Helfen statt herrschen
Tugenden wie Demut und Dienstbereitschaft standen offenbar auch zu Jesu Zeiten nicht hoch im Kurs. Selbst die Jünger waren nicht frei vom Karriere-streben, wie der Anspruch der Zebedäussöhne auf die besten Paradiesplätze beweist. Jesus lehrte sie anderes: Dienen gehört unabdingbar zu einer christ-lichen Lebenshaltung. Das aber gilt nicht nur für die einzelnen Gläubigen, sondern auch für die ganze Kirche.
Wer das Sagen hat, ist es nicht gewohnt, vor andern zu buckeln. Wer sich, aus welchen Gründen auch immer, genötigt sieht, andern zu dienern, hat in der Regel nichts zu sagen. Die Grenze zwischen beiden Lagern ist so klar wie der Sachverhalt. Wer Macht ausübt, macht nicht den Diener.
Die unter der Macht anderer leiden, verfluchen sie – und gieren oft selber danach. Sie denken an Umsturz und sie sinnen auf Rache. Es geht ihnen nicht um eine Verbesserung der Verhältnisse, sondern um eine Umverteilung der Gewichte; die Unterdrückten wollen die Machthaber zu Sklaven und Knechten machen.
Keine Macht für niemand? Die Macht wird verherrlicht und verteufelt zugleich. Macht ist böse. Sagt man. Und: Macht macht böse. Macht Macht tat-sächlich böse? Ist sie böse? Dass sie eine Versuchung darstellt, unterliegt so we-nig einem Zweifel wie die Tatsache, dass die Grenzen zwischen Machtgebrauch und Machtmissbrauch fließend sind.
Seltsamerweise ist der Begriff Macht überwiegend negativ besetzt. Nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch im sozialen Bereich wird sie als Bedrohung der persönlichen Freiheit empfunden. Die 68-er-Bewegung hat diesen Sachver-halt auf die griffige Formel gebracht: „Keine Macht für niemand.“
Das tönt gut, ist aber blanker Unsinn. Ohne Machtausübung läuft gar nichts – weder in einem kontemplativ ausgerichteten Nonnenkloster noch in der großen Weltpolitik. Zwar unterscheiden sich die Befugnisse der Mutter Oberin gewaltig von den Kompetenzen eines Staatsoberhauptes; aber beiden gemeinsam ist, dass sie für ihr Amt legitimiert und für bestimmte Aufgaben delegiert sind, und dass sie für ihre Entscheidungen gerade stehen müssen. Selbst da, wo angeblich Gleichberechtigung herrscht, die Macht also gleichsam auf alle verteilt ist, gibt es immer welche, die ein größeres Stimmvolumen, eine ausgeprägtere Sprach-kompetenz, einen besser ausgebildeten Sachverstand oder ganz einfach mehr diplomatisches Geschick haben und ihre Ideen deshalb leichter durchzusetzen vermögen.
Herrscher verzichten selten. Fest steht, dass die, welche die Hebel der Macht handhaben, kaum bereit sind, auf ihre Position zu verzichten oder auch nur einen Teil ihrer Kompetenzen an andere abzutreten. Macht- und erfolgsorientierte Menschen verspüren in der Regel keine große Lust, das Beispiel eines Franz von Assisi nachzuahmen, der auf sein Erbe und damit auf seine Vorrangstellung un-ter der Jugend des Städtchens verzichtete, um fortan als Bettelbruder zu leben und den Vögeln zu predigen, die für fromme Lehren schon damals ein offeneres Ohr hatten als die Menschen. Zwar räumen heute selbst Manager und Maker ein, das sie unserer Konsum- und Spaßgesellschaft am liebsten den Rücken kehren würden. Tatsächlich aber wären die wenigsten von ihnen bereit, ihren Sitz im Aufsichtsrat eines Großkonzerns mit einer Klosterzelle zu vertauschen, um in Ruhe über Siddharta Gautamas Lehren zu meditieren. Wahrscheinlicher ist, dass sie sich in Zeiten der Depression oder bei übermäßigem Stress für ein, zwei Wo-chen in ein spirituelles Zentrum zurückziehen in der Hoffnung, ihr Unternehmen nachher mit gesteigerter Power marketinggerecht promoten zu können. Das aber heißt noch lange nicht, dass Macht von Übel ist.
