Königstöchter, Zwerge und sprechende Tiere

22. November 2012 | von

„In alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“, waren unsere Märchen vom Vergessen bedroht. Seit 200 Jahren sind sie nun Schwarz auf Weiß in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm zu lesen. Hänsel und Gretel oder Aschenputtel sind heute aus den Kinderzimmern nicht mehr weg zu denken. Die Erstfassung jedoch war kaum jugendfrei.



Es waren einmal vor 200 Jahren zwei Brüder, geboren in Hanau, die durch das schöne Hessen zogen, um Erzählungen zu sammeln und sie so für alle Zeit als Volksgut zu erhalten. Dieses Märchen nimmt seinen Anfang im Jahre 1812 mit der Publikation der „Kinder- und Hausmärchen“, herausgegeben von den Gebrüdern Jacob und Wilhelm Grimm. Sie haben sich zudem als Gründungsväter der Deutschen Philologie und Germanistik um die Deutsche Sprache verdient gemacht.



PRINZESSINNEN UND HAPPY END

„Es war einmal eine Königstochter, die ging hinaus in den Wald und setzte sich an einen kühlen Brunnen. Sie hatte eine goldene Kugel, die war ihr liebstes Spielwerk, die warf sie in die Höhe und fing sie wieder in der Luft und hatte ihre Lust daran.“ Mit einer von vielen schönen Königstöchtern beginnt das erste der Grimm’schen Märchenbücher. Bald wird besagte Prinzessin einen Frosch küssen, der sich als Traumprinz entpuppt. Und wer kennt das Ende nicht? „Heinrich, der Wagen bricht! – Nein Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen.“ Im Ganzen 86 Märchen publizieren die Gebrüder Grimm in dieser ersten Anthologie am 20. Dezember 1812. Darunter auch: Dornröschen, Schneewittchen (das hier noch Sneewittchen heißt), Aschenputtel, Rotkäppchen und viele bekannte mehr. Von wenigen Zeilen bis zu einigen Seiten Länge wird der holprige Lebensweg häufig weiblicher Protagonistinnen, stets unschuldig und im Benehmen tadellos, hin zum verdienten Happy End in romantischen Formulierungen, bisweilen auch im Ton unterschiedlicher Dialekte ausgemalt.



FÜR KINDER UNGEEIGNET

Ansporn zur Niederschrift war den Brüdern Grimm die Tradierung mündlicher Überlieferungen. Aus der Begegnung mit Clemens Brentano und Achim von Arnim, den Romantikern und Sammlern historischer Texte während der Marburger Studienzeit, muss diese Idee in Jacob und Wilhelm gewachsen sein. Schnell richteten sie den Fokus auf die von der Vergessenheit bedrohten Märchenerzählungen, die bis dato hauptsächlich mündlich durch die Jahrhunderte getragen wurden. Was heute in Kinderzimmern vorgelesen wird, entstammt jedoch nicht mehr dem ursprünglichen Wortlaut dieser ersten Fassung. Zwar erscheinen die „Kinder- und Hausmärchen“ pünktlich zur Weihnachtszeit 1812, sie den lieben Kleinen als Geschenk darzureichen, hat sich die eine oder andere Dame bürgerlichen Hauses dann aber wohl überlegt: Die Erzählstile waren kaum aufeinander abgestimmt, die Texte mit wissenschaftlichen Anmerkungen der Herausgeber versehen, doch vor allem die unverblümt geschilderten Grausamkeiten sowie direkte sexuelle Anspielungen verwehrten den Märchen das Prädikat ‚pädagogisch wertvoll‘. 1815 folgt ein zweiter Band, der sich zum Ladenhüter entwickelt und ein angespanntes Verhältnis der Gebrüder mit ihrem Verleger Reimer fördert.



