Kustodie im Heiligen Land
Am Heiligen Grab in Jerusalem treffen Nationen und Konfessionen zusammen. Aus dem Nebeneinander wird manchmal auch ein Gegeneinander. Davon nicht entmutigt berichtet Franziskanerpater Robert Jauch vom Leben und Arbeiten als Seelsorger am Ort unserer Erlösung und bestätigt: Wer hier her kommt und sieht, glaubt.
„Erbittet für Jerusalem Frieden! Wer dich liebt, sei in dir geborgen“ (Psalm 122, 6). Für viele Christen ist eine Pilgerreise ins Heilige Land, nach Jerusalem und zum Heiligen Grab Jesu, ein großer Traum. Doch nicht nur die Kosten für eine solche Fahrt, sondern auch die Angst vor politischen oder gar terroristischen Zwischenfällen stehen der Verwirklichung dieses Traums im Wege. Obwohl das Heilige Land sich spätestens seit dem so genannten Sechstagekrieg 1967 unentwegt im „unheiligen“ Kriegszustand befindet, haben die Schutzengel immer auf die frommen Pilger aufgepasst, und es ist nicht mehr an Unfällen und Verletzungen passiert als an jedem anderen Ort der Welt auch. Seit gut zwanzig Jahren begleite ich deutsche Pilgergruppen ins Land des Herrn und erinnere mich jetzt, da ich über Jerusalem berichte, dankbar der guten göttlichen Vorsehung.
Tagesprogramm. In seinen Erinnerungen „Auf, lasst uns gehen!“ (Augsburg ²2004) schreibt Papst Johannes Paul II. auch über seine zweite Pilgerreise 2000 ins Heilige Land: „Diese Reise war ein großes, riesengroßes Erlebnis. Der bedeutendste Augenblick der ganzen Pilgerreise war zweifellos der Aufenthalt auf dem Kalvarienberg, auf dem Berg der Kreuzigung, und am Grab, an jenem Grab, das zugleich der Ort der Auferstehung war.“ Wir Franziskaner versehen unseren Dienst im Heiligen Land seit 1342 im ausdrücklichen Auftrag des Heiligen Vaters und damit für die gesamte Kirche. Das wird mir in der Grabeskirche besonders bewusst, vor allem durch die weitgehende Verwendung der lateinischen Sprache in der Liturgie, der Sprache der weltweiten Kirche. Irgendwie kommt diese Universalität auch in den unterschiedlichen Nationen von uns Brüdern hier im Konvent zum Ausdruck.
Ein dichtes „Programm“ an Gebetszeiten prägt unseren Tagesablauf: Lesehore um 23:45 Uhr; lateinische Messen im Heiligen Grab ab 4:30 Uhr, Mittagsgebet, Vesper und Prozession durch die Grabeskirche. Die Gebetsstunden verrichten wir noch im alten so genannten tonus rectus, einer Art gleich bleibendem Sington. Der gregorianische Choral gehört beim täglichen Hochamt am Heiligen Grab dazu.
Verständigung im Kloster. Uns Mitbrüdern des Grabeskirchenkonvents steht nach fünf Wochen Dienst eine Urlaubswoche zu. Und das erweist sich als äußerst hilfreich, ja notwendig. Zwar können wir, wenn wir keinen Präsenzdienst in der Kirche haben, nach draußen gehen, aber die Grabeskirche ist dicht umschlossen vom orientalischen Basartreiben. Über Nacht ist die Kirche selbst verschlossen, so dass wir diesen Bereich nicht verlassen können. Unsere Zimmer verdienen daher auch die alte klösterliche Bezeichnung „Zellen“. Zum recht verwinkelten, teils in uraltem Gemäuer untergebrachten Konvent gehört auch ein kleiner malerischer Dachgarten mit liebevoll von Pater Casimiro gepflegter, grüner Pflanzenpracht.
Die alltägliche Verständigung im Konvent ist nicht ganz einfach. Italienisch ist die offizielle Sprache der Franziskaner im Heiligen Land, aber oft hilft ein Ausweichen aufs Englische, und unserer tschechisches Konventsmitglied bekommt die wichtigsten Dinge noch auf Polnisch mitgeteilt. Manchmal feiere ich die heilige Messe wegen der anwesenden Gläubigen auf Englisch, oft auf Italienisch, selten in Deutsch. Es gibt Bestrebungen, das Bußsakrament an den Pilgerstätten im Heiligen Land zu fördern und dafür die Präsenz geeigneter Mitbrüder zu verdichten. Und so haben Mitbrüder aus den größeren Konventen in der Stadt inzwischen begonnen, neben einem älteren mehrsprachigen koreanischen Mitbruder stundenweise die Beichtbereitschaft in der Grabeskirche zu übernehmen.
