Großartiger Bildersaal
Welch eindrucksvolle Kulisse. Schon von weitem sichtbar, thront sie über der umbrischen Ebene. Seit Jahrhunderten entlockt dieser Anblick dem müden Pilger -endlich das Ziel vor Augen - die letzten Kraftreserven. Die Stadt, deren Name uns so wunderbar von der Zunge gleitet: Assisi. Wiewohl uns der Gedanke an das schreckliche Erdbeben, das dieses grandiose Ensemble vor einigen Jahren so zerstörte, noch immer den Atem stocken lässt.
Von Perugia kommend bewegen wir uns auf ein mächtiges Bollwerk zu - das doch eine Kirche ist. Am steil abfallenden Fels gebaut. Welch Aufwand an so exponierter Stelle und das mit den technischen Mitteln von vor über 700 Jahren. San Francesco, die Grabeskirche des heiligen Franz, der hier in einer Üppigkeit verehrt wird, die eigentlich im Widerspruch zu seinem überaus bescheiden geführten Leben steht.
Anspruchsvoller Bau. Was macht nun das Besondere dieser Kirche aus? Zunächst einmal ist San Francesco eine Doppelkirche, das heißt zweigeschossig angelegt. Was nicht gerade häufig ist. Bekanntes Beispiel: Die Grabeskirche in Jerusalem. Die Unterkirche ist also eine Grabeskirche, die Oberkirche eine Papstkirche (mit Papstthron in der Apsis).
Die Baudetails verweisen uns auf die Hochgotik und belegen San Francesco als anspruchsvollsten Bau seiner Zeit, wiewohl der Architekt unbekannt ist. Solch ein Fensterschmuck war bis dahin in Italien ganz einfach unbekannt und nur an einigen wenigen Bauwerken der nordischen Gotik zu sehen. Und dann erst die Wandmalereien, die das wirklich Besondere dieser Kirche ausmachen.
Brillante Anfänge. Deren Geschichte beginnt mit einem unbekannten Maler, der von den Kunsthistorikern mit dem Notnamen Franziskusmeister getauft wurde. Ab 1260 beginnt er mit einem unglaublichen Erfindungsreichtum, die Unterkirche hauptsächlich mit überbordenden Schmuckmotiven und üppigen Ornamentbänden auszumalen. Die Brillanz seiner Farbpalette können wir leider nur noch erahnen, da zumeist lediglich die Untermalung übrig geblieben ist. Witterungseinflüsse zerfraßen die Farboberfläche.
Der erste Künstler der Basilika, den wir beim Namen nennen können, ist Cimabue. Er führt einen strikten Rahmen für seine Figurenkompositionen ein, Gebärden und Plastizität der dargestellten Personen bekommen größere Intensität als bei seinem Vorgänger.
Darüber hinaus sind unterschiedliche Werkstätten mit der weiteren Ausmalung beschäftigt. Exakte Zuschreibungen waren und sind bisweilen noch immer Gegenstand heftigen Forscherstreites.
Auftritt eines Ausnahmekünstlers. Ein junger Künstler tritt auf, heute würde man sagen ins Scheinwerferlicht, und revolutioniert die Malerei. Ihm, Giotto di Bondone, soll deshalb hier auch entsprechend Platz eingeräumt werden. Dieser Ausnahmekünstler denkt schlicht und einfach gesagt in einer neuen Dimension. Seine Figuren agieren sehr viel freier in einer gebauten Architektur, einem klaren Raumgefüge mit nur einer Perspektive. All dies im Gegensatz zu seinen Vorgängern. Er erfindet ein System des Bildraumes in Verbindung mit der stringenten Entwicklung eines Handlungsstranges. Gestik und Mimik seiner dargestellten Personen sind nicht mehr so stilisiert und hölzern, sondern nehmen an Ausdrucksstärke zu -kraft eminent zu. Die malerische Behandlung der Oberflächentextur unterschiedlicher Materialien (besonders gut zu sehen bei der Darstellung von Schnitzwerk oder kostbaren Stoffen) setzt eine neue Richtlatte.
Ein neues Ebenmaß, ein neuer malerischer Kanon wird von Giotto in die Malerei eingeführt und bildet einen Eckpunkt in der Geschichte der Gotik.
Intelligente Lösungen. Welch bravouröse Lösungen er für heikle architektonische Vorgaben findet und wie er an diesen seine ganze bildnerische Intelligenz ausspielt, ist verblüffend. So zu sehen beim bemerkenswerten Kirchenvatergewölbe. Wie die Speichen eines Rades sind hier die Figuren in einer besonders schwierig zu lösenden Stelle eingespannt. In der Franzlegende, ungefähr um 1296 begonnen, spielt Giotto seine ganze Meisterschaft aus. Auf großzügigen Wandflächen malt er einen Bildzyklus in 28 Szenen (in diesem Umfang bis dato auch unbekannt) vom Leben und Wirken des heiligen Franz - und schafft damit das schönste Denkmal, das man sich dafür vorstellen kann.
Selbstbewußt komponiert. Trotz reichem Aufbau wird hier unspektakulär und ruhig erzählt. Die Handlung ist immer klar ablesbar und weist immer wieder raffiniert auf den heiligen Franz, auch wenn dieser einmal nur am Rand des Geschehens steht. Ein Einzelbild isoliert zu betrachten, ist unmöglich, ist es doch immer Glied einer kompositorischen Erzählkette, bei der die Abfolge der Bilder sehr wichtig ist (Giotto ist damit, man möge mir dies nicht als Flapsigkeit unterstellen, auch ein Urahn unseres heutigen comic strips!). Ganz selbstbewusst setzt der Künstler seine eigene Ordnung auf eine Stufe mit der Architektur. Die Detailfreudigkeit ist groß und jedes der Details sitzt an einem festen Platz und kann nicht willkürlich entfernt oder vertauscht werden, ohne dass das ganze bildnerische Gefüge ins Wanken geraten würde. Der Bezug von Bildachsen und die Verwendung von Gewichtigungen im Bildviereck lassen uns dies erstmals in der Geschichte der Malerei als Komposition bezeichnen.
Detaillierte Entwürfe insbesondere der architektonischen Szenerie und der spezifischen Gesten der menschlichen Figuren müssen der Ausführung voraus gegangen sein, denn ohne eine namenlose Anzahl von Gehilfen ist so ein Projekt gar nicht durchführbar. (Das mag auch manche qualitativen Unterschiede erklären). Über 30 Jahre dauerte die Arbeit am Freskenschmuck der Oberkirche von San Francesco, die mit diesem großartigen Bildersaal neue Maßstäbe setzte. Um 1300, so ist man sich heute einig, wurde dieses Werk vollendet.
Disput um Zuschreibungen. Über die spätere Ausmalung der Unterkirche und die mögliche Beteiligung Giottos gibt es nur Mutmaßungen. In diesen Disput anerkannter und selbsterklärter Giotto-Experten will ich mich nicht einmischen.
Von wem dies eine oder andere Fresko denn auch gemalt worden sein sollte - fest steht wie diese auf ihrem Fels: San Francesco ist eine der schönsten Kirchen, die es gibt.