Gottes ‚Rache’ ist Liebe bis zum Ende

26. September 2006 | von

Papst Benedikt XVI. tourt durch Bayern. Kein Mann der großen Gesten, vielmehr ein Mann der klaren Worte ist er. Marksteinen gleich leiten uns die Aussagen des Pontifex entlang an den Etappen dieser Reise. Mit Gedanken zur Liebe, zum Frieden und zur Gerechtigkeit überrascht er die Kritiker und bleibt einzigartig, vor allem für seine bayrischen Landsleute.

Ein großes Ereignis ist zu Ende gegangen. Mitte September hat Papst Benedikt seine geliebte Heimat Bayern besucht. München, Altötting, Marktl am Inn, Regensburg und Freising hatten sich Monate lang geputzt und alles für den hohen Gast bereitet. Eine Reise zu den eigenen Wurzeln war es, und ganz Deutschland durfte ihn auf seinen Wegen begleiten. Über der Freude des Willkommens schwebte immer auch die Wehmut des Abschieds, eines Abschieds vielleicht für immer. Unter strahlend weiß-blauem Himmel, nun auch Papstwetter genannt, genossen alle, inklusive des Heiligen Vaters, die Tage vom 9. bis 14. September 2006. Mehrere Kilometer Kabel wurden verlegt, Hunderte Kamerapunkte festgelegt, Hunderttausende Fotos auf Schritt und Tritt geknipst, Tränen vergossen und Hände geschüttelt. Benedikt XVI. hat sich im Herzen des Bayernvolkes für immer einen Platz reserviert.

Zugtier Gottes. Beginnen sollte alles in München, mit Blasmusik, Kinderchor und Bayernlied: „Es ist für mich tief bewegend, wieder auf diesem wunderschönen Platz zu Füßen der Mariensäule zu stehen, an einem Ort, der für mich zweimal Zeuge entscheidender Wendepunkte in meinem Leben war.“ Tief bewegt waren auch die Hunderte Menschen, die sich zur Begrüßung auf dem Platz versammelt hatten. Wie vertraut ihm der Ort ist, konnten alle auf den Videoleinwänden verfolgen, als die päpstlichen Augen den „Alter Peter“ hoch wanderten. Dass dem Heiligen Vater der Weg von München nach Rom damals nicht leicht gefallen war, das hat er immer wieder eingestanden, aber auch dass er sich ungeachtet dessen der Führung Gottes anvertraut. Vor die schwierige Entscheidung gestellt, die Ernennung des Erzbischofsamtes von München und Freising anzunehmen, habe er sich an den Bären des heiligen Korbinian erinnert und an eine Interpretation des heiligen Augustinus zu Psalm 72 [73]. Der heilige Bischof von Hippo hatte sich für das Leben eines Gelehrten entschlossen und war zum „Zugtier“ Gottes bestimmt worden. „Doch dann erkannte er [Augustinus]: Wie das Zugtier ganz nahe bei dem Bauern ist, unter dessen Führung es arbeitet, so bin ich ganz nahe bei Gott.“ Der Bär, so Papst Benedikt, ermutige ihn auf diesem Hintergrund immer wieder Tag für Tag, sein Ja zu Gott zu sagen. „Der Bär des heiligen Korbinian wurde in Rom freigelassen. In meinem Fall hat der Herr anders entschieden. Und so stehe ich also wieder zu Füßen der Mariensäule, um die Fürsprache und den Segen der Muttergottes zu erflehen, (…) nicht nur für das liebe Bayernland, sondern für die Kirche der ganzen Welt und für alle Menschen guten Willens.“

Authentizität. Der Korbiniansbär hatte einst das Pferd des Heiligen getötet und musste daraufhin an dessen Stelle die Lasten bis nach Rom tragen. Wessen Reittier Joseph Ratzinger zerrissen haben mag, dass ihn der Herr, der ihn bepackte, in Rom nicht wieder frei, sondern gar in die Fußstapfen des Menschenfischers Petrus treten ließ, hat er nicht erzählt. Aber schon hier verwies er auf einen Gedanken, welchen er später in Altötting erneut aufgriff. „Und so lehrt uns [Maria] beten: Nicht unseren Willen und unsere Wünsche – so wichtig, so einsichtig sie uns auch sein mögen – Gott gegenüber durchsetzen wollen, sondern sie zu ihm hintragen und ihm überlassen, was er tun wird.“ Es ist nichts Neues, was da angesprochen wird, aber aus seinem Mund ist es authentisch. Deshalb lauschen diesem Papst die Massen und lassen sich von seinen Worten berühren.
Auch in München betete die riesige Gemeinde gemeinsam mit ihm zur Gottesmutter. Kaum war das Amen gesprochen, löste ein begeistertes „Viva il Papa“ einen Sturm des Jubels aus. Der Papst, der so bescheiden und zurückhaltend in die Öffentlichkeit trat, sollte sich im Laufe der folgenden Woche aufgeschlossen präsentieren.