Konfessionelle Vielfalt. Und wie steht es um die Ökumene? In der Grabeskirche erleben wir die Verschiedenheit der Konfessionen hautnah. Die Kleidungen der Mönche auseinander zu halten ist nicht schwer, aber die Zuordnung zu den Kopten, den Syrern, den Griechen und den Armeniern setzt schon einen gewissen geschulten Blick voraus. Es fällt doch auf, wie unterschiedlich die Sprachen und Gebräuche sind. Die Kopten, die mit einer kleinen Kapelle quasi Eigentumsrechte an der Rückseite des Heiligen Grabes haben, feiern an manchen Tagen ihre Gottesdienste zeitgleich mit uns Lateinern (diese Bezeichnung ist hier üblich für römisch-katholische Christen), wenngleich ihre Gottesdienste länger dauern. Ihr Gesang ist durchdringend und wirkt für das mitteleuropäische Ohr näselnd und klagend. Die Armenier dagegen, denen wir sonntags in größerer Zahl begegnen, pflegen einen sehr kräftigen liturgischen Männergesang mit einer leicht eingängigen Rhythmik. Erstaunlich ist, dass die Sonntagsmessen der Griechen manchmal von sehr wenigen Gläubigen besucht werden. Man könnte meinen, im Altarraum hinter der großen Ikonostase (unserem früheren Lettner vergleichbar) des Katholikons, dem zentralen Gottesdienstraum der Grabeskirche gegenüber dem Heiligen Grab, sind mehr Würdenträger beschäftigt, als sich Gläubige in der großen Kirche vor der Ikonenwand verlieren. Das Erkennungsmerkmal der Lateiner in der Grabeskirche ist ihre Orgel, deren Gebrauch uns von den anderen Konfessionen unterscheidet. Sie begleitet zum Beispiel die heilige Messe morgens am Heiligen Grab und den Gesang einiger Hymnen während der täglichen Prozession. Pater Armando, der Organist, gehört ebenso wie der Kantor Bruder Cristofero hier zu den tragenden Mitgestaltern der lateinischen Liturgie, und das nun schon seit über zwanzig Jahren.
Streithähne. Aus dem Nebeneinander der Konfessionen ergibt sich manchmal auch ein Gegeneinander. Der Mitte des 19. Jahrhunderts festgelegte Status Quo bewirkt aber, dass sich das Leben in der Grabeskirche mittlerweile recht friedlich gestaltet. Zwischenfälle wie der letzte größere vom September 2004, als es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, ergeben sich, wenn plötzlich eine Seite meint, die Festlegungen kurzfristig und einseitig außer Kraft setzen zu dürfen. Ich möchte dieses traurige Kapitel nicht vertiefen, nur die Lehre daraus unterstreichen: dass es nämlich hilfreich ist, sich allseits an die Übereinkunft zu halten.
Wir sind in unterschiedlichen Konfessionen aufeinander verwiesen und gemeinsam verpflichtet, dem Wunsch des Herrn, dass „alle eins sein sollen“ (Joh 17,21), nach Kräften zu entsprechen. Die Grabeskirche ist bis heute auch ein „Mahnmal“, dass die Erfüllung der Herrenbitte aussteht.
Der Status Quo, jenes Regelwerk, das den Ist-Zustand in der Grabeskirche zur Mitte des 19. Jahrhunderts für alle Beteiligten verpflichtend festgelegt hat, führt auch dazu, dass die liturgische Praxis der damaligen Zeit bis heute genauestens befolgt und gepflegt werden muss. Ich bin mir nicht sicher, ob wir sonst die tägliche Prozession noch hätten oder die Psalmen des Stundengebets in Latein rezitierten. Wir hätten vielleicht in gewissem Reformeifer manches verändert oder sogar abgeschafft. Nun aber „zwingt“ uns eine notwendige Übereinkunft, an Überliefertem festzuhalten. Und es ist bei allem Für und Wider ein faszinierender Gedanke, dass die Prozession durch die Grabeskirche jeden Tag, stellvertretend für die ganze Kirche, das Leiden und Sterben und die glorreiche Auferstehung unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus bedenkt und preist. In unserem Fürbittgebet kommen die Anliegen der Menschen mit großer Beständigkeit zu Wort. Dies bestätigen einige treue Mitbeter Tag für Tag. Für sie ist die Grabeskirche zu Jerusalem im Gegensatz zu manchem Kurzzeitbesucher mit Kamera, ein monumentum pietatis – ein Denkmal der Frömmigkeit, und damit von Bedeutung für ihr Leben als Kinder Gottes. Wer hier nicht sucht, Christus nahe zu sein, der wird allzu leicht dem fruchtlosen Ärger über altes Gemäuer und die vermeintlich ewige Streiterei der Christen untereinander verfallen.
