Leben mit dem Vergessen

01. November 2017 | von

Wer merkt, dass er allmählich vergesslich wird oder wer Angehörige hat, deren Gedächtnisleistung nachlässt, steht vor einer gewaltigen Herausforderung. Über die konkreten Alltagsnöte hinaus versucht unser Thema des Monats eine grundsätzliche Positionierung.

Dass Menschen im Alter vergesslicher werden, ist nicht ungewöhnlich. Auch wenn es immer wieder Gegenbeispiele gibt, haben wir uns doch daran gewöhnt, dass zum Älterwerden in der Regel ein gewisses Maß an Einschränkungen gehört. Seitdem aber Alois Alzheimer 1901 bei einer Patientin erstmals eine besondere Form des Vergessens und der Orientierungslosigkeit beschrieb, haben wir gelernt, dass es Vergessen auch als Symptom einer speziellen Erkrankung gibt. Diejenigen Krankheiten, die zu solch einem Vergessen führen, werden als Demenzerkrankungen bezeichnet. Die mit Abstand häufigste Form der Demenz ist die von Alzheimer beschriebene Erkrankung.

Unheilbar vergesslich

In der Erforschung der Alzheimerdemenz hat sich seitdem viel getan. Dennoch kann sie bis heute nicht geheilt werden. Wir wissen mittlerweile, dass die Alzheimerdemenz durch krankhafte Veränderungen im Gehirn verursacht wird, die wahrscheinlich schon Jahrzehnte vor den ersten Symptomen der Erkrankung beginnen. Wie genau dieser Prozess abläuft, was ihn verursacht und wie man ihn aufhalten oder verhindern kann, ist aber weitgehend unklar.

Offensichtlich ist hingegen, dass eine dementielle Erkrankung einen tiefen Einschnitt in das Leben sowohl des betroffenen Menschen als auch seines sozialen Umfelds bedeutet. Das, was die verschiedenen Demenzerkrankungen miteinander verbindet, ist darum nicht der medizinische Befund, sondern die Art und Weise, wie sie sich auf das Leben der Betroffenen auswirken. Demenzerkrankungen führen dazu, dass die betroffenen Menschen sich im alltäglichen Leben immer weniger orientieren können. Der Titel eines Textes der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Diakonie Deutschland aus dem Jahr 2015 bringt das gut auf den Punkt: „Wenn die alte Welt verlernt wird“. Menschen mit dementiellen Erkrankungen verlernen, sich in der Welt zu orientieren. In Folge dessen werden Menschen im fortgeschrittenen Demenzstadium unselbständiger, sie werden unzurechnungsfähig und in ihrer Lebensführung zunehmend abhängig von anderen Menschen, die sich um sie kümmern müssen.

 

Einbeziehen statt Ausgrenzen

Man sollte angesichts dessen aber im Blick behalten, dass gerade Menschen im frühen Stadium einer dementiellen Erkrankung noch zu einer weitgehend eigenständigen Lebensführung in der Lage sind. Darum ist es wichtig, dass wir diese sowohl in der persönlichen Begegnung als auch in der gesellschaftlichen Diskussion als autonome Persönlichkeiten wahrnehmen und ansprechen. Wenn z. B. in der Anwesenheit eines an Demenz erkrankten Menschen nur über diesen und nicht mit diesem geredet wird – wie es der Psychologe und Alzheimer-Aktivist Richard Taylor berichtet – dann degradieren wir diesen Menschen zu einem Objekt und missachten seine Personalität und Würde. Dem entspricht auf gesellschaftlicher Ebene die Tatsache, dass es nach wie vor nicht selbstverständlich ist, dass Menschen mit dementiellen Erkrankungen als aktive Teilnehmer in die (gesundheits-)politischen Diskussionen über den Umgang mit Demenz einbezogen werden. Das Recht, in diesen Diskussionen gehört zu werden, mussten sie sich vielfach erst erkämpfen.