Messe München. Was Papst Benedikt XVI. auszeichnet, ist die Klarheit seiner Worte. An diesen ließ er es in den wenigen Tagen nicht mangeln. Auftakt war der erste große Gottesdienst auf dem Messegelände in München am Sonntag, dem 10. September. 250.000 plus X Personen, wie die Organisatoren gerne die Pilger in eine überschaubare Zahl zu fassen versuchten, waren angereist. Was dann erlebt wurde, bleibt weithin herausragend. Mit den einleitenden Worten des Papstes kam die Menge zur Ruhe. Still war es auf dem weitläufigen Feld, wie man es bei Messfeiern in Kirchenräumen gewohnt ist. Still blieb es bis zum Ende. Alle Kardinäle ohne Ausnahme gratulierten Kardinal Wetter zu dieser feierlichen und würdevollen Veranstaltung. Ein Teilabschnitt randvoll mit Ministranten senkte den Altersdurchschnitt drastisch, aber auch die restliche Besuchermenge war von allen Generationen durchwachsen. Fleißig wurden die Lieder mitgesungen, die Gebete gesprochen und interessiert der Predigt gelauscht.
Ein Papst zum Hören, ein Papst, der keine Scheu zeigt, die Dinge beim Namen zu nennen. Auch die eigene Kirche sparte er nicht aus und kritisierte ihre zurückhaltende Bereitschaft, Projekte der Evangelisierung zu unterstützen. „Das Soziale und das Evangelium sind einfach nicht zu trennen. Wo wir den Menschen nur Kenntnisse bringen, Fertigkeiten, technisches Können und Gerät, bringen wir zu wenig. Dann treten die Techniken der Gewalt ganz schnell in den Vordergrund und die Fähigkeit zum Zerstören, zum Töten wird zur obersten Fähigkeit, zur Fähigkeit, um Macht zu erlangen, die dann irgendwann einmal das Recht bringen soll und es doch nicht bringen kann.“

Die Sprache der Liebe. Er bekräftigte, dass Christen ihren Glauben niemandem aufdrängen, denn dieses wäre dem Christlichen zuwider: „Der Glaube kann nur in Freiheit geschehen.“ Die Gläubigen vernahmen weiter, dass mit der Schwerhörigkeit Gott gegenüber unsere Fähigkeit, mit ihm ins Gespräch zu kommen verloren gehe. Das führe zum Mangel einer entscheidenden Wahrnehmung, deren Verlust wiederum unsere Beziehung zur Wirklichkeit drastisch einschränke. „Die Welt braucht Gott. Wir brauchen Gott.“ Wir brauchen den Gott, dessen „Rache“ das Kreuz ist: das Nein zur Gewalt, die „Liebe bis zum Ende“. Die Liebe ist Programm geworden. Nicht nur in seiner Enzyklika Deus caritas est, sondern darüber hinaus macht er sie immer wieder zum Zentrum seiner Überlegungen. Das Christentum manifestiert sich nicht in einer Kirche der Verbote. Der Angst, der Gleichgültigkeit und dem Hass setzt Papst Benedikt eine tragende Option entgegen und trifft  mit dieser Sprache den Nerv der Zeit.
Ob das köstliche Mittagsmahl am Sonntag, zubereitet von Bruder Erich und seinem Team aus dem Minoritenkloster Maria Eck, dem Pontifex diese bewundernswerte Frische trotz des strengen Protokolls verlieh, bleibt eine Vermutung. Aber gemundet hat es ihm sicher genauso gut wie damals, als er noch im Kardinalsgewand die Wallfahrtsgaststätte besuchte. Und Stärkung war nötig. Denn egal wo der Papst sich in diesen Tagen zeigte, seine treuen Pilger erwarteten ihn schon seit Stunden. Oft müde und erschöpft, in der Hoffnung, einen kleinen Blick auf den Mann aus Rom zu erhaschen und einmal vielleicht sogar seine Hand schütteln zu dürfen. Und öfter als erwartet nahm sich Papst Benedikt die Zeit, aus seinem Papamobil zu steigen, den Menschen am Straßenrand entgegen zu kommen und sie aufmerksamen Blickes zu würdigen.

