Lehrmeister der Herzensetikette
Selten wurde ein Autor so missverstanden: Als Adolph Freiherr von Knigge 1788 sein Buch Über den Umgang mit Menschen veröffentlichte, ging es ihm nicht um Etikette. Daher konnte er auch nicht ahnen, dass sein Name zum Gattungsbegriff für eine Flut von Benimm-Büchern werden würde. Nichts lag ihm ferner, als etwa Regeln über den einwandfreien Umgang mit Messer und Gabeln zu verbreiten. Wenn heute Jungmanager so genannte Knigge-Kurse belegen, um durch gutes Benehmen in der Gesellschaft ihre Karriere zu beschleunigen, sind sie weit von der Geisteshaltung jenes Landadeligen entfernt, der vor 250 Jahren, am 16. Oktober 1752, in Bredenbeck bei Hannover geboren wurde.
Achtung des Anderen. Der engagierte Verfechter der Aufklärung, der sich selbst gern als den freien Herrn Knigge bezeichnete, hatte nie platten Pragmatismus im Sinn, sondern eine neue Form der Sozialethik. Er plädierte für ein respektvolles Miteinander, gab Anleitungen, wie man das Zusammenleben mit Menschen aller gesellschaftlichen Klassen, unterschiedlicher Bildung und unterschiedlicher Temperamente positiv gestaltet.
Ein Jahr vor der französischen Revolution mit ihren vehement propagierten Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, trat Knigge recht republikanisch für Menschenrechte und Menschenwürde ein. Mit deutlichen Absagen an eine sinnentleerte höfische Etikette wollte er das humanistische Bildungsideal im Bewusstsein der Bürger verankern. Wie der Tübinger Rhetorikprofessor Gert Ueding im Nachwort der von ihm herausgegebenen Insel-Taschenbuch-Ausgabe anmerkt, hat Knigges Über den Umgang mit Menschen das Ziel, durch Konstruktion eines normativen Idealtyps die sittliche Vervollkommnung des Bürgers zum wahrhaft vorbildlichen Menschen zu fördern.
Moralisches Regelwerk. So geht Knigge weit darüber hinaus, die Kunst des Umgangs mit Menschen aller Klassen zu lehren. Zwar gibt er durchaus konkrete Hinweise für den Umgang mit Fürsten, Hofleuten, Juristen, Geistlichen, Gelehrten oder Künstlern, mit allerlei bürgerlichen Ständen, Gewerbetreibenden und mit Verwandten. Er lässt nicht einmal das Klischee von der bösen Schwiegermutter aus und rät, wie man sich zum Besten des Familienfriedens ihrer Einmischung nachdrücklich entzieht: Solltest Du .... zum Unglück .... ein solches satanisches Hausgerät mit erheiratet haben, so ergreife die erste Gelegenheit, da sie sich in Deine Hausvatersangelegenheiten mischen will, um ihre freundlichen, frommen Dienste auf eine solche Art zu verbitten, dass sie Dir so bald nicht wiederkomme. Auch wenn er empfiehlt, die Gemüthsarten der Menschen (zu) studieren, insofern man im Umgange auf sie wirken will – seine Regeln werden immer wieder auf ihren ethischen Wert hinterfragt.
Schändliche Schmeichler. Knigge rät zum Thema, wie man sich bei anderen beliebt macht, durchaus zu wohldosierter Schmeichelei, aber untersagt zu lügen. Er glaubte nämlich, dass jeder Mensch doch wenigstens eine gute Seite hat, die man loben darf. Doch warnt er deutlich vor Übertreibung: Das schändlichste Handwerk aber treiben die niedrigen Schmeichler, die durch unaufhörliches Weihrauchstreuen eiteln Leuten den Kopf so einnehmen, dass diese zuletzt nichts anderes mehr hören mögen als Lob, dass ihre Ohren für die Stimme der Wahrheit verschlossen sind und dass sie jeden guten, geraden Mann fliehen und zurücksetzen, der sich nicht so weit erniedrigen kann oder es für eine Art von Unbescheidenheit und Grobheit hält, ihnen dergleichen Süßigkeiten ins Gesicht zu werfen.