BÜRGERLICH VERNIEDLICHT

Dennoch werden weitere Auflagen folgen, in verschiedener textlicher Auswahl, mit neuen und alten Märchen, unterschiedlich nach Umfang. Dass trotz des mangelnden Erfolges Grimms Märchen heute noch immer weltweit Kinderfantasien beflügeln, ist besonders Wilhelm zu verdanken. Dieser verwandelt den anfangs rein wissenschaftlichen Anspruch in leserfreundlichen und kindgerechten Stoff. Einen wichtigen Schritt in Richtung Bestseller macht die überarbeitete Edition beider Bände von 1819. Bereits im zweiten Band scheint die Kritik von Freunden und Lesern bei den Brüdern gefruchtet zu haben, als sie im Vorwort darauf verweisen, dass es sich hierbei um ein Erziehungsbuch handle. Spätestens ab 1918 ist Wilhelm ständig darauf bedacht, die bestehenden Niederschriften sprachlich, dramaturgisch und pädagogisch umzugestalten, so dass keine Ausgabe der anderen gleicht. Zahlreiche Redensarten sowie bildhaftes Erzählen webt er in die Texte ein. Verniedlicht und mit christlicher Moral versehen, soll dem bürgerlichen Geschmack entsprochen werden: Da mutiert Hänsel und Gretels Mutter schon mal zur bösen Stiefmutter, denn eine verstoßende statt liebvolle Mutterfigur in bürgerlichen Kreisen wäre natürlich unvorstellbar. Den eigentlichen Boom bescherte dem gestiefelten Kater, den Bremer Stadtmusikanten, Rapunzel und Compagnie eine „Kleine Ausgabe“ mit nur 50 Märchen. Sieben Kupferstiche des jüngeren Bruders Ludwig Emil Grimm illustrieren das Fabulierte. Die große Ausgabe soll schlussendlich bis 1857 in acht Auflagen aus der Hand der Urheber Grimm erscheinen.



MÄRCHENERZÄHLERINNEN

Doch ist nicht alles „echt hessisches“ Märchen, was die Brüder als solches auszeichnen. Nicht nur vom Rotkäppchen existiert eine französische Version – allerdings mit tragischem Ende –, auch von Aschenputtel und ihrem verlorenen Schuh weiß beinahe jede europäische Sprache zu berichten. Die sechs Töchter der in Kassel ansässigen Apothekerfamilie Wild steuern mit ihren lebhaften Erzählungen verschiedenste Überlieferungen bei. Henrietta Dorothea Wild wird 1825 Wilhelm Grimm heiraten. Die Begeisterung für Märchenhaftes vereint die beiden und veranlasst den jüngeren der beiden Brüder dazu, das Forschungsgebiet der Märchenkunde zu begründen. Zur Sammlung tragen zudem Persönlichkeiten der deutschen Literaturszene bei, darunter die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Als wohl wichtigste Lieferantin regionaler sowie internationaler Weisen der insgesamt etwa 50 Märchenpaten wird stets die Schneiderin Dorothea Viehmann genannt, eine gebildete Dame mit hugenottischen Wurzeln, welche die Grimms gerne als Bäuerin verbrämen. Überhaupt ist von so mancher Behauptung die romantische Verklärung zu lüften, denn viele Märchen entstammen der eigenen Feder und Fantasie oder der Sammlung „Contes de Fées“ des französischen Kulturstaatssekretärs Charles Perrault († 1703), der eine beachtliche Menge bereits schriftlich tradierter französischer und italienischer Märchen zusammengetragen hatte.



JUBILÄUMSJAHR 2013

GRIMM 2013 lautet das Motto eines vielseitigen Veranstaltungsprogramms, das Leben und Werk von Jacob und Wilhelm Grimm, aber auch ihres Malerbruders Ludwig Emil ehrt. 200 Jahre „Kinder- und Hausmärchen“ leiten die Feierlichkeiten noch vor Weihnachten ein, 2013 jähren sich die Todestage des jüngsten Bruders Ludwig Emil am 4. April und am 20. September der von Jacob Grimm zum 150-sten Mal. „Die hessischen Grimm-Städte Hanau, Steinau an der Straße, Marburg und Kassel, das Land Hessen, die fünf nordhessischen Landkreise, das Regionalmanagement Nordhessen, die Deutsche Märchenstraße und der Kultursommer Nordhessen e.V. entwickeln und organisieren einen beachtlichen Veranstaltungszyklus“, heißt es auf entsprechender Internetseite. Wer sich den Bewahrern des deutschen Wortschatzes und den berühmtesten Märchenerzählern nähern will, findet auf http://www.grimm2013.nordhessen.de/ ausführliche Informationen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016