Krankensalbung neu entdeckt

25. Januar 2012

Den von Krankheit betroffenen Menschen, die in ihrer Situation oft in eine Sinn- und Lebenskrise geraten, bietet die Kirche ein eigenes Heilmittel an, das Sakrament der Krankensalbung. Jahrhundertelang hat dieses Sakrament Ängste ausgelöst, weil es als „Letzte Ölung“ bezeichnet und auch gedeutet wurde. In Wirklichkeit verhilft der recht verstandene Empfang dieses Sakramentes zu einer christlichen Sicht auf die eigene Krankheit. Wird die Krankheit als Zumutung Gottes angenommen, aus seiner liebenden Hand, wird es zu einer inneren Heilung kommen, oft auch zu einer leiblichen Gesundung.



Jedes Jahr begeht die Kirche am Gedenktag Unserer Lieben Frau von Lourdes, am 11. Februar, den Welttag der Kranken, eingeführt vom vielfach leiderfahrenen Papst Johannes Paul II. mit seiner besonderen Aufmerksamkeit für Schwache, Kranke und Pflegebedürftige. In seiner Enzyklika „Spe Salvi“ vom 30. November 2007 nimmt sein Nachfolger Papst Benedikt XVI. auch die gesellschaftliche Relevanz dieses Gedenktages in den Blick: „Das Maß der Humanität bestimmt sich ganz wesentlich im Verhältnis zum Leid und zum Leidenden. Das gilt für den einzelnen wie für die Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die die Leidenden nicht annehmen und nicht im Mit-leiden helfen kann, Leid auch von innen zu teilen und zu tragen, ist eine grausame und inhumane Gesellschaft“ (Nr. 38). Der folgende Beitrag beleuchtet auf diesem Hintergrund der christlichen Sorge um eine besondere Gruppe der „Mühseligen und Beladenen“ das Sakrament der Krankensalbung.



HERAUSFORDERUNG FÜR SEELSORGER

Die Spendung des siebten Sakramentes gehört für mich seit der Priesterweihe 1985 zu den größten Herausforderungen meiner Seelsorge in puncto Geistesgegenwart, Feinfühligkeit und Zuwendung in der Begegnung mit den Betroffenen und den ab und an Mitfeiernden. Das rechte Maß von Schweigen und Reden ist ein Balanceakt an der Grenze. Das menschliche Ereignis Aug in Auge wird hier immer wieder zum Eräugnis der Nähe und Treue Gottes.

Die Zeiten sind längst vorbei, wo der Priester wie ein Todesengel durch die Gassen ging. An seine Seite waren ihm die Ministranten mit Laterne und Glöckchen gestellt – unterwegs zur damals so bezeichneten Letzten Ölung. Die Zeiten sind auch vorbei, wo man noch wusste, was ein Versehgang ist und was zu einer Versehgarnitur gehört (Kreuz, Kerzen, Weihwasser, Korporale). Unter dem Begriff Versehgang verbirgt sich der gläubige Schritt des Loslassens am Lebensende mit dem Empfang des Bußsakramentes, der Krankensalbung und der Wegzehrung. Die Wegzehrung (lateinisch viaticum = Reisebrot), die heilige Eucharistie, ist das eigentliche Sterbesakrament, die letzte Gabe für den einsamsten und steilsten aller menschlichen Wege überhaupt. Und für das Danach. Wann haben Sie zum letzten Mal in Todesanzeigen die Worte: „versehen mit den Tröstungen der heiligen Kirche“ gelesen?



BIBLISCHE GRUNDLEGUNG

Offensichtlich stehen uns Zeiten ins Haus, in denen das Verständnis und die Praxis einer wirklichen Feier der Krankensalbung in eine überschaubare Nische zu entschwinden droht. Ohne Vorwurf möchte ich hier laut denken: Welche Rolle spielt die Krankensalbung in christlichen Alten- und Pflegeheimen und bei uns Priestern? Wann habe ich darüber zuletzt gepredigt? Das siebte Sakrament hat es schwer, sich im guten Sinn des Wortes zu behaupten als wirksame Hilfe, Krankheit anzunehmen und sich in dieser menschlichen Krise Hoffnung und Zukunft zusprechen zu lassen, in Wort und Zeichen von Gott her. Die Krankensalbung hat ihre liebe Not, nicht einmal so sehr im ökumenischen Dialog. Für unsere evangelischen Geschwister ist sie nämlich kein Sakrament, weil ihr biblischer Haftpunkt aus der „strohernen Epistel“ (Martin Luther) stammt: „Ist einer von euch krank? Dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben. Das gläubige Gebet wird den Kranken retten und der Herr wird ihn aufrichten; wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben“ (Jakobusbrief 5,14-15).

