Grandioser Reigen des Allzu-Menschlichen
Uns ist in alten maeren - wunders vil geseit von helden lobebaeren - von grozer arebeit, von vreude und hochgeziten - von weinen und von klagen, von küener recken striten - muget ir nu wunder hoeren sagen.
So beginnt das um 1200 entstandene Epos eines unbekannten Verfassers in der Sprache der damaligen Zeit. In der 1827 erschienen Übersetzung des Germanisten Karl Simrock (1802 - 1876) liest sich die gleiche Strophe wie folgt: Viel Wunderdinge melden - die Mären alter Zeit Von preiswerten Helden - von großer Kühnheit, Von Freud und Festlichkeiten - von Weinen und von Klagen, Von kühner Recken Streiten - mögt ihr nun Wunder hören sagen.
Kein Schocker mehr. Wie holprig mutet uns Heutige die Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert an. Dennoch gebührt Simrock Dank. Er brachte die Heldensage einem breiten Publikum nahe; seine Übersetzung behielt ihren Rang bis in die Gegenwart.
Menschen des 21. Jahrhunderts erscheint das Nibelungenlied möglicherweise banal. Von Mord und Totschlag erfahren sie aus der Zeitung oder der Tagesschau, ihre Helden heißen Michael Schumacher oder Boris Becker. Und spannende Geschichten erleben sie im Kino, auf Wunsch sogar dreidimensional und mit Rundumklang.
Vor 800 Jahren, zum Zeitpunkt der Entstehung des Nibelungenliedes, ist dies ganz anders. Die Menschen an der Schwelle des 13. Jahrhunderts leben in einer schweren Zeit. Zehn Jahre zuvor ist Kaiser Friedrich I, genannt der Rotbart, während des 3. Kreuzzuges in Kleinasien ertrunken. Seinem Sohn und Nachfolger Heinrich VI. sind gerade einmal sechs Jahre auf dem Thron beschieden, bevor er bei einem Italienfeldzug an Malaria stirbt. Im Deutschen Reich entbrennt ein Kampf um die Kaisernachfolge zwischen Welfen und Staufern. Für mehr als ein Jahrzehnt lähmt der Streit um den Thron das Reich.
Kulturelle Blüte. Während das Land unter den politischen Ränkespielen leidet, erlebt es gleichzeitig eine kulturelle Blüte. Das Rittertum und seine Ideale erleben ihren Zenit, der Goldschmied Nikolaus von Verdun fertigt den Dreikönigsschrein für den Kölner Dom, Eike von Repgow schreibt am Sachsenspiegel, dem berühmtesten Rechtshandbuch des Mittelalters.
Und es entstehen Epen wie Tristan und Isolde des Gottfried von Strassburg,,
Parzival des Wolfram von Eschenbach, oder aber Erec und Iwain des Hartmann von Aue. Und eben das Nibelungenlied.
Dessen Verfasser ist unbekannt, auch wenn der Journalist und Autor Walter Hansen in seinem Buch Die Spur des Sängers - Das Nibelungenlied und sein Dichter den eher unbekannten Minnesänger Konrad von Fußesbrunnen als geistigen Vater anbietet.
List und Rache. Die Handlung des Werkes ist schnell erzählt: Der Held Siegfried, ein Königssohn aus dem niederrheinischen Xanten, hilft dem in Worms ansässigen Burgundenkönig Gunther, Brunhilde zu freien, um selbst die Hand Kriemhilds, der Schwester Gunthers, zu erlangen. Weil Brunhild über übernatürliche Körperkräfte verfügt, greifen Gunther und Siegfried zu einer List, um sie zu bezwingen: Sowohl im Wettkampf als auch im Brautgemach überwältigt Siegfried, durch eine Tarnkappe unsichtbar geworden, das Riesenweib. Jahre später streiten sich Kriemhild und Brunhild wegen des Vortrittsrechts am Portal des Wormser Doms. Kriemhild eröffnet Brunhild, wer sie in Wirklichkeit bezwang, und dass dies nicht die Tat ihres Mannes Gunther war. Die so Gekränkte sinnt auf Rache und bittet Hagen, einen Gefolgsmann König Gunthers, Siegfried zu ermorden. Dieser ist außer einer kleinen Stelle zwischen den Schulterblättern unverwundbar, seit er sich im Blut eines erschlagenen Drachens gewälzt hat. Hagen folgt der Bitte seiner Königin. Als Kriemhild vom Tode ihres Gemahls erfährt, ist sie außer sich vor Trauer und Hass. Sie schwört Rache.
