Pulsieren die unverzichtbaren Ideen? Schon an einem grundlegenden Gottesbezug dieser EU-Konstitution scheiden sich die Geister.
Was aber ist Europa? Der Franzose Jacques le Goff, einer der bedeutendsten Historiker derzeit, meint: Das Christentum ist das ideologische Hauptfundament Europas. Natürlich gab es auch andere Elemente, die zur Europaidee beigetragen haben und die sich das Christentum zu Eigen gemacht hat. Er denkt an die griechische Philosophie, insbesondere an ihre Erkenntnislehre, ihre Ethik, die Idee der Demokratie. Er denkt an das Römische Recht als einen der Stützpfeiler Europas. Zudem – hier wird ein Riss sichtbar – meint er, dass es dem Christentum nicht gelungen sei, die bereits existierenden Spaltungen zwischen Ost und West innerhalb des damaligen Römischen Reiches zu überwinden, ob das nun die Sprachunterschiede oder der Regierungsort war, der ja später in die neue Hauptstadt Konstantinopel verlegt worden war, oder die Unterschiede zwischen lateinischem und griechischem Christentum. Probleme, mit denen auch das neue Europa konfrontiert wird.
“Europa eine Seele geben!“ 1998 gab Walter Kardinal Kasper, damals noch Bischof in Rottenburg, einem Vortrag exakt diese Überschrift. Er vertritt die Auffassung, dass das christliche Menschenbild als Grundlage europäischer Identität zu werten sei. Wer, so der Gedanke Kaspers, versucht zu klären, was denn nun eigentlich Europa ausmacht und was dazu gehört, wird bald feststellen, dass Europa ein sehr offener, um nicht zu sagen vager Begriff ist. Die alten Griechen etwa bezeichneten das griechische Festland als “Europa“, die Römer das Imperium Romanum. Karl der Große, der sich “rex et pater Europae“ nannte, meinte mit Europa das Fränkische Reich. Auch heute müssen wir uns fragen, ob wir von den geographischen Grenzen ganz abgesehen, unter Europa eine wirtschaftliche Einheit, eine kulturelle, eine politische, gar eine religiöse verstehen?
Es ist vor allem “das christliche Verständnis vom Menschen und von seiner gottgeschenkten, absoluten und unverlierbaren Würde als Person“, in der Kasper die gemeinsame geistige Wurzel und das Prinzip der Einheit Europas sieht. Dieses Menschenbild ist grundgelegt im Humanismus der Antike, weitergeführt und wesentlich vertieft durch das Christentum und seiner Botschaft von der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen unabhängig von Religion, Kultur, Geschlecht, Rasse und sozialer Klasse. Es wurde in besonderer Weise akzentuiert, so Kardinal Kasper, durch die reformatorische Aussage von der “Freiheit des Christenmenschen“ und weiter ausgebildet in der neuzeitlichen Aufklärung und den verschiedenen Deklarationen der allgemeinen Menschenrechte. In der europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 wurde dieses Menschenbild, wenn nicht dem Namen so doch der Sache nach, ebenso zur Grundlage eines vereinten Europas gemacht, wie es als Grundrecht die Verfassung unseres und aller übrigen freiheitlichen Rechtsstaaten Europas bestimmt. Ohne diese Grundlage ist eine europäische Friedensordnung schlechterdings undenkbar. Das Menschenbild des christlichen Humanismus ist der Grund, in dem Europa sicheren Stand findet, es ist der wichtigste Beitrag, den wir Christen zu Europa leisten können, und es ist der wichtigste Beitrag Europas zur Kultur der Menschheit und zum Weltfrieden.
Auf der Linie des Ökumene-Kardinals bewegt sich auch der “Ökumenische Rat der Kirchen“ (ÖSK): Dessen Leitlinien betonen, dass die Marktwirtschaft allein nicht Grundlage eines vereinten Europas bilden dürfe. “Menschen und Gesellschaften verändern sich nicht nur durch Transaktionen und Handel, sondern auch durch Überzeugungen und Ideen. Das “Herz und die Seele“ Europas, seine Werte und seine Spiritualität müssten wieder entdeckt und erneuert werden. Die Kirchen müssten ihre “heilenden und friedensschaffenden Kräfte in der Gesellschaft freisetzen und die inneren Ressourcen finden, die sie befähigen, Zeugnis abzulegen von einer neuen Hoffnung für Europa“.
Laut ÖRK bieten die bei der europäischen Einigung entwickelte Kultur des politischen Kompromisses ein politisches Modell für multilaterale Zusammenarbeit. ÖRK-Mitgliedskirchen sollten die Vision eines friedlichen, demokratischen und gerechten Europas von Island bis zum Kaukasus unterstützen, dessen Einheit auf der Achtung der geschichtlichen, kulturellen und religiösen Vielfalt beruht.
Es reicht aber noch nicht aufzuzeigen, inwiefern der europäische Gedanke geschichtlich im Christentum verwurzelt ist. Entscheidend für die Zukunft Europas und seine “Seele“ wird sein, inwiefern aus dieser Wurzel ein neuer Reis wachsen kann. Mit anderen Worten: Worum muss es Europa aus christlicher Sicht gehen, und wo haben wir unsere christlichen Werte und Überzeugungen in die Gestaltung Europas einzubringen. Walter Kasper etwa nennt fünf Aspekte:
1. Friede, Freiheit und politische Gerechtigkeit in einem vereinten Europa
2. Solidarität und soziale Gerechtigkeit in einer vereinten europäischen Wirtschaft
3. Bewahrung der einen Schöpfung in gemeinsamer ökologischer Verantwortung
4. Eine Kultur des Lebens in der Vielfalt der europäischen Kulturen
5. Gemeinschaft der Kirchen und Religionen aus gemeinsamer europäischer Geschichte
Wir dürfen dabei die orthodoxen Kirchen Osteuropas nicht vergessen. Wenn wir als Christen den Begriff Europa in der gemeinsamen Geschichte der Christianisierung begründen, dann gehören die orthodoxen Kirchen selbstverständlich zu Europa.