Boten des Evangeliums. Dieses Land, diese Leute liegen ihm am Herzen. Wenn er sprach, schien er tatsächlich ganz nahe, wie ein vertrauter Nachbar, wie ein Bischof unter Bischöfen. Die Stationen seiner Kindheit, Jugend und seines beruflichen Werdegangs bereisend, zeigte er der Welt jene Welt, aus der er selbst stammt. Ein Mann, der unter uns gewohnt hat. Der von anderen unterrichtet und gebildet wurde, der hier „leben gelernt hat“. Mit Altötting beispielsweise verbinden den Pontifex ganz persönliche Erinnerungen. In die Wallfahrtskapelle zur „Schwarzen Madonna“ soll sein Vater Joseph Ratzinger vom damaligen Wohnort Traunstein aus nach dem Krieg zu Fuß gepilgert sein, um für die Heimkehr der Söhne zu danken. Beide Brüder Georg und Joseph Ratzinger fühlten sich zum Priester berufen und empfingen am 19. Juni 1951 die Priesterweihe.
Hatte der Papst schon zuvor die mangelnde Entscheidungsfreude der jungen Menschen bemerkt, thematisierte er vor den Seminaristen und Ordensleuten Bayerns in der Marianischen Vesper zu Altötting: „Herr, schau die Not dieser unserer Stunde an, die Boten des Evangeliums braucht, Zeugen für dich, Wegweiser zum ‚Leben in Fülle’! (…) Mit dieser Bitte klopfen wir an der Tür Gottes an; aber mit dieser Bitte klopft dann der Herr auch an unser eigenes Herz.“ Gleichwohl stellt er sich nicht blind für die Probleme in den eigenen Reihen, für die Schwierigkeiten, die mit dieser Berufung verbunden sind. „Bei ihm [Gott] sein und gesandt sein – das ist nicht voneinander zu trennen. Nur wer bei ‚Ihm’ ist, lernt ihn kennen und kann ihn recht verkünden. Und wer bei ihm ist, behält es nicht für sich, sondern muss weitergeben, was er gefunden hat. (…) Wo Priester das Sein beim Herrn wegen der großen Aufgaben immer kürzer und geringer werden lassen, da verlieren sie bei aller vielleicht heroischen Aktivität am Ende die innere Kraft, die sie trägt. Was sie tun, wird zuletzt zu leerem Aktivismus.“

Logos. Bevor sich Papst Benedikt einen Tag im alten Haus in Pentling gönnte, mit Bruder Georg und vielleicht auch Kater Chico, der auf sein seltenes Herrchen ganz fixiert sein soll, kam er seinem besonderen Anliegen nach. Der Wissenschaftler, der Theoretiker will noch einmal Studentenluft schnuppern am alten Arbeitsplatz an der Universität Regensburg. Vor ausgefüllten Reihen im Audimax hält er seine letzte Vorlesung. Und was die Studenten und geladenen Gäste zu Hören bekommen, erstaunt so manchen. Der Appell gilt der Vernunft, den unterschiedlichen Wissenschaften, die nur gemeinsam ein Ganzes zu bilden in der Lage sind, „und so auch in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten Gebrauch der Vernunft stehen“. „Im Anfang war der Logos, und der Logos ist Gott“, zitiert er den Evangelisten Johannes. „Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider. (…) An dieser Stelle tut sich ein Scheideweg im Verständnis Gottes und so in der konkreten Verwirklichung von Religion auf, der uns heute ganz unmittelbar herausfordert.“ Das Gespräch des byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaeologos und einem gebildeten Perser ca. 1391 über Christentum und Islam dienten ihm als Ausgangspunkt dieser Überlegungen. Der Kaiser soll laut der von Professor Th. Khoury herausgegebenen siebten Gesprächsrunde mit eindeutiger Schärfe auf den Djihad, den heiligen Krieg, zu sprechen gekommen sein und mit folgenden Argumenten begründet haben, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist: „Gott hat kein Gefallen am Blut. (…) Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung… Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge, noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann.“
Der Mut und der Wille zum Streitgespräch, im positivsten Sinne, scheinen dem ehemaligen Professor Ratzinger nicht abhanden gekommen zu sein. Ein Mann, der den Dialog der deutlichen Standpunkte sucht, der notwendig ist, um sich gegenseitig zu verstehen und aufeinander zuzugehen.

Details am Rande. Nicht alle päpstlichen Gedankengänge der belebenden Tage können hier genannt werden. Geradezu überschüttet mit Informationen wurden wir schon im Vorfeld der eigentlichen Ankunft. Nicht alles, was man da zu lesen bekam, schloss wichtige Bildungslücken. Zu diesen Erkenntnissen gehört auch die Statistik, derzufolge der Name Benedikt unter den Neugeborenen seit 2005 doppelt so häufig vorkommen soll als im Jahre 2004. Diese Eigenschaft ist bei den Münchnern keine Neuheit. Wuchsen doch nach dem ersten Papstbesuch 1782 nicht wenige Knaben mit dem ungewöhnlichen Namen Pius heran. Ein Zeichen bayrischer Zuneigung eben.
Mit der Herzlichkeit des Empfangs allerorts mehrten sich auch die kleinen, aber umso wertvolleren Gesten unseres Pontifex. Auch ein Papst lebt eben nicht vom Draht zu Gott allein. Dass dieses Ereignis einen revolutionären Anstieg der Kircheneintritte auslösen wird, war nicht zu erwarten. Auch stand die Reise im Licht eines Wiedersehens und nicht einer katholischen Reform. Aber angesichts der seltenen Deutschstämmigkeit unter den Päpsten, kann man ohne Frage von einem Jahrtausendereignis sprechen. Und so halten die Städte, Dörfer und Kirchen ihre Gästebücher in Ehren mit der seltenen Unterschrift Benedikt XVI., Papst.

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016