Ich würde sie nie verlassen

01. Januar 1900 | von

Den 5. April 1995 wird Peter Merz (alle Namen wurden von der Redaktion geändert) bis an sein Lebensende wohl nicht mehr vergessen: Jener Tag vor nunmehr sechs Jahren verändert das Leben des 59-Jährigen auf dramatische Weise.

Ein harmloser Sturz? Dabei fängt der Tag zunächst an wie Tausende vor ihm. Der Kraftfahrzeugmeister mit eigener Werkstatt und sein Sohn Lukas kümmern sich um die Fahrzeuge ihrer Kunden, seine Frau Mathilde hält die Werkstatt in Ordnung und sieht nach der Buchführung. Ein klassischer Familienbetrieb eben! Gerade hat Mathilde Merz mit einem Abzieher die Fenster der Werkstatt geputzt. Als sie damit fertig ist, stellt sie fest, dass sie den Reiniger auf einem Mauervorsprung vergessen hat. Kurzerhand greift sie noch einmal zur Stehleiter, um an die Brüstung in Übermannshöhe zu gelangen. Allerdings stellt sie die Leiter nicht, wie es richtig wäre, in der Form eines auf dem Kopf stehenden V auf. Sie lehnt sie nur, unaufgeklappt, gegen die Mauer. Ein Fehler mit schrecklichen Folgen. Als Mathilde Merz die paar Stufen nach oben steigt, rutscht die Leiter unter ihr weg. Sie stürzt und landet unsanft auf ihrem Hinterteil. Das ist gerade noch einmal gut gegangen, denkt sie verblüfft und erhebt sich vom Boden. Als ob nichts geschehen wäre, wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

Schockierende Folgen. Sechs Stunden später klagt Mathilde Merz über Unwohlsein. Kurze Zeit später wird sie bewusstlos. Peter Merz ist alarmiert. Er stürzt ans Telefon und fordert den Notarzt an. Dieser weist Frau Merz umgehend ins Krankenhaus ein. Eine lange Leidenszeit beginnt. Stundenlang suchen die Ärzte nach der Ursache für die Bewusstlosigkeit. Sie finden zunächst nichts. Weil sie dem Ehemann nichts Näheres sagen können, schicken sie ihn nach Hause. Tags darauf fährt Merz übernächtigt zu seiner Frau ins Krankenhaus. Wir haben sie wegen eines Blutgerinnsels im Hinterkopf operieren müssen, erfährt er von den behandelnden Ärzten. Bleich und nicht ansprechbar - so findet Merz seine Frau auf der Intensivstation vor. Wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt, erläutert man ihm. Bis heute hallen die Sätze in seinem Kopf nach.

Herber Rückschlag. Ein halbes Jahr verändert sich Mathildes Zustand nicht. Bis heute weiß ihr Mann nicht, ob das Koma von den Ärzten so gewollt war, oder ob ihnen ein Kunstfehler unterlaufen ist. Sie wird in eine andere Klinik verlegt, rund 100 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Fortan fahren Mann und Sohn abwechselnd zur Frau beziehungsweise Mutter. Mittwochs und sonntags Peter Merz, samstags sein Sohn Lukas. Mathilde Merz´s Zustand bessert sich kaum. Sie wird künstlich ernährt, kann nicht sprechen, lediglich den Kopf schütteln oder nicken und ein wenig die Arme bewegen. Eines Tages erlebt Peter Merz einen herben Rückschlag. Als er nach einer Stunde Fahrt in die Klinik kommt, erfährt er, dass seine Frau wieder auf der Intensivstation liegt. Den Grund dafür verschweigt man ihm. Ich habe die schreckgeweiteten Augen meiner Frau gesehen, wenn jemand mit einem weißen Kittel ins Zimmer kam, erinnert er sich, die erzählten mir Bände.

Liebevolle Pflege. Merz beschließt, seine Frau nach Hause zu holen. Er will ihr die Strapazen des Krankenhauses ersparen, sie in seiner Nähe haben und weniger Zeit auf der Straße verbringen. Gesagt getan. Der Kraftfahrzeugmechaniker, geschult im Umgang mit Motoren und Fahrgestellen, besucht an mehreren Wochenenden einen Krankenpflegekurs. Danach kennt er die Grundzüge häuslicher Pflege. Das schwerste Stück Arbeit steht ihm noch bevor. Er muss Ärzte und Behörden überzeugen, ihm seine Frau in die Obhut des gemeinsamen Heimes zu geben. Ein Jahr ist seit dem Sturz in der Werkstatt vergangen. Mathilde Merz ist wieder in ihrer gewohnten Umgebung. Doch nichts ist mehr wie zuvor. Weil Peter Merz und sein Sohn tagsüber ihrem Beruf als Automechaniker nachgehen, kümmern sich Familienangehörige, Freunde und Bekannte um die Bettlägerige. Zusätzlich kommt der ambulante Pflegedienst ins Haus. Der Tagesablauf ist minuziös geregelt. Essen, Baden, Körperpflege - alle diese Tätigkeiten laufen nach einem genauen Pflegeplan ab. Ich kann Mathilde nur zu Hause pflegen, weil ich Menschen habe, die mir dabei helfen, erzählt Peter Merz.

