Krisenlösung Korintherpriester?

29. September 2003 | von

Immer weniger junge Männer fühlen sich zum Priesteramt berufen, immer mehr Menschen kritisieren die Rolle des Seelsorgers – ist unser traditionelles  Priesterbild überholt? Der Briefwechsel zwischen dem Franziskanerpater Klaus Renggli und der engagierten Christin Petra Klippel gibt Einblick in die jeweilige Erfahrungswelt und Ausblick auf eine zeitgemäße Glaubensverkündigung. 

Liebe Petra,

Du hast mir in Deinem Brief klar zu verstehen gegeben, dass Du Probleme hast mit Deinem Pfarrer, der Deinem Empfinden nach völlig den Bezug zum Leben verloren hat und abgehoben von jeder Wirklichkeit aus einem elfenbeinernen  Turm herab über das Leben und den Glauben spricht, ja oft Wasser predigt und Wein trinkt.

Blinde Flecken. Ich verstehe Deine Probleme und ich muss zugeben, dass ich sie mit Dir teile, weil ich sie am eigenen Leibe erfahre. Ich versuche hier ein komplexes Thema aus meiner Sicht kurz und verständlich anzuschneiden. Bitte, mach Dir Deine eigenen Gedanken dazu. Denn das ist ja gerade die Gefahr, dass wir Priester viele Dinge nicht mehr spüren oder nicht wahrhaben wollen. Wir haben unsere blinden Flecken. Eine ergänzende Sicht von außen ist nicht nur hilfreich sondern notwendig, denn das Volk Gottes sind wir alle, ob Priester oder nicht. Der Priester hat ja innerhalb der Kirche für das Volk Gottes einen besonderen Dienst zu leisten. Diese wichtige Aussage des Konzils möchte ich klar meinen Gedanken zu Grunde legen: Der Priester hat eine dienende Funktion, keine Machtposition.

Ich sehe das Unbehagen vieler Priester in einem grösseren Zusammenhang. Nach dem Konzil hat sich die offizielle Kirche mit sich selbst befasst, aber kaum mit der Rolle des Priesters. Diese Rolle ist heute teilweise unklar geworden, ist stecken geblieben in einer von der Tradition beherrschten Sicht, die unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr entspricht. Dazu kommt, dass durch den Mangel an Priestern viele Laien Aufgaben übernehmen müssen, die eigentlich dem Priester vorbehalten sind. Und sie erfüllen diese Aufgaben ebenso gut. Wozu sind dann noch, so fragen sich viele, zölibatäre Priester nötig, die dem Alltagsleben fern stehen?

Der Zölibat spielt eine Rolle bei der Beurteilung der Priester und in deren Lebenswirklichkeit. Es geht dabei nicht so sehr um die Sexualität, als vielmehr um die Einsamkeit, die eine solche Lebensform heute in unseren Gegenden mit sich bringt. Noch vor 50 Jahren lebte ein Pfarrer kaum allein, er war mit einem Vikar oder Kaplan, einer Haushälterin oder einer Schwester zusammen. Die Überbelastung aller Art verlangt von den Priestern fast Unmögliches. Wo sollen sie auftanken? Bei Jesus, hat man uns in der Ausbildung gesagt. Gut, ja, aber auch Jesus hatte eine Gemeinschaft und nahm sich die Zeit zur Sammlung und zum Gebet.

Ich habe Verständnis, wenn viele Priester, die ihre Arbeit, ihren Dienst gut machen wollen, oft nervlich nicht mehr durchhalten und ein anderes Leben wählen. Vergessen wir auch nicht, dass der Zölibat keine tausend Jahre alt ist. Warum wurde er eingeführt in der Kirche? Sicher auch, damit die Priester mehr Zeit haben für ihr eigentliche Aufgabe, dass sie ganz Christus gehören, wie es heisst. Aber es ging auch um Macht und Geld. Wenn keine Erben da waren, blieben die Güter der Kirche. Ein unverheirateter Priester ist leichter zu versetzen als einer, der Familie hat. Ich sehe den Wert des Zölibates durchaus ein, bin aber für eine freie Wahl zwischen Zölibat und Ehe für Priester. Da gibt es übrigens einen interessanten Vorschlag vom Pastoraltheologen Paul M. Zulehner. Er macht den Unterschied zwischen Korintherpriester und Pauluspriester. Der Pauluspriester entspricht ungefähr unserem heutigen, unverheirateten Priester. Der Korintherpriester hingegen inspiriert sich an der Praxis frühchristlicher Gemeinden, die sich aus ihren Reihen einen erfahren Mann aussuchten, der ihr Leiter, ihr „Ältester“ wurde und der Eucharistie vorstand. Er war im Dienst einer bestimmten Gemeinde, die er kannte und die ihn als fähig und erfahren genug befand, sie zu leiten.
 
