Ich sorge am Grab meiner Lieben für mich

25. Oktober 2006 | von

Was ich an den Gräbern lerne, davon spricht unser Autor. An Allerseelen besucht er die Gräber seiner Lieben. Es gibt Tränen. Und er hält ein inneres  Zwiegespräch mit den Verstorbenen. Daraus  entspringen kleine Lebensweisheiten: Lass dich vom Abschied nicht ums Leben bringen. Um fliegen zu können, müssen wir uns umarmen.


Ich weiß nur zu gut. Wenn man Abschied nehmen muss auf den vielen Bahnsteigen des Lebens; wenn man so Abschied nehmen muss, dass man einen geliebten Menschen aus seinen Händen geben muss und sich wenigstens für einen Augenblick nicht mehr zu sagen traut „Auf Wiedersehen“, dann plagen die Fragen: War das alles? Ist dies das letzte Wort? Man kann diese Frage schon vertagen – und darin sind wir meisterlich begabt –, aber löschen können wir sie nicht. Mit der Gewalt alles Elementaren stochert sich diese Frage einen Weg im Herzen: Ist das alles?
Ich ging hinaus zum Grab. Und da kamen nicht nur wie immer die Tränen. Es kamen heute so stark wie nie zuvor Tröstungen von unten herauf. Oder besser von oben herunter zu mir. Ich hörte:
Du, wir gingen ein Stück Weg miteinander. Jahre sind daraus geworden in herzlicher Freundschaft. Darum darf ich wohl ein paar Erinnerungen für dich ins Wort bringen. Schüchterne Worte von jenseits sind es. Da werden Trauer zur Arbeit am Leben und das Gedächtnis an mich dir zum Vermächtnis. Vergiss es nicht: 

Wer in den Himmel kommen will,
muss etwas taugen für die Erde.

Mit der Leidenschaft, die im Leben steckt, packe immer und alles an. Du kannst es. Kremple die Ärmel hoch, leg dich ins Zeug. Was je und je ansteht, nimm es an und geh ans Werk. Hingegeben lebe! Das ist so eine innere Weise des Engagements: mit Mensch und Welt, mit Zeit und Geschichte, mit dir und mit deinem Gott gleichsam im Handgemenge. Willst du deinen angestammten Platz im Himmel, mach dich tauglich für die Erde. Und Gott unterschreibt solch Leben mit: „Amen“. Vergiss es nicht: 

Wer seiner Seele ein Haus bauen will,
muss sich die Welt zurechtrichten, bis sie passt.
Und weil man damit nie fertig wird, muss jeder
sein Werkzeug auch aus der Hand legen können.

Leben kann man nur, wenn man weiß, wo man hingehört. Das ist keine Frage nach Postleitzahl und Hausnummer, das ist eine Frage nach dem Haus, darin die Seele wohnen kann. Welt passt nie, und für niemanden. Maßgeschneidert ist sie nicht und nie. Sie muss erobert werden, bis sie sitzt. Bau du an diesem Haus mit Phantasie und Geruchsinn, mit Kunst und Sensibilität. Gestalte deine Welt. Dein Werkzeug muss dein Herz sein. Niemals kann ein Mensch fertig sein mit der Arbeit am Seelenhaus, das lass dir sagen. Niemals kann einer dem anderen gerade dieses filigrane und so intime Tun abnehmen.
Darum übe auch dies: dein beherztes Werkzeug – ohne zu fragen, ohne die Blicke der Gaffer zuzulassen, fast heimlich – aus der Hand zu legen, wenn es Zeit ist. Vergiss es nicht: 

Zuhause ist der Mensch nicht da, wo er wohnt,
sondern da, wo er verstanden ist.

Du kannst so leben, weil und in dem Maße als du Türen hast, die nach Innen aufgehen. Weil und wenn du im Herzraum deiner Lieben zuhause bist, gut aufgehoben in der Liebe und Treue der Deinen. Ein verstandener Mensch. Und darauf lege viel Wert.
Wenn ich an dich denke, gehen meine Gedanken die vielen Jahre zurück. Und gleich einer Explosion kommen mir Bilder und Worte aus unseren Begegnungen ganz deutlich wieder hoch. Ich höre dich wieder ganz nachdrücklich fragen: Hast du mich verstanden – hast du mich wirklich verstanden – ich muss es doch ganz genau wissen – alles klar?! Mit solcher satter Gewissheit begabt hast du immer gelebt – mach weiter so einfühlsam, nachsichtig, liebevoll – eben typisch DU – und so warmherzig und fröhlich. Lass dich vom Abschied nicht umbringen, nicht ums Leben bringen! Sei allem Abschied voraus! Vergiss es nicht:

Wir sind begabt mit nur einem Flügel
um fliegen zu können, müssen wir uns umarmen.

Wer wie du tief ins Leben eingesehen hat und manchen Rückwärtsgang eingelegt hat, um menschlich zu bleiben, der weiß um aller Menschen so menschliche Not. Ihr Menschen alle da unten auf der Erde, ich will es euch zurufen: Ihr alle habt nur einen Flügel, nur einen Flügel. Um fliegen zu können, müsst ihr euch umarmen! So sehr ihr auf der Erde gehen und siedeln müsst, so sehr könnt ihr es nur, wenn ihr immer wieder einmal abhebt und die Schwerkraft „Welt“ überwindet. Und wie anders denn in der Umarmung? Lebe in der Umarmung!
Weißt du noch, früher einmal, als ich noch sinnlich – sinnenhaft - spürbar um dich war, sagte ich voller Bewunderung zu dir - und es war keine Schmeichelei – ich sagte damals: „Du schaust aus wie ein Engel. Warte nur, plötzlich, ganz plötzlich wirst du so leicht werden, dass dich deine Flügel heimwärts tragen.“ Warte nur!
Ich ging vom Grabe heim – und bete seitdem in großer Gewissheit:

Guter Vater.
Schicke dem, den ich liebte, deinen Engel entgegen, dass er ihn begleite durch das Tor ins lichtvolle Land der Verheißung. Geh du selber freundlich – barmherzig am anderen Ufer des Lebens auf ihn zu und lass ihn erwartet sein.
Mit deinem guten Auge lies gütig nach im Tagebuch seiner Seele. Heile und ordne, was misslungen ist; vergolde, verewige, was vor dir bestehen kann.
Lass nichts vergessen und verloren sein von all dem, was durch ihn in diese Welt gekommen ist, und sie heller, freundlicher und barmherziger für mich und viele gemacht hat.
Vergegenwärtige in unserer Erinnerung seine einfache Klarheit, seine erdhafte Gangart, seine stille Liebenswürdigkeit, sein freies Auge, seine Leben spendende Bereitschaft.
Du Freund des Lebens, breite aus deine sanften Hände des Trostes, deine bergenden Hände des Schutzes. Lenke unseren Blick in die Weite des Himmels und gib allen ein Lebenszeichen.
Allmächtiger Gott, dir in die Hände sei Anfang und Ende, sei alles gelegt.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016