Nicht weniger hat der Islam das Gesichts Europas geprägt, und es liegt sehr daran, dass zum Prozess der europäischen Einigung auch gehört, dass wir aufhören, den Islam auf ignorante vorurteilsbelastete Weise mit den zugegeben bedrohlichen Formen des fundamentalistischen politischen Islamismus gleichzusetzen. Kein Geringerer als Karl der Große, der “Vater Europas“, hatte ganz selbstverständlich arabische Diplomaten in seinem Gefolge. Unser Recht, unsere Medizin, unsere Mathematik sind ganz wesentlich unter arabischem Einfluss entstanden.
Der Theologe Johann Baptist Metz hat jüngst (im November 2003) in einem öffentlichen Brief an den deutschen Außenminister Joschka Fischer auf einen weiteren Traditionsstrang hingewiesen, ohne den die Seele des Christentums und die Seele Europas nicht zu finden und weiter gestalten ist. Metz schreibt: “Deshalb zielt meine Anregung auf eine geringfügige, aber entscheidende Präzisierung des Entwurfstextes: ’Schöpfend aus den kulturellen, aus den religiösen, insbesondere jüdisch-christlichen und aus den humanistischen Überlieferungen Europas‘“.
Europa in einer Welt. Es gilt, im Zuge des europäischen Einigungsprozesses die Frage der Gemeinschaft eines geeinten Europa mit außereuropäischen Staaten zu bedenken. Europa ist keine Insel, besonders in Zeiten, die wie die unsrigen vor allem von ökonomischen Prozessen geprägt sind, erfahren wir, dass wir mit allen Menschen in einer Welt leben, in der alles mit allem zusammenhängt. Europa kann sich politisch nicht vom Rest der Welt zurückziehen. Wenn, wie es in Goethes Faust heißt, “hinten in der Türkei die Völker aufeinander schlagen“, dann darf/kann uns das nicht gleichgültig sein. Europa hat eine weltpolitische Verantwortung ernst zu nehmen: Achtung der Menschenrechte, eine politische Ordnung der Freiheit und Gerechtigkeit sind für alle Kontinente und Kulturen relevant.
Europa darf nicht zu einer Wohlstandsfestung werden, die das Elend der Welt aus seiner Wahrnehmung ausblendet. Es hat sich vielmehr für eine weltweite wirtschaftliche Ordnung der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit einzusetzen.
Europa kann seine ökologischem Bemühungen nicht auf die geographische Region zwischen dem Atlantik und dem Ural, zwischen Island und Malta begrenzen, sondern muss sich für die weltweite Bewahrung der Schöpfung aus der gemeinsamen Verantwortung für die eine Welt einsetzen.
Europa muss nicht nur innerhalb seiner Grenzen die Vielfalt der geschichtlich gewachsenen Kulturen in einer lebendigen, das Leben fördernden europäischen Kultur erhalten, sondern sich global für eine “Kultur des Lebens“ (Johannes Paul II.) in der Vielfalt der menschlichen Kulturen stark machen.
Kirchen und Religionsgemeinschaften in Europa müssen ihre langen, oft tragischen geschichtlichen Erfahrungen, aber auch ihre positiv-konstruktiven Erfahrung in der Suche nach einem friedlichen Miteinander für den Frieden und die Zusammenarbeit zwischen den Religionen der Welt einsetzen und fruchtbar machen.
Das Phänomen der Säkularisierung und des Erschlaffens christlicher Kräfte und des Interesses an den christlichen Kirchen ist unübersehbar. Den christlichen Kirchen bläst der Wind ins Gesicht. Dies ist ein Problem für die Kirchen; dies ist aber auch ein Problem für Europa. Denn Werte sind keine abstrakten und abgehobenen Ideen. Werte müssen in den Herzen verwurzelt sein. Ihre Geltung über den Einzelnen und den Augenblick hinaus muss in sozialen Institutionen und Formen von Gemeinschaft festgehalten und vertreten werden. Soll Europa mehr sein als ein gigantischer bürokratischer Apparat, soll Europa ein menschliches, ein bewohnbares Haus sein, dann muss Europa eine Seele haben, dann muss es seine christliche Seele wiederentdecken.
Der “reiche Schatz des Christentums“ ist – wie Johannes Paul II. unterstreicht – als Angebot zu verstehen, das die Kirche am Beginn des dritten Jahrtausends lebendig darstellen möchte. Es reiche nicht aus, “dem Menschen nur mit materiellen Gütern die Hände zu füllen, wenn sein Herz dabei leer bleibt und keinen Sinn entdeckt“. Mit dem Bekenntnis zu bestimmten Werten wolle die Kirche “am Aufbau einer wirklich universalen menschlichen Gemeinschaft mitarbeiten: einer Gemeinschaft, die keine Trennungslinien mehr kennt“.
Der Philosoph Theodor Adorno hat einmal die Fähigkeit eines Menschen, mit Neuem, Ungewohntem, Fremdem angemessen umzugehen, mit dessen Ich-Stärke in Zusammenhang gebracht. Das lässt sich auch auf Länder übertragen: Je mehr eine Gesellschaft sich ihrer Werte bewusst ist, umso leichter wird es ihr fallen, mit Fremdem und Neuem umzugehen. Zur “Seele Europas“ wird es gehören müssen, genau an dieser Stelle zu lernen (aus der eigenen Geschichte und Tradition) und Spannungen auszuhalten und zu gestalten …