Kirchen-Tourismus. Manche Touristen oder Pilger haben schließlich nur im Reiseführer gelesen, dass es wichtig sei, auch die Grabeskirche zu „besichtigen“, wenn man nun schon einmal in Jerusalem ist. So schreibt der von mir ansonsten sehr geschätzte ungarische Autor Sandor Marai in seinen „Bekenntnissen eines Bürgers“ (München 2004): „Ich (...) langweilte mich in Jerusalem (...), (...) leere Exotik, folkloristisches Rohmaterial, gefälliges Reisepaßklischee!“, womit er offensichtlich für viele Besucher Jerusalems steht. Zwei Inder fragen mich: „Please, can You tell us, what's important at this place?“ Es geschieht aber auch, dass eine Gruppe junger Leute, Christen und Juden bunt gemischt, echtes Interesse signalisieren, diesen Ort zu verstehen, zumal sie das erste Mal hier sind. Immerhin: man hört mir interessiert zu. Aber wie weit ist es noch vom Hören bis zum Glauben? Schon in der Bibel ist nachzulesen, weshalb die Christenheit gerade diesem Ort so herausragende Bedeutung beimisst. Ist es da verwunderlich, dass die verschiedensten christlichen Konfessionen sich alle hier sammeln?
Irgendwie hat es auch etwas Menschliches und Sympathisches, dass in unseren Heiligtümern keine selbsternannten Sittenwächter barsch jedem die Tür weisen, der eventuell eine kurze Hose oder ein luftiges Hemd an hat. Aber manche Besucher scheinen nur einen Blick für das bessere Foto- oder Filmmotiv zu haben, ungeachtet der Tatsachen, dass hier gerade eine Prozession unterwegs ist oder dort eine heilige Messe gefeiert wird. Und der gelegentliche Trubel in diesem verschachtelten Gebäude, die Führer mit ihren Gruppen, die Ordner, die Küster und so weiter: all das verleitet dazu, hier zunächst alles zu vermuten, nur keinen Ort der meditativen Sammlung und des Gebets.
Sehen und glauben. Papst Johannes Paul II. brachte es auf den Punkt, als er resümierte: „[Kalvaria und das Heilige Grab sind] der Ort der Erlösung! Zu sagen: 'Ich bin froh, dort gewesen zu sein', ist zu wenig. Es handelt sich um etwas Größeres: um das Zeichen des großen Leidens, um das Zeichen des heilbringenden Todes, um das Zeichen der Auferstehung.“ Den Pilgern zum Heiligen Grab wollen wir Franziskaner durch unser Leben und in unserem Dienst hier auch Mut machen, sich nicht beirren zu lassen. Eine Pilgerfahrt auf den Spuren unseres Herrn Jesus Christus ist sicher nicht nur ein unvergleichliches religiöses Erlebnis, sondern auch ein nicht zu unterschätzendes liebevolles Zeugnis in friedvergessener Zeit. So wünsche ich jedem Heilig-Grab-Pilger die sinnstiftende Erfahrung der allerersten Besucher. Von Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu, der mit Petrus erstaunt zum leeren Grab gekommen war, immerhin heißt es bei Joh 20, 8: „Er sah und glaubte.“
P. Robert Jauch
Unser Ordensvater Franz von Assisi besuchte in den Jahren 1219/1220 die Provinz des Heiligen Landes, die „Perle unserer Missionen“. Der Arme aus Assisi kommt zwar mit den Kreuzfahrern, aber in grundlegend friedliebender Absicht, und besuchte gar den Sultan Melek el-Kamil. Im Jahr 1263 bestand die neustrukturierte Provinz des Heiligen Landes aus Konventen in Jerusalem und in den Küstenstädten Akko, Antiochia, Sidon, Tripolis, Tyrus und Jaffa. Papst Clemens VI. bittet am 21. November 1342 in einer eigenen Urkunde die Franziskaner darum, für die Kirche die Stätten des Lebens und Wirkens Jesu zu hüten und zu betreuen.
Der Bruder Provinzial wird hier Kustos genannt, also Wächter des Heiligen Grabes und der Heiligen Stätten. Zuletzt wurde in dieses Amt der noch nicht 40jährige Italiener Pierbattista Pizzaballa OFM gewählt. Ihm stehen in der heutigen Kustodie (sie umfaßt Palästina, Israel, Libanon, Syrien, Jordanien, Ägypten, Kreta und Rhodos) knapp 300 Mitbrüder zur Seite. Zu betreuen sind insgesamt 50 heilige Stätten, 22 Pfarreien, 13 Schulen und Kollegien, vier Häuser für Kranke und Waise, fünf Pilgerheime, drei akademische Einrichtungen, ein ökumenisches Zentrum und ein Ausbildungshaus.
In dieser schweren Zeit geben die Franziskaner 1.300 Menschen Arbeit und Brot. Von den 500 Wohneinheiten für christliche Familien stehen die letzten 200 vor der Fertigstellung. 300 Studienstipendien für einheimische Studenten sollen helfen, die Christen an ihre Region zu binden und den Auswanderungstrend aufzuhalten. In Palästina/Israel ist der Anteil der Christen schon unter zwei Prozent der Gesamtbevölkerung gesunken, und andauernde Befriedung der Region ist nicht in Sicht.
1847 wurde durch das Lateinische Patriarchat wiedererrichtet, dem heute Erzbischof Michel Sabbah vorsteht, der aus Nazaret stammt.
Die Kollekte am Palmsonntag „Für das Heilige Grab“ ist die älteste päpstlich angeordnete und weltweit durchgeführte Kollekte der Kirche.
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