So zeigt sich in unserem gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Demenz ein problematisches Verständnis des Personseins von Menschen: Personalität wird an den kognitiven Fähigkeiten des Menschen festgemacht. Das hat aber in ethischer Hinsicht problematische Folgen.

 

Die Würde von Menschen mit Demenz

Denn wenn wir Menschen mit Demenz schon rein praktisch den Personenstatus verweigern, verweigern wir ihnen implizit auch den grundlegenden moralischen Schutzstatus der Menschenwürde. Dabei ist es wichtig, die Rede von der Menschenwürde von der umgangssprachlichen Rede von der Würde zu unterscheiden. Umgangssprachlich bezieht sich das Wort Würde v.a. auf soziale Anerkennung. Man kann auch von einer Statuswürde reden. Diese Art von Würde ist v. a. eine Aufgabe für den Menschen, der er gerecht zu werden hat, und die er darum auch verlieren kann. Würdig ist in diesem Sinne nur, wer sein Leben auch würdig führen kann. In diesem Sinne reden wir umgangssprachlich auch von der Würdelosigkeit eines Lebenszustandes, wie z.B. einer schweren Erkrankung. Was in diesem Sinne würdig ist und was nicht, ist in hohem Maße vom subjektiven Erleben abhängig.

Eine andere Art von Würde ist aber gemeint, wenn wir von der Menschenwürde reden, wie sie in Artikel 1 des Grundgesetzes verankert ist. Diese Art der Würde können wir als Menschen nicht verlieren, denn sie ist der Grund dafür, dass wir jedem Menschen moralische Achtung schulden. Sie ist nicht abhängig von irgendeiner Eigenschaft. Die Menschenwürde bezeichnet man in Philosophie und Theologie auch als eine kategorische Würde. Jeder Mensch hat allein dadurch, dass er Mensch ist, eine unverlierbare Würde, die alle anderen Menschen verpflichtet, ihn mit Respekt zu behandeln. Von Würde in diesem Sinne zu reden, bedeutet, dass wir einander als Menschen in besonderer Weise moralisch verpflichtet sind.

 

Mensch als Ebenbild Gottes

Diese Menschenwürde wurde insbesondere durch die Philosophie der Aufklärung betont. Bis heute gilt darum Immanuel Kants Rede davon, dass man einen Menschen niemals bloß als Mittel zum Zweck gebrauchen soll, sondern ihn immer als Zweck an sich behandeln muss, als eine maßgebliche Interpretation der Menschenwürde. In der Theologie wurde die Menschenwürde in der Neuzeit als die dem Menschen von Gott verliehene Würde interpretiert: Alle Menschen sind vor Gott gleichermaßen als Ebenbilder Gottes geschaffen. Das macht ihre besondere Würde aus und begründet, warum wir einander als Menschen in besonderer Weise moralische Achtung schuldig sind. Theologisch gründet die Würde des Menschen also in der Beziehung Gottes zum Menschen und nicht in einer Eigenschaft des Menschen, die dieser verlieren könnte. Darum kann diese Würde auch nicht verloren gehen, wenn z.B. die kognitiven Fähigkeiten (z.B. durch eine Demenzerkrankung) schwinden. Vielmehr verpflichtet uns die Würde eines jeden Menschen dazu, dass wir in besonderer Weise für diejenigen da sind, die krank sind und leiden.

 