Salbungen werden nach meiner Einschätzung auch in der pas-toralen Sorge unserer evangelischen KollegInnen in den letzten Jahren immer beliebter. Die Krankensalbung hat jedoch als Haupthindernis ein gesellschaftliches Klima, in dem man/frau einfach nicht krank sein darf, weil wellness und fun zu neuen Göttern hochstilisiert werden und die schwierige Auseinandersetzung mit Krankheit, Leid und Tod abgedrängt wird an „Ränder und Nischen“. Wo steht die Kirche in diesem Prozess? Auf verlorenem Posten? Krankheit wird in der westlichen Welt oft leider nur noch reduziert auf eine Art Funktionsstörung, die alsbald behoben werden muss, damit der Mensch wieder ins Getriebe der Arbeit zurückkehrt oder sich eben endgültig verabschiedet (mit Anleitungen aus dem Internet), einmal plakativ gesagt!



DIE KIRCHE WEICHT NICHT AUS

Die Kirche traut sich auf dieses bedrängend harte Ackerfeld menschlicher Existenz und nimmt sehr fein wahr (KEK 1501): „Krankheit kann zu Angst, zum Rückzug auf sich selbst, zuweilen sogar zu Verzweiflung und zu Auflehnung gegen Gott führen. Sie kann aber auch den Menschen reifer machen, ihm den Blick dafür öffnen, was in seinem Leben unwesentlich ist, so dass er sich dem Wesentlichen zuwendet. Sehr oft führt Krankheit zur Suche nach Gott, zur Rückkehr zu ihm.“ Man beachte das Wörtchen „kann“. Unter den vielen Deutungen von Leid sind diese behutsamen Sätze ein Sinnangebot, keine Patentantwort und kein Totschlagargument.

Die Kirche drängt es förmlich aus ihren eigenen Gotteshäusern hinaus, aus vertrautem Raum in die „Zugluft der unbehausten Straße“. Sie sucht mit dem Heiligen Öl, das der Bischof in der Karwoche geweiht hat (im Notfall kann der Priester das Pflanzenöl selbst weihen), die Nähe des bedrängten Menschen. Selbst Pilgerin des Weges, geht sie mit schlichten Gebärden zum Hausbesuch, ans Kranken- und Pflegebett, zum Unfallort. Die Gemeinschaft der Christgläubigen weicht nicht aus, wenn Ins-Leid-Verwiesene die Frage des Menschen schlechthin stellen: „Warum trifft gerade mich/uns dieses Leid?“ Sie harrt aus, oft schweigend. Und sie hilft, die Frage in eine Klage umzuwandeln, zur großen Frage an Gott selbst. Und sie setzt Zeichen des Beistandes. Hauptsache, der bedrohte Mensch ist nicht allein!



ICH BIN DEIN ARZT

Dahinter steht die Sendung des göttlichen Arztes. Was im Ersten Testament als einmalige Selbstoffenbarung Gottes gilt, der gerade das Unerhörte bewirkt hat, den Exodus durch das Schilfmeer: „Ich bin der Herr, dein Arzt!“ (Ex 15,26), das wird im Zweiten Testament übersetzt in eine sichtbare Person und deren Worte und Handlungen: Jesus Christus selbst ist der verwundete Heiland der Welt. In seinem Auftrag haben die Menschen mit Handicaps verschiedenster Art einen besonderen Platz der Aufmerksamkeit und Fürsorge. Die Königsherrschaft Gottes bricht in seinen Worten und Taten an mit ihm selbst, sie wächst unaufhaltsam bis zur Stunde in eine großartige Zukunft. Ein neuer Schöpfungsmorgen dämmert, wenn Jesus Menschen von ihren Gebrechen heilt, wenn er Dämonen bannt und bis zu seiner eigenen Hinrichtung auf Golgota Trost, ja das Paradies zuspricht. Er hat Menschsein und Menschwerden nicht gespielt, sondern ausgestanden und durchgestanden, um von den tiefsten Entfremdungen zu befreien, der Angst und der Schuld.

Die Kirche ist dieser Hinwendung ihres Herrn und Meisters verpflichtet. Er vertraut zerbrechlichen, fehlerhaften Menschen nicht nur den Verkündigungsdienst an, sondern auch die Sorge um die Kranken, und das mit Vollmacht. Unser Ordensvater Franziskus macht beherzte Schritte seiner Bekehrung, weil er den Aussätzigen umarmt und sich das Evangelium von der Aussendung der Jünger ganz zu eigen macht. Gotteserfahrungen im Alltag und in der Liturgie! Antonius zieht eine helle Spur wundersamer Heilungen bereits zu Lebzeiten hinter sich her, mehr noch nach seinem Heimgang.

Die Grenze der Überwindung bzw. der Linderung von Leid benennt Paulus. In seinem Brief an die römische Gemeinde macht er einen kosmischen Horizont auf (vgl. Röm 8,18-39). Die Schöpfung liegt in Geburtswehen, ein Seufzen ist unüberhörbar, getragen von Gottes unerschöpflichem Geist. Unheilbares Leid anzunehmen als Teilhabe an diesem Prozess der Vollendung gehört auch zu christlicher Existenz. Dieser Teil des Römerbriefs ist meine persönliche Lieblingsstelle bei der Spendung des Sakramentes und interessanterweise auch ein fester Bestandteil beim Transitus, der Feier des Heimgangs von Franziskus am 3. Oktober jeden Jahres zu abendlicher Stunde.

