Gesundheit ist das Wichtigste. Wirklich?

15. Juni 2020 | von

Durch persönliche Betroffenheit kann der Wunsch nach Gesundheit sehr schnell einen ganz anderen Klang bekommen. Der folgende Beitrag stellt sich der sehr grundsätzlichen Frage, ob denn Gesundheit tatsächlich das Wichtigste ist. 

Wie merkt man, dass man alt wird? – Wenn liebe Mitmenschen, die einem zum Geburtstag gratulieren, plötzlich sagen: „Und vor allem viel Gesundheit, das ist das Wichtigste.“ – Bei mir war dieser Zeitpunkt der 40. Geburtstag, an dem man, nach altgriechischer Tradition, den Lebenshöhepunkt, die Akme, erreicht, und ich habe mich seitdem immer etwas amüsiert, weil sich dieser Wunsch tatsächlich jedes Jahr wiederholt hat. Das Lachen ist mir dann aber vergangen, als ich Anfang des Jahres kurz vor meinem 50. Geburtstag eine Tumordiagnose bekommen habe, die eine lange und komplizierte Operation nötig machte. Im Krankenhaus und in der Rekonvaleszenzphase danach, die ausgerechnet mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zusammenfiel, hatte ich viel Zeit, darüber nachzudenken, ob und inwiefern wirklich „Gesundheit das Wichtigste“ ist. 

Wertvolles Gut
Ohne Zweifel hat mir die eigene Erkrankung und die gesamtgesellschaftliche Pandemiegefahr erst so richtig vor Augen geführt, ein wie wertvolles Gut die Gesundheit ist – wie bei so vielem wird einem der Wert einer scheinbar selbstverständlichen Sache erst klar, wenn sie einem fehlt oder sie gefährdet ist. Und ich bin auch sehr froh und dankbar, dass dank großer ärztlicher Kunst die akute gesundheitliche Gefährdung für mich selbst gebannt werden konnte und dass die gemeinsamen gesellschaftlichen Anstrengungen unser Land in Corona-Zeiten bis jetzt vor drohenden deutlich schlimmeren Szenarien bewahrt hat. Dass jede/r ebenso, wie er/sie für die eigene Gesundheit Vorsichtsmaßnahmen ergreift, auch im Sinne der Gemeinschaft sich an die notwendigen Einschränkungen halten sollte – und zwar nicht aus Angst vor Strafe, sondern aufgrund vernunftgemäßer Zustimmung – sollte selbstverständlich sein.

Wert des Lebens
Und trotzdem darf der gerade jetzt in Corona-Zeiten fast ebenfalls pandemisch geäußerte Satz „Gesundheit ist das Wichtigste“ nicht unwidersprochen bleiben. Er ist sicher gut gemeint und soll zum richtigen Handeln motivieren, aber er ist doch zugleich zumindest missverständlich und kann auch zu gefährlichen Fehlinterpretationen führen:
Ist etwa „gesundes Leben“ wichtiger, wertvoller als nicht gesundes? Gerade angesichts unserer Geschichte mit ihrer verbrecherischen Unterscheidung zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben sollten wir hier sprachlich sehr sensibel sein. Nicht von ungefähr wurde vor gut 20 Jahren der Artikel 125 der Bayerischen Verfassung geändert und aus dem Satz „Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes“ das erste Wort gestrichen. Auch dieser Satz war gut gemeint und sollte die Gesunderhaltung der Kinder als Aufgabe aller festhalten, aber er kann halt auch so verstanden werden, dass nur „gesunde“ Kinder wertvoll sind, kranke, behinderte nicht. (Wer die Zahl der Abtreibungen, die aufgrund prognostizierter Behinderungen vorgenommen werden, sieht, weiß, dass dieser Gedanke weiter verbreitet ist, als uns lieb sein kann.)

Vor allem: die Würde
Zum Glück ist das staatliche Handeln im Moment gerade in besonderer Weise auf den Schutz der nicht gesunden, gesundheitlich gefährdeten Mitmenschen ausgerichtet und stützt seine Maßnahmen beim Abwägen der Grundrechte auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Grundgesetz) aller – und nicht nur der Gesunden –, das staatliches Handeln zu schützen und keinesfalls zu gefährden hat. Und zu Recht weist Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble daraufhin, dass das Grundgesetz nur einen absoluten Wert – nämlich die Würde des Menschen (Art. 1) – kennt. Nicht Gesundheit ist demnach das Wichtigste in unserer Gesellschaft, sondern die Würde des Menschen, eben auch des Kranken, Sterbenden und Toten.

Ebenbild Gottes
Im christlichen Glauben ist diese Würde jedes Einzelnen begründet in der Überzeugung, dass jeder Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen ist und egal, wie gesund oder krank, schwach oder stark, jung oder alt, vor Gott gleich wertvoll ist. Die Aussage „Gesundheit ist das Wichtigste“ ist schon aus diesem Gesichtspunkt heraus höchst fragwürdig, weil für die Gesundheit wie für alles Irdische gilt, dass sie zum Götzen wird, wenn sie überhöht wird (Verstoß gegen das 1. Gebot, vgl. Luthers Auslegung: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“). Schlichtweg unvereinbar ist die Aussage aber mit dem Kern unserer christlichen Hoffnung, die in dem Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi für die Gläubigen gerade die Überwindung des (irdischen) Todes und die Wegbereitung zum ewigen Leben bei Gott er- und bekennt. Von der Osterbotschaft bekommt die Gesundheit wie alle anderen Güter dieser Welt ihren richtigen Rang als eine wichtige, erstrebenswerte, mit Dankbarkeit zu empfangende und nicht leichtsinnig zu gefährdende Gabe, die aber immer nur zu den vorletzten Dingen gehört. Die Botschaft, die wir Christen immer wieder der Welt sagen sollen – und das kann durchaus aus gesundheitlicher Rücksicht auch aus der körperlichen Distanz heraus passieren – lautet nicht „Gesundheit (für die wir selbst sorgen) ist das Wichtigste“, sondern das „Heil (das und von Gott geschenkt wird) ist das Wichtigste.“

Zuletzt aktualisiert: 15. Juni 2020
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