Personale Identität und Demenz

Wenn wir sagen, dass wir auch Menschen mit Demenz Menschenwürde zuerkennen, dann sind wir verpflichtet, sie als Personen zu behandeln. Aber ist ein Mensch, der eine dementielle Erkrankung hat, noch dieselbe Person, die er früher einmal war? Die Angst, dass mit der Demenz das eigene „Ich“ brüchig wird, beschäftigt viele Menschen und ist besonders in der medialen Darstellung der Demenz präsent. Dabei muss man allerdings die unterschiedlichen Perspektiven beachten: Menschen, die selbst an Demenz erkrankt sind, beschäftigt die Frage, wenn überhaupt, nur zu Beginn der Erkrankung. Vielmehr stellt sich diese Frage v. a. aus der Außenperspektive derer, die nicht an Demenz erkrankt sind. So gibt es die Angst, dass man im Zuge einer möglicherweise irgendwann einmal einsetzenden Demenzerkrankung seine eigene Identität verlieren könnte. Diese Angst beruht dabei häufig auf dem Erleben des Prozesses dementieller Erkrankungen von Angehörigen. Ihr fortschreitender Verlust kognitiver Fähigkeiten wird dann als Verlust der personalen Identität gedeutet. Das schließt auch ein, dass diese Personen weitgehend als nicht mehr selbstbestimmungsfähig behandelt werden. Das aber ist eine durchaus problematische und ethisch bedenkliche Deutung. 

Dieser Deutung liegt nämlich die offensichtlich verbreitete Vorstellung zu Grunde, dass die Identität einer Person an ihren kognitiven Fähigkeiten hängt. Es war der englische Aufklärungsphilosoph John Locke, der diese Theorie der im Gedächtnis begründeten personalen Identität erstmals formulierte. Allerdings wussten schon Lockes Zeitgenossen eine Reihe von Einwänden gegen diese Theorie zu formulieren, die bis heute nichts an ihrer Gültigkeit verloren haben: Wir erinnern uns an die meisten Begebenheiten unserer frühen Kindheit nicht mehr und gehen doch davon aus, dass wir dieselbe Person sind, die wir als Kind waren (auch wenn wir uns natürlich verändert haben). Und selbst dann, wenn unser Bewusstsein und damit auch das Gedächtnis ausgeschaltet sind, z. B. im Schlaf oder in der Bewusstlosigkeit, gehen wir noch davon aus, dass wir dieselbe Person sind.

 

Identität im Fluss

Gegenüber dem auf das Gedächtnis enggeführten Verständnis von personaler Identität ist es wichtig zu betonen, dass wir uns unsere Identität nicht nur selbst zuschreiben, sondern dass unsere Identität auch wesentlich davon abhängt, ob und wie andere uns als dieselben wiedererkennen. Die Identität einer Person hat ihren Ort in den Beziehungen, in denen einen Mensch lebt: Es gehört dazu immer beides – die eigene Wahrnehmung meiner Identität (Wer bin ich?) und die Wahrnehmung meiner Identität durch andere (Wer bin ich in den Augen der anderen?). Während sich durch die Demenzerkrankung die eigene Identitätswahrnehmung verändert, gibt es für die Menschen, die einen in dieser Zeit begleiten, dennoch genug Hinweise auf die bleibende Identität des erkrankten Angehörigen: Der Mensch mit Demenz bleibt körperlich weitgehend derselbe. Das heißt, wer ich bin, hat viel mit meiner leiblichen Identität zu tun. Andererseits verändert sich das körperliche Aussehen eines Menschen in der Zeit, wie sich auch unsere Persönlichkeit insgesamt mit der Zeit verändert. Wenn wir die Identität einer Person über die Zeit hinweg zur Sprache bringen wollen, dann bleibt uns dafür nur die Möglichkeit zu erzählen, wie eine Person sich verändert hat. Es gibt auch für einen Menschen mit Demenz Erzählungen, die nachvollziehbar machen, wie aus dem einst gesunden Menschen ein kranker wurde. In solchen Erzählungen kommt die bleibende Identität der Person, die sich ihrer selbst nicht mehr erinnern kann, mit all ihren Wandlungen zur Sprache.