Die Kirche steckt einen weiten Rahmen ab für die Feier des Sakramentes der Krankensalbung. Es ist nicht nur das Heilszeichen für die, welche sich in äußerster Lebensgefahr befinden. Die kirchlichen Vorgaben gehen von folgenden Zielgruppen aus: Menschen, deren Gesundheitszustand bedrohlich angegriffen ist; Betagte, deren Kräfte zu versagen drohen; Patienten/Patientinnen, die vor einer schweren Operation stehen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer wiederholten Spendung.



SALBUNG DURCH DEN PRIESTER

In vielen Gemeinden wird im Rahmen von regelmäßigen Krankenmessen auch die sakramentale Salbung für die Anwesenden angeboten. Mancher meiner Mitbrüder fragt sich, ob an dieser Stelle nicht zu leichtfertig und ohne tiefere Vorbereitung das Sakrament gespendet wird. Diese Thematik haben wir übrigens bei allen Sakramenten in puncto Disposition der Empfangenden, Stichwort: „billige Gnade“.

Mit Blick auf die biblische Grundlegung im Jakobusbrief ist der Vorsteher der Feier der Krankensalbung ausschließlich ein Priester. Die amtlichen Dokumente der Kirche halten daran fest im Angesicht von Anfragen aus der Pastoral. Sie vertreten u.a. den Standpunkt: Salbung ist etwas Liebevolles, Mütterliches. Sie ist eine leibhafte, erfahrbare Berührung mit dem Arzt Jesus Christus und dem liebenden, mütterlichen Gott. Anselm von Canterbury hat im 11. Jahrhundert von Jesus als unserer Mutter gesprochen. Wenn es schon den Begleitenden eines Schwerkranken oder Sterbenden nicht möglich ist, das Sakrament zu spenden: Was hilft im Falle der erbetenen Krankensalbung zu einem guten Zusammenwirken der Frauen und Männer, die direkt begleiten, mit dem Sakramentenspender, der oft aktuell ohne Zusammenhang in einen dramatischen Prozess hineingerufen wird?



JESU GEWANDSAUM BERÜHREN

Es ist würdig und recht, wenn die Feier des siebten Sakramentes nicht wie eine der vielen „Verrichtungen“ am kranken Menschen zwischen Visite und Bettenmachen vollzogen wird, schon gar nicht als „magischer Rest für alle Fälle“, sondern bei Bewusstsein des Betroffenen, in Gemeinschaft mit Angehörigen oder Pflegenden – hier soll eine große Anerkennung den Mitgliedern der Hospizvereine ausgesprochen werden! – und ohne Zeitdruck. Die Handauflegung nach dem Wortgottesdienst führt zum eigentlichen Höhepunkt: der Salbung von Stirn und Handinnenflächen (beim Priester die Außenseiten). Vor dem Vaticanum II wurde wie in der Ostkirche an weiteren Stellen des Leibes gesalbt. Die Formel lautet heute: „Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen. Er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes. Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich. In seiner Gnade richte er dich auf.“

Die Kirche entfaltet die Gnadenwirkung vielfältig und erhofft von dieser Feier für den Empfangenden (KEK 1532): „die Vereinigung des Kranken mit dem Leiden Christi für sein eigenes Heil und das der ganzen Kirche; Trost, Frieden und Mut, die Leiden der Krankheit oder des Alters christlich zu ertragen; die Vergebung der Sünden, falls der Kranke sie nicht durch das Bußsakrament erlangen konnte; die Genesung, falls dies dem Heil der Seele zuträglich ist; die Vorbereitung auf den Hinübergang in das ewige Leben.“ Für die Angehörigen, das Pflegepersonal und die scheinbar zu-fällig Anwesenden kann eine einfühlsam gestaltete Feier bereits ein wichtiger Schritt des Loslassens im Trauerprozess sein bzw. die Berührung mit dem „Saum des Gewandes Jesu“ in unserer Zeit. Krankensalbung als Evangelisierung nach innen und außen!



TOD UND AUFERSTEHUNG

Das siebte Sakrament hat es schwer in unserer Gesellschaft mit ihrem eigenen Maßstab von Jugendlichkeit, Erfolg und Ansehen. Die Feier und das Verständnis scheinen mitunter auch zu einem Randphänomen der Kirche zu verkommen. Dennoch ist diese Feier ein Schatz des Glaubens, ein heilsamer Ruhepunkt für „aufgescheuchte Seelen“ und vieles mehr. Ich danke sehr der schwerkranken Mutter, die mir in ihrer Wohnung in Anwesenheit ihrer pflegenden Familie beim Berühren meiner bolivianischen, weichen und hellen Stola voll Bewunderung sagte: „Die ist aber schön, wissen Sie, ich bin Schneiderin von Beruf!“ Dabei schenkte sie uns Umstehenden ein Lächeln auf ihrem ausgezehrten Gesicht. Es lag für mich auf der Hand, nicht nur bei der Krankensalbung, sondern auch beim Requiem für sie, mit dieser österlichen Stola Tod und Auferstehung Jesu zu feiern.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016