Aber ich möchte noch einen Grund anführen, der meines Erachtens mitverantwortlich ist an der Malaise vieler Priester. Das ist ihre Ausbildung. Ich denke da vor allem an unsere Zeit, bis in die siebziger Jahre hinein. Die Erziehung war eher weltfremd, ausgerichtet auf Einzelpersonen, keine Kontakte zu Frauen, wohl behütet im Seminar. Von Gruppendynamik und echter Zusammenarbeit mit Laien haben wir kaum etwas gehört, vergessen, sie einzuüben. Zudem ist das Studium zu verkopft, ohne Bezug zur Alltagswirklichkeit.

Meines Erachtens muss ein Priester vor allem lebensnah sein, er muss den Alltag und die Sorgen der Menschen erfahren haben. Das verlangt eine andere wichtige Voraussetzung, er muss ein guter Zuhörer sein. Ich rege mich noch heute über Priester auf, die ihre Theologie wunderbar untermauern mit den schönsten theologischen und philosophischen Spekulationen über die Dreifaltigkeit und dann glauben, sie hätten dadurch den Zuhörern die Existenz Gottes bewiesen. Ist das eine echte Lebenshilfe für eine Mutter, deren Kind drogenabhängig ist? Es braucht ein Gespür für die Nöte und Probleme der Menschen. Dann wird die Glaubensverkündigung zeitgemäßer, verständlicher, der Zuhörer wird Antworten auf Lebensfragen finden, Fragen, die er sich stellt zum Sinn des Lebens, des Leides, des Schmerzes, des Todes und über erfülltes, erhofftes Leben. Überhaupt muss der Priester als Fachmann für Spiritualität den Glauben irgendwie erfahrbar machen können, nicht über den Verstand allein, nicht über eine Menge Worte, die niemand versteht, sondern durch Erlebnisse, Geschichten, Ereignisse  Symbole, Aktionen, ähnlich wie Christus das durch seine Gleichnisse, Wunder, Handlungen und durch sein Leben tat.

Zusammenfassend möchte ich einfach sagen, der Mensch braucht einen Menschen als Priester, kein intellektuelles Rennpferd, sondern eher einen erfahrenen Ackergaul, um ein Bild zu gebrauchen. Denn „der Mensch ist dem Menschen die beste Medizin“, wie ein afrikanisches Sprichwort sagt. Nur ein echt menschlicher Priester, der seine geistige Heimat in der Gotteserfahrung hat, wird diesen Dienst gut ausführen.

Für heute möchte ich mit diesen Gedanken schliessen. Ich weiss, dass die Ansprüche an den Priester hoch sind. Und das Sprichwort „Allen Leuten recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann“ gilt gerade für den Priester. Dennoch sind gewisse Grundhaltungen anzustreben.

Ich freue mich auf Deine Reaktion
Herzlich
Klaus


Lieber Klaus,

vielen Dank für Deinen langen Brief. Bei vielem kann ich sagen: Das verstehe ich auch so, ich stimme zu. Zum Beispiel die ganze Verwaltungsarbeit, das Organisieren und so weiter. Das können doch Laien (mindestens) genauso gut machen. Aber es kann eben nicht jeder ohne kirchliche Autorisierung die Sakramente spenden, wenn keine Beliebigkeit entstehen soll. Es wäre hilfreich, wenn sich die Priester darauf mehr konzentrieren könnten und wenn sie mehr Zeit hätten, die damit verbundenen Gespräche zum Beispiel mit Verlobten oder mit Eltern, die ihr Kind taufen lassen möchten, intensiv zu führen. Wenn Priester wirklich mehr Seelsorger wären, wäre nicht nur vielen Gläubigen, sondern auch der Glaubwürdigkeit der Kirche sehr gedient.