Starkes Gebräu. Jahre später, Kriemhild hat in zweiter Ehe den Hunnenkönig Attila geheiratet, folgen die Nibelungen der Einladung an Attilas Hof. Darauf hat Kriemhild all die Jahre gewartet. In einer Blutorgie ohne gleichen fallen ihr und ihren hunnischen Handlangern ihre Brüder Gernot, Giselher und Gunther zum Opfer, und auch Hagen, der Mörder Siegfrieds. Doch Kriemhild kann ihre Rache nicht auskosten. Sie stirbt durch einen Schwertstreich Hildebrandts, der mit der Tat wiederum die Nibelungen rächt.
Es ist ein starkes Gebräu, das der Dichter des Nibelungenlieds in Diensten des Passauer Bischofs seinen Zuhörern kredenzt. Und es sind darin genau jene Zutaten enthalten, die bis auf den heutigen Tag für literarischen Erfolg garantieren. Liebe und Hass, Mord und Totschlag.
Historische Parallelen. Dabei bezieht sich der anonyme Verfasser des Nibelungenlieds durchaus auf historische Begebenheiten. Diese allerdings fanden während der Völkerwanderung und somit knapp sechshundert Jahre vor der Lebenszeit des Dichters statt.
Im Jahre 436 nach Christus nämlich zerschlägt der römische Feldherr Aetius mit Hilfe hunnischer Verbündeter das Reich der Burgunder um Worms am Mittelrhein. König der Burgunder ist zu jener Zeit Gundikar, der als Gunther in das Heldenepos eingeht. Sein Volk, ursprünglich in Skandinavien beheimatet, war in den Jahrzehnten zuvor über Weichsel, Oder und Elbe bis an den Rhein vorgedrungen, wo es sesshaft wurde. König der Hunnen ist seit 434 Attila, von den Zeitgenossen Geißel Gottes genannt. Seine schnellen Reiterheere unterjochen fast das gesamte damalige Abendland. Erst Attilas Tod in der Hochzeitsnacht mit der Germanin Ildiko macht dem Spuk ein Ende. Und der deutschesten aller Heldensagen einen Anfang.
Literarisches Erfolgsrezept. Mit dichterischer Freiheit vermischt der Autor des Nibelungenliedes Sage und Wirklichkeit. Er lässt seinen Helden Siegfried einen Drachen erschlagen und durch dessen Blut beinahe unverwundbar werden. Natürlich geht es auch um viel Geld, einer weiteren Zutat aus dem Rezeptbuch für Erfolgsautoren. Denn Siegfried erwirbt mit Gewalt den Nibelungenschatz, den in der Rolle des Bösewichts der finstere Hagen später im Rhein versenkt. Das Kriemhild sehr schön ist und sie und Siegfried somit ein Traumpaar, versteht sich beinahe von selbst.
Natürlich ist so viel Glück bedroht. Kriemhild selbst sorgt letztlich für Siegfrieds Untergang, weil sie Brunhild gegenüber nicht den Mund halten kann. Das Verderben nimmt seinen Anfang und endet nicht eher, bis der Letzte der Beteiligten erschlagen auf der Walstatt liegt.
Als Aufführungsort für seinen Reigen des Menschlichen, allzu Menschlichen, dient dem unbekannten Dichter für sein Epos eine riesige Bühne. Sie reicht von Siegfrieds Geburtsort Xanten am Niederrhein bis zum Untergang der Nibelungen in Attilas Burg in Gran, dem heutigen Esztergom in Ungarn.