Motiv ausschlaggebend. Die “Macht an sich“ ist weder gut noch böse. Sie ist auch nicht moralisch. Und schon gar nicht ist sie unmoralisch. Sie kann beides nicht sein, da es die “Macht an sich“ genauso wenig gibt wie die Liebe oder den Hass. Wohl aber gibt es auf sehr verschiedene Weise Liebende und mit unter-schiedlicher Intensität und aus vielfältigen Motiven Hassende. Nicht die Macht ist gut oder böse; moralisch gut oder ethisch verwerflich sind hingegen die Ab-sichten, die Menschen verfolgen, wenn sie ihre Machtbefugnisse wahrnehmen, und die Methoden, deren sie sich bedienen, um an die Macht zu gelangen oder um an der Macht zu bleiben.
Dass die Macht eine Versuchung darstellt, steht außer Zweifel. Sah etwa nicht schon Jesus sich genötigt, seine Jünger zurecht in ihre Schranken zu weisen?
„Wer der Erste sein will“. Jesus zufolge basiert die Autorität im Reich Gottes nicht auf irgendwelchen Ehrentiteln, sondern auf dem beharrlichen Einsatz für die Mitmenschen, vorab für die Bedürftigen. Bezeichnenderweise findet sich die diesbezügliche Ermahnung im Markusevangelium an jener Stelle, die davon be-richtet, wie Jesu Jünger in einem Anfall von Größenwahn einander zu überbie-ten suchen: “Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, traten zu Jesus und sagten: Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst. Er antwortete: Was soll ich für euch tun? Sie sagten zu ihm: Lass in deinem Reich einen von uns rechts und den andern links neben dir (d.h. auf den Ehreplätzen) sitzen. (...) Als die zehn anderen Jünger das hörten, wurden sie sehr ärgerlich über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die, die als Herr-scher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Diener aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekom-men, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen« (Markusevangelium, Kapitel 10, Verse 35-45).
Wie peinlich das Verhalten der Jünger schon von der frühen Kirche empfunden wurde, zeigt sich, wenn wir den entsprechenden Abschnitt aus dem Matthäus-evangelium zum Vergleich heranziehen. Dessen Verfasser hat bekanntlich den Markustext als Vorlage benutzt und dabei nicht gezögert, die beiden Zebedäus-söhne in ein etwas günstigeres Licht zu stellen; dort nämlich bestürmt die Mutter des Jakobus und des Johannes Jesus, ihren Söhnen im Reich Gottes eine Vor-machtstellung einzuräumen (vgl. Kapitel 20, Verse 20-21)!
Natürlich steht die Forderung Jesu in einem eklatanten Widerspruch zu den gän-gigen Denkmustern und üblichen Verhaltensweisen.
Mönch bei den Conquistadoren. Indessen gab es immer wieder Menschen, welche der unumstößlichen Überzeugung waren, dass dem Neuen Testament zufolge Macht und Autorität nicht zum eigenen Vorteil, sondern im Hinblick auf das Wohl der Mitmenschen auszuüben seien. Erinnert sei etwa an den spani-schen Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas. Dieser kommt im August 1474 in Sevilla als Sohn eines Händlers zur Welt, der Christoph Kolumbus auf seiner zweiten Amerikareise begleitet hat. Nach einer juristischen Laufbahn in Spanien bereist Las Casas 1502 Hispaniola, eine der Westindischen Inseln, wo er im Dienst des Gouverneurs in Santo Domingo als Berater tätig ist. 1512 wird er in Amerika als Erster zum Priester geweiht. Für seine geleisteten Dienste er-hält Las Casas ein Stück Land zugeteilt, das er wie damals üblich von Indianern in Zwangsarbeit bewirtschaften lässt. In dieser Zeit gibt er sich allmählich Re-chenschaft darüber, dass die gesellschaftliche Ordnung in der Neuen Welt auf einem System der Unterdrückung basiert, das aus jedem Indio ein Objekt der Ausbeutung, aus jedem “Heiden“ einen Rebellen und aus der kirchlichen Missi-onstätigkeit ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Gewaltherrschaft macht.