Wer wir als Personen sind und dass wir als Personen über die Zeit hinweg dieselben sind, hängt also nicht in erster Linie an unserem Gedächtnis, sondern es hat sowohl mit der leiblichen Identität wie auch mit Erzählungen zu tun, in denen Identität hergestellt wird. Die Identität einer Person ist darum immer auch strittig und angreifbar: Denn welche Erzählung die wahre Identität einer Person wiedergibt, lässt sich nicht von einem objektiven Standpunkt aus entscheiden. Theologisch entspricht dem die Überzeugung, dass sich unsere wahre Identität weder uns selbst noch anderen Menschen, sondern allein Gott erschließt. Dietrich Bonhoeffer hat das mit dem Ende seines bekannten Gedichts „Wer bin ich?“ prägnant zum Ausdruck gebracht: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. / Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“

 

Erzählungen als Schlüsselbegriff

Die Dramatik der dementiellen Erkrankung liegt nun darin, dass die Ich-Erzählungen einer Person nach und nach verstummen, weil diese Person sich immer weniger selbst erinnert und damit immer weniger über ihr eigenes Leben erzählen kann. Damit verschwindet aber nicht die Identität oder die Person – es verschwindet nicht das „Ich“ der Person –, sondern es verschwindet die Fähigkeit, sich seiner eigenen personalen Identität zu vergewissern. Die Fähigkeit, Emotionen zu empfinden und auszudrücken, bleibt hingegen noch bis ins letzte Stadium der Demenz erhalten. Ausdrucksformen, die dem emotionalen Erleben eines Menschen besonders nahe sind, wie z.B. körperliche Ausdrucksformen, Gesang oder auch Gedichte, erlauben deswegen in besonderer Weise Menschen auch bei fortgeschrittener Demenz als aktive Partner in die Kommunikation mit einzubeziehen.

Weil Menschen mit fortgeschrittener Demenz aber selber immer weniger erzählen können, wer sie sind, wird das Erzählen der Menschen, die diese demente Person begleiten, immer wichtiger. In der Begleitung und Betreuung von Menschen in einem fortgeschrittenen Stadium der Demenz geht es auch um die Auseinandersetzung mit der Identität der Person und das heißt, es geht um die Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte der betroffenen Person. Dabei sollte die betroffene Person so lange wie möglich in unterschiedlicher Art und Weise aktiv mit einbezogen werden. Die personale Identität eines an Demenz erkrankten Menschen wird zunehmend durch die Erzählungen anderer bewahrt und zwar beruhend auf dem kollektiven Gedächtnis der Gruppe der Menschen, die diese Person kannten und kennen. Die Demenz eines Menschen drängt darum die anderen ins Erzählen.

 

FAZIT:
1. Menschen mit Demenz sind Menschen mit einer Würde, die wir zu achten haben. Wir müssen sie gerade angesichts ihrer Verletzlichkeit und Abhängigkeit als Personen achten.
2. Das schließt ein, dass wir Menschen mit Demenz so weit wie möglich als aktive Partner ansehen sollten: Sie sind nicht nur Gegenstand möglicher Fürsorge, sondern sie sind Persönlichkeiten, deren Individualität wir achten müssen. Das heißt, in der Betreuung und Begleitung von Menschen mit Demenz geht es v. a. darum, die Selbstbestimmung der erkrankten Personen zu stärken bzw. zu ermöglichen. Das hat in dieser Form auch der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme 2012 gefordert.
3. Durch eine Demenzerkrankung verliert ein Mensch nicht seine personale Identität, er verliert nicht sein „Ich“, auch wenn er sich in seinem Verhalten sehr verändern kann und auch wenn er die Fähigkeit, seine eigene Geschichte zu erzählen, verliert. Umso wichtiger wird es, dass er von Menschen begleitet wird, die sich gemeinsam mit dem Betroffenen mit seiner Lebensgeschichte aus-einandersetzen und seine Geschichte immer wieder neu erzählen.

 

Unsere Autoren:

Pastor Dr. theol. Michael Coors und Dr. med. Andrea Dörries arbeiten als Theologischer Referent bzw. Direktorin am Zentrum für Gesundheitsethik in Hannover, einem Dienstleistungs- und Forschungsinstitut der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. Der hier veröffentlichte Artikel entstand für die „Woche für das Leben“, eine Initiative der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland.

Zuletzt aktualisiert: 01. November 2017
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