Auch deinen Argumenten zum Zölibat stimme ich zu. Mich bewegt immer wieder die Frage: Und wer kümmert sich um die Seele und das Wohlergehen des Priesters? Wer hört den „Berufs-Zuhörern“ zu? Gut, die Kirche sorgt für ein Angebot an Priesterseelsorgern, Supervisoren und sogar Therapeuten. Mein Eindruck ist jedoch, dass „Mutter Kirche“ gleichzeitig sehr hohe, auch zu hohe Ansprüche an ihre Priester stellt. Drei bis fünf Gemeinden zu betreuen ist inzwischen keine Seltenheit mehr. Aber wie und wo soll ein Zölibatär da noch Heimat finden?   

Ich habe Verständnis, wenn angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen heute immer weniger Männer bereit sind, den Weg zum Priesteramt einzuschlagen. Und ich wüsste nicht einmal, ob ich es einem jungen Mann empfehlen würde. Du magst nun das Stichwort „Berufung“ einwerfen: Es ist doch nicht eine Berufsentscheidung, die wie eine andere empfohlen werden kann. Aber gleichzeitig ist eine Berufung ja nicht gerade eine sehr handgreifliche Sache, bei der man klar sagen könnte: Der hat sie  – der nicht. Woran macht man sie fest? Wie kann von den Verantwortlichen entschieden werden, wer eine „echte“ Berufung hat? Ist dies nicht auch sehr beliebig?

Leider muss ich auch sagen: Die, die es auf sich nehmen, sind nicht immer Persönlichkeiten, die mich optimistisch auf die Zukunft der Gemeinden blicken lassen. Hinzu kommt, dass viele, die in meinen Augen fähige Seelsorger sind, in die Kategorialseelsorge (Krankenhaus, Gefängnis o.ä.) gehen. Dies kann ich sehr gut nachvollziehen – aber es ist ein Grund mehr zu fragen: Was wird aus unseren Gemeinden, wenn Priester diese nicht mehr als Bereich sehen, in dem sie gut arbeiten und leben können?

Der von Dir erwähnte Vorschlag des Theologen Zulehner ist in diesem Zusammenhang sicher bedenkenswert. Allerdings erscheint er mir eher unrealistisch. Am Ende würde doch als „Korintherpriester“ nicht unbedingt der Geeignetste, der „Geistlichste“ ausgewählt, sondern der Mächtigste, der Einflussreichste, der, der sich am besten durchsetzen oder verkaufen kann. Am Ende wäre halt der Sportvereinspräsident oder Karnevalsprinz auch noch der Gottesdienstvorsteher. Auch das umgekehrte Risiko besteht: Dass der Priester zu sehr abhängig von der Gunst der Gemeinde ist, dass er noch größeren Stress hat, es allen Recht zu machen, weil man ihn schließlich gewählt hat. Wie schätzt du diese Gefahr ein? Ferner: Glaubst du, dass sich auf Dauer überhaupt Freiwillige finden werden, die diese Aufgabe übernehmen wollen?

Bedauerlicherweise ist auch eine Pfarrgemeinde oft weit davon entfernt, eine heilige Gemeinschaft zu sein. Es gibt Streit und Gerede - und es gibt auch viel Oberflächlichkeit. Die Gefahr besteht, dass sich die Gespräche der Gremien und Gruppen mit dem Pfarrer primär um das Pfarrfest, die  neue Orgel oder den Kindergarten drehen. Wie viele Gemeinden aber haben Schriftkreise oder Gebetstreffen mit ihren Pfarrern? Der Priester ist ja längst nicht der Einzige, der Gebet und Schriftlesung pflegt. Hier könnte doch das Miteinander von Gemeinde und Priester besonders Frucht bringend sein. Auch für ihn übrigens, wenn er sich traut, gegebenenfalls eigene Fragen und Zweifel anzusprechen. Manchmal muss vielleicht auch der Priester durch den Glauben der Gemeinde getragen werden. Dies wäre eine Möglichkeit, einen Geistlichen zu unterstützen.  Am Ende bleibt meine Frage an dich: Wie können wir Laien die von dir erhofften Grundhaltungen, die ich sehr befürworte, fördern und unterstützen?

Auf deine Antwort bin ich gespannt.