Bekehrung de Las Casas. Seine “erste Bekehrung“ zum Anwalt der Indios schildert Bartolomé de Las Casas in der dritten Person: “Er begann, über das Elend und die Sklaverei, welche jene Völker erlitten, nachzudenken. Dabei kam er zu der Überzeugung, dass all das, was man an den Indios verbrach, unrecht und tyrannisch sei. Schließlich entschloss er sich dazu, dies auch zu predigen.“ Der Gouverneur, den Las Casas von seinem Sinneswandel unterrichtet, hält des-sen Ansichten für eine “monströse Idee“. Las Casas indessen lässt sich nicht umstimmen – und predigt in der Folge nicht mehr für die Indios, sondern gegen die spanischen Konquistadoren. Die Missstände des Systems, die Bartolomé de Las Casas aus eigener Erfahrung kennt, veranlassen ihn, sich für die Abschaf-fung der Sklaverei und für erträgliche Lebensbedingungen der Indianer einzu-setzen. 1515 kehrt Las Casas nach Spanien zurück, wo er den König gegen den Widerstand von Kronrat und Klerus für eine Reform der Gesetzgebung zum Schutz der Indianer zu überzeugen vermag. Nachdem er einen Missionsversuch an der venezolanischen Küste erfolglos abgebrochen hat, tritt er 1522 dem Or-den der Dominikaner bei. 1537 erhält Las Casas den Auftrag, die Völker der nördlichen Landesteile Guatemalas zu befrieden. Es gelingt ihm, deren Vertrau-en zu gewinnen und sie zum Christentum zu bekehren. 1542 werden auf sein Wirken hin die Neuen Gesetze erlassen, die das System der Sklaverei aufheben und eine Gleichstellung zwischen Indianern und Spaniern festschreiben. 1544 wird Bartolomé de Las Casas zum Bischof von Chiapas, einem Gebiet im südli-chen Mexiko, ernannt. 1547 kehrt er nach Spanien zurück. Am 31. Juli 1566 stirbt er in Madrid.
Dienstwissen hilft. Wie zu Zeiten Las Casas’ fehlt es auch heute nicht an Men-schen, die uns dauernd einreden, im gesellschaftlichen, politischen und staatli-chen Bereich würden eigene Gesetze herrschen, weil hier nicht fromme Wün-sche, sondern harte Realitäten maßgebend seien. Demgegenüber werden sich immer mehr Gläubige bewusst, dass der Dienst am Mitmenschen nicht einfach auf einen Machtverzicht hinausläuft. Da ist beispielsweise die Sache mit dem Wissen. Bekanntlich kann man Wissen erwerben, um andere zu beherrschen o-der um anderen zu helfen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Macht-wissen und von Dienstwissen. Ersteres dient dazu, möglichst viel Macht über andere und gleichzeitig möglichst viele Vorteile für sich selber zu erlangen. Die Rede vom Reich Gottes aber verträgt sich schlecht mit jenem Reichtum, den wir uns mit Hilfe unseres Machtwissens, also ohne Rücksicht auf andere Menschen und Völker erwerben. Solche Rücksichten hingegen kennt das Dienstwissen, das wir – der Ausdruck sagt es – in den Dienst der armen und leidenden Mehrheit stellen. Wissen wird in diesem Fall erworben, um zu helfen.
Dass Las Casas’ Bemühungen kein dauerhafter Erfolg beschieden war, spricht nicht gegen ihn, sondern gegen eine Christenheit, welche lautstark sich auf den Mann aus Nazaret berief und ihn gleichzeitig doch immer wieder verriet, indem sie seine Botschaft pervertierte. Ebendieser Verrat bewirkte bei dem spanischen Dominikaner ein ungutes Gefühl. Im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen ließ er es jedoch nicht dabei bewenden. Eine besondere Aufmerksamkeit für die Ohnmächtigen – also die Armen, die Ausgebeuteten, die Erniedrigten und Be-leidigten – ist erst da gegeben, wo der Übergang von Gefühlen zu Überzeugun-gen und der Übergang von Überzeugungen zu Verpflichtungen stattfindet.
Die goldene Regel. Wie wir schon sahen: Die “Macht an sich“ ist weder gut noch böse. Wo immer sie sich aber konkret manifestiert, stellt sich unweigerlich die Frage nach der Moral. Jesus zufolge handeln die Mächtigen nur dann gut, wenn sie auf ethisch vertretbare Mittel zurückgreifen und dabei nicht den eige-nen Vorteil, sondern das Wohl der Mitmenschen im Auge behalten. Macht, Au-torität, auch Wissen werden evangelienkonform gehandhabt in dem Maße, als ihr Einsatz Dienst-Leistungen zur Folge hat. Daran erinnert der vierte Evangelist mit jener Episode, in der Jesus den Jüngern im Abendmahlsaal die Füße wäscht, eine Verrichtung, die damals Knechten und Sklaven oblag: “Als Jesus den A-posteln die Füße gewaschen, sein Gewand wieder angelegt und Platz genommen hatte, sagte er zu ihnen: Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr sagt zu mir Meister und Herr, und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe« (Johannesevangelium, Kapitel 13, Verse 12-14).
Es ist bestimmt kein Zufall, dass sich die goldene Regel, die allen Weltreligio-nen eigen ist, im Neuen Testament auch im Mund Jesu findet: “Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen“ (Matthäusevangelium, Kapitel 7, Vers 12)! Es gilt das aber nicht nur für die einzelnen Gläubigen, sondern auch für die Glaubensgemeinschaft als ganze. Denn eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.