Kostbare Schmachtlappen den Armen als Bibel
Beides miteinander bekommen die Gläubigen nie zu Gesicht. Entweder bleiben sie ungläubig vor Staunen vor dem im Dom der heiligen Hemma zur Schau aufgehängten Fastentuch stehen – oder aber sie sind sprachlos vor Ergriffenheit angesichts des goldglänzenden Aufbaus über dem Hochaltar.
Güldene Marienapotheose. Dieser Aufbau zeigt die vier Evangelisten, auf deren Schultern das ganze Glaubensgut und die ganze Glaubenslast der späteren Generationen zu ruhen scheint. Über ihnen erheben sich Ambrosius, Gregor der Große, Hieronymus und Augustinus, vier Kirchenlehrer, welche für die authentische Auslegung der evangelischen Botschaft und damit für eine kontinuierliche Glaubensüberlieferung stehen. Noch weiter oben schwebt Maria, die erstaunten Apostel hinter sich zurücklassend, in den offenen Himmel hinein.
Diese theologisch durchdachte und künstlerisch unübertroffene Verherrlichung der Gottesmutter allerdings wird während der ganzen Fastenzeit von einem überdimensionalen Hungertuch verdeckt, das den Betrachtenden anhand eines 99-teiligen Bilderzyklus die ganze Heilsgeschichte vor Augen führt, angefangen von der Erschaffung der Welt bis hin zum Jüngsten Gericht.
Seelisches Fasten. Die Fasten- oder Hungertücher, die in den Wochen vor Ostern heute wiederum in manchen Kirchen aufgehängt werden, haben ihren Ursprung in einem zeitweise ganz aus der Übung gekommenen Brauch aus dem Mittelalter. Ursprünglich wurden diese Tücher im Chor aufgehängt und verdeckten den gesamten Altarraum, sodass die Gemeinde den Verlauf der Eucharistiefeier nicht mehr optisch, sondern nur noch akustisch mitverfolgen konnte. Auf diese Weise wurde ihr sinnenfällig vor Augen geführt, dass sie sich durch ihre Sünden Gott entfremdet hatten und deshalb eigentlich gar nicht würdig waren, das Allerheiligste zu schauen. Man erlegte ihnen also in Ergänzung zum körperlichen zusätzlich eine Art seelisches Fasten auf. Bald einmal jedoch dienten diese Fastentücher nicht mehr der Trennung von Chorraum und Kirchenschiff, sondern lediglich der Verhüllung der Altäre, deren Pracht man während der vorösterlichen Leidens- und Passionszeit als unpassend empfand.
Am Hungertuch nagen. Bis heute hat sich die Redensart am Hungertuch nagen erhalten. Dieser drastische Ausdruck für hungern oder fasten entwickelte sich aus der ursprünglicheren Redensart am Hungertuch nähen. Diese anschauliche Ausdrucksweise verweist auf die kirchliche Bußpraxis des Mittelalters. Damals nahm das strenge Fasten einen weiten Raum ein. Wer sich dieser strengen Bußordnung während der vierzig Tage vor der Feier der Auferstehung Jesu unterwarf, litt Hunger – oder eben: nähte oder nagte gleichsam am Hungertuch. Darauf verweisen auch die westfälischen und rheinländischen Namen für das Hungertuch, nämlich Schmachtlappen oder Schmachtlapperie. Da das Hungertuch nur während der Quadragesima, der vorösterlichen Fastenzeit, zu sehen war, sprach man auch vom velum quadragesimale, dem Fasten- oder Passionsvelum, oder, in Anlehnung an den Tempelvorhang, der anlässlich des Todes Jesu entzwei riss, vom velum templi.
Fastentücher früher. Erste Zeugnisse für eine Altarverhüllung durch ein Fastenvelum gehen auf die Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend zurück. Die ältesten bekannten, leider nicht mehr erhaltenen Hungertücher im deutschen Sprachraum entstanden zwischen 1126 und 1149 im Kloster St. Ulrich und Afra zu Augsburg.
Wohl schon im frühen 12. Jahrhundert begann man damit, auf diesen Tüchern die gesamte Heilsgeschichte in aneinander gereihten Bildfeldern darzustellen.
Von diesen Fastenvelen sind nur wenige erhalten. Die bedeutendste Gruppe bilden die in so genannter Tüchleinmalerei gefertigten alpenländischen Fastentücher. Sie wurden je nach Größe aus mehreren miteinander vernähten Leinwandbahnen gefertigt. Um zu vermeiden, dass die Bemalungen beim Auf- und Abrollen des Leinens brachen oder gar abplatzten, verzichtete man auf eine Grundierung und verwendete vorzugsweise Tempera- oder Leimfarben, gelegentlich aber auch die leicht verblassenden Wasserfarben. Wie auf mehreren horizontal angeordneten Filmstreifen, entstanden so jene großflächigen, bis zu 99 Motive umfassenden bibliae pauperum oder Armenbibeln, welche die Heilsereignisse für die der Schrift Unkundigen im Bild festhielten.
Prachtvolles Passionsvelum. Zu den schönsten Zeugnissen dieser Art gehört zweifellos das Gurker Fastentuch. Hier konnte das einfache Volk die Bilder in der Reihenfolge von links nach rechts und von oben nach unten wie ein Buch ‚lesen‘. Bei diesem 88,7 Quadratmeter messenden Velum dürfte es sich um das größte erhalten gebliebene Fastentuch überhaupt handeln.
Gefertigt wurde es im Jahre 1458 im Auftrag des damaligen Dompropstes Johannes Hinderkircher, der sich sehr wohl bewusst war, dass auch er selber der Buße und Sühne bedurfte. Die Inschrift auf der rechten Seite des unteren Randes dürfte wohl kaum ohne seinen ausdrücklichen Wunsch angebracht worden sein. Dort lesen wir: Orate pro eo deum – Legt Fürbitte ein für ihn bei Gott.