Kleine Schritte. Nach Feierabend kümmert er sich allein um seine Frau. Tupft ihr die Stirne ab, wendet sie auf die Seite, macht ihr das Licht an, sieht nach ihr, wenn sie nach ihm verlangt. Weil sie nicht sprechen kann, macht sie sich mit einer Art Brummen verständlich. Dann steht Merz auf und schaut nach dem rechten. Oder ruft nur ihren Namen. Dann weiß sie, dass er sich im Nebenraum aufhält und ist beruhigt. Die Hoffnung auf eine Besserung ihres Zustandes hält Peter Merz aufrecht. Und wirklich ist ihr Zustand im Vergleich zu früher besser. Nur in winzigen Schritten geht es aufwärts, aber es geht aufwärts. Als ich sie aus dem Krankenhaus geholt habe, war sie in einer Art dauerndem Dämmerzustand, erzählt er. Eine implantierte Pumpe gab kontinuierlich Medikamente an ihren Kreislauf ab, die einerseits krampflösend wirkten, meine Frau andererseits andauernd ruhig stellten. Heute können wir auf die Pumpe verzichten und geben die Medikamente nur noch nach Bedarf. Demnächst wird der Fremdkörper ganz entfernt. Ein weiterer Schritt in Richtung Besserung war die Entfernung des Tubus aus der Luftröhre, durch den der Schleim aus der Lunge abgesaugt wurde. Den kann die Patientin nun aus eigener Kraft abhusten. Außerdem kann sie wieder Nahrung zu sich nehmen und ist so nicht nur auf künstliche Ernährung angewiesen.

Ausflüge im Drehsitz. Besonders froh ist Peter Merz darüber, dass seine Frau wieder aus eigener Kraft sitzen kann. Dies ermöglicht ihm, sie zum Fernsehen neben sich zu setzen oder mit ihr Ausflüge mit dem Auto zu unternehmen. Einen speziellen Sitz hat er ihr dafür in seinen Pkw eingebaut. Den kann man um 90 Grad aus der Längsachse des Fahrzeugs drehen. Der Drehsitz erleichtert das Ein- und Ausladen enorm.
Hadert Peter Merz mit dem Schicksal? Denkt er: Warum ausgerechnet wir? Ich bin nie sehr fromm gewesen, räumt er ein, aber ich habe wieder gelernt zu beten, nachdem das mit meiner Frau passiert war. Außerdem hat Merz die Hoffnung, dass sie irgendwann wieder gesund wird. Er macht sich Mut am Beispiel eines Motorradfahrers, eines seiner Kunden. Der lag jahrelang im Koma und kann jetzt wieder gehen und sprechen. Ist Peter Merz also mit sich im Reinen? Nicht ganz.

Ich stehe zu ihr. Richtig wütend macht ihn das deutsche Gesetz, das ihn vom Ehemann zum Betreuer seiner Frau degradiert. Amtlich bestätigt mittels eines grünen Betreuungsausweises. Die Interessen seiner Frau vertritt ein vom Gericht eingesetzter Vormund. Das Gesetz will es so. Nur, wenn’s ans Bezahlen geht, bin ich wieder der Ehemann, meint Merz bitter. Zwar zahlen Berufsgenossenschaft und Pflegeversicherung den Löwenanteil der Pflegekosten, doch ohne den Betrieb im Hintergrund wäre das Ende der Fahnenstange schnell erreicht. Und wie geht Sohn Lukas mit den Schicksal seiner Mutter um? Das kann ich nicht sagen, antwortet Merz. Er redet nicht darüber und schließt alles in sich ein.
Für Peter Merz ist es selbstverständlich, dass er seit Jahren zu seiner Frau steht.
Wir haben uns einst versprochen: In guten und in schlechten Zeiten. Jetzt erleben wir die schlechten Zeiten. Aber ich würde sie nie verlassen. Denn ich könnte mich dann nicht mehr im Spiegel anschauen.

 

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016