Deine Petra


Liebe Petra,

Besten Dank für Deine ergänzenden Zeilen. Mir scheint, wir spüren beide die große Problematik, die in unserer Breitengraden mit dem Priesterberuf verbunden ist. Ich bin der Meinung, dass Lösungen gesucht werden müssen.

Auf zwei Fragen möchte ich noch kurz eingehen. Im Zusammenhang mit den Korintherpriester fragst Du, ob ich der Meinung sei, dass es genügend Freiwillige geben würde, die sich für diesen Dienst melden würden. Ich bin Optimist. Ich denke ja. Ich kenne auch persönlich einige, die sich damit schon auseinander gesetzt haben und dazu bereit wären.

Einsatz der Laien. Dazu passt Deine zweite Frage: Wie können die Laien die noch vorhandenen Priester unterstützen? Das ist gar nicht so leicht, weil der Individualismus, um nicht zu sagen der Egoismus auf beiden Seiten groß ist. Es braucht die Absicht, der Sache, in diesem Fall den Gemeindemitgliedern, wirklich zu dienen. Ich hörte von Arroganz und Machtgehabe von beiden Seiten. Wenn nur meine Meinung zählt, sei es als Priester oder als Laie, dann ist eine Zusammenarbeit nicht möglich. Es braucht viel Toleranz und Rücksicht, es braucht Fingerspitzengefühl, um auf Probleme eingehen zu können, ohne zu verletzten, ohne überzogene Ansprüche durchzudrücken. Konkret: Wenn die richtige Absicht da ist, gibt es viele Möglichkeiten. Ich denke jetzt nicht an die bezahlten Laien, die im kirchlichen Dienst stehen. Da ist es klar, dass sie sich die Aufgaben mit dem Priester teilen, je nach Fähigkeiten und Anlagen, damit der Priester wirklich mehr Zeit für das Eigentliche hat, für die Suche nach den Spuren Gottes in der Welt, um sie den Gläubigen zu zeigen.

Es geht vor allem um so genannte ehrenamtliche Hilfe. In jeder Pfarrei müsste es verschiedene Gruppen geben, die sich der einzelnen Aufgabe besonders annehmen und die den direkten Draht zu den Gläubigen, zu ihren Bedürfnissen und Nöten haben. Solche Gruppen müsste es geben für Liturgie, Diakonie, Verkündigung, Kontakte zu den Alten, Kranken, der Jugend, für Finanzen und anderes. Ich kenne ein Beispiel aus Brasilien, wo es keine Kirchensteuern gibt. Da hat ein Pater von uns 200 ehrenamtliche Mitarbeiter. Zwei Priester, der eine davon ist noch Provinzial, betreuen dort 22.000 Katholiken. Vor allem die Begleitung der ehrenamtlichen Mitarbeiter ist dann seine Aufgabe.

Im Zentrum das Zeugnis. Eines aber ist ebenfalls wichtig, Du hast es angesprochen, es ist die menschliche Seite. Dem Fachmann für das Zuhören, dem Priester, muss ebenfalls zugehört werden. Irgendwo müssen wir unsere Probleme besprechen können, menschliche und fachliche. Wir müssen auch hinterfragt werden. Wie wäre ich froh, nach einer Predigt, einer liturgischen Feier, einem Pfarrfest eine Rückmeldung zu bekommen, sachliche Kritik, Anregungen, wie man etwas besser machen könnte. Darin den Priester zu unterstützen ist bestimmt schon eine grosse Hilfe. Wenn Priester und Laien so aufeinander zugehen, sich gegenseitig die Bedürfnisse und Erwartungen mitteilen, müsste daraus ein schönes Miteinander wachsen, das zum Vorteil für alle wäre. Es geht ja nicht in erster Linie um eine Methode, es geht um ein Zeugnis, das Zeugnis des Glaubens, das letztlich am besten in der Gemeinschaft gegeben werden kann.

Auch dieser Brief ist etwas lang geraten. Damit ist das Problem aber noch lange nicht erschöpfend behandelt: Gewisse Dinge kamen zu kurz, andere konnten nicht erwähnt werden. Ich denke, wir können bei unserem nächsten Treffen in Padua darüber sprechen. Ich freue mich darauf und grüsse Dich herzlich

Klaus

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016