Stähle Dein Herz! Im Umgang mit Menschen empfiehlt er generell, sich möglichst jeder Situation anzupassen, die verbale Auseinandersetzung nicht unbedingt zu suchen und in kritischen Momenten ruhig einmal den Mund zu halten. Auch wenn man selbst unter Krankheit, Not, widrigem Geschick oder bösen Menschen zu leiden habe, sei es – so Knigge - ratsam zu schweigen: Verschließe Dich in Dein Kämmerlein, wenn das Herz zu schwer wird. Dort erleichtere Dich durch Tränen oder Gebet. Stärke und stähle Dein Herz durch Philosophie, durch Zuversicht auf Gott, durch Hoffnung und weise Entschließungen, und dann tritt hervor mit heitrer Stirne und sei der Tröster des Schwächern!
Denn für ihn ist nichts nützlich, was nicht zugleich edel ist. In der Vorrede zur dritten Auflage seines Buches erklärte er: Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind. Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zugrunde liegen. Knigges Umgang mit Menschen enthält – anders als die Ratgeber aus den Federn seiner zahllosen Nachfolger - keine zweckgebundenen Verhaltensregeln, sondern Maximen einer Sozialethik. Bezeichnenderweise lautet eine seiner Grundregeln: Habe immer ein gutes Gewissen!
Kein süßes Leben. Dass Knigge selbst genau diesen Grundsatz mit seiner Idealvorstellung, sich und anderen das Leben süß und angenehm zu machen nicht konfliktfrei vereinbaren konnte, beweist sein Schicksal. Als einziger Sohn des Oberhauptmanns, Hofgerichtsrats und Deputierten der Calenbergschen Ritterschaft Philipp Karl Freiherr von Knigge war er kavaliersgemäß erzogen worden. Nach dem frühen Tod seiner Eltern – seine Mutter starb 1763, der Vater 1766 - blieb er nahezu mittellos zurück. Die verschuldeten Güter waren in die Hände von Gläubigern übergegangen, die ihm nur wenig Geld zukommen ließen. Als Jurastudent in Göttingen erhielt er jährlich knappe 650 Taler. Durch Vermittlung von Verwandten bekam er eine Ernennung zum Hofjunker und Kameraassessor beim Landgrafen Friedrich von Kassel. Dies hätte der Beginn einer erfolgreichen Karriere sein können, doch kam es schon bald zu Konflikten.
Aufrechter Außenseiter. Seine in der Studienzeit erfolgte Annäherung an die Ideale des Hainbundes, seine Rousseau-Begeisterung und seine Vorliebe für seelenvolle englische Literatur brachten ihn in Widerspruch zum Alltag bei Hofe. Sein Charakter und sein Temperament unterschieden ihn von den anderen Beamten, da Knigge von seinen bürgerlichen Lehrmeistern gelernt hatte, das höfische Maskenspiel zu verachten. Wie er selbst später im Buch meines Lebens zugab, ließen ihn sein von der Aufklärung geprägtes Denken, seine Abscheu gegen jede Form von Heuchelei und sein moralischer Enthusiasmus immer wieder mit seinen Standesgenossen aneinander geraten.
Ruhiges Glück. 1773 heiratete er Henriette von Baumbach, eine Hofdame der Landgräfin. Seine Tochter schilderte in ihrer Kurzen Biographie des Freiherrn von Knigge diese Phase seines Lebens positiv: Nun schien Knigge die eigentliche Bestimmung seines Lebens erreicht zu haben; die stürmische Sehnsucht seines unruhigen Herzens war gestillt und es ging ihm ein neues Leben auf in dem kleinen häuslichen Kreise, dessen ruhiges Glück die Geburt einer Tochter noch erhöhte.
Knigge versuchte, die Familie von seiner Schriftstellerei zu ernähren. Außer Romanen, Erzählungen, Adelssatiren, Dramen und seinem lebenspädagogischen Buch Über den Umgang mit Menschen veröffentlichte er 1781-83 den vierbändigen autobiografischen Roman meines Lebens. Für Friedrich Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek betätigte er sich als Literaturkritiker und schrieb mehr als 1200 anonyme Rezensionen. Überdies komponierte er und kümmerte sich als Lehrer nicht nur um die Erziehung seiner Tochter, sondern zusätzlich um aufgenommene Zöglinge.
Aufgerieben. Zeitlebens war er bemüht, das hoch verschuldete Gut des Vaters abzubezahlen und für die Familie zurück zu gewinnen, doch es gelang ihm nicht. Auch als Schriftsteller errang er nicht den gewünschten Erfolg: Seine Bücher wurden zwar gelesen, aber die großen Heroen der Dichtkunst – Goethe, Schiller, Lessing – nahmen von ihm kaum Notiz. Und die Obrigkeit sah in dem Publizisten der Aufklärung immer wieder einen Unruhestifter.
1790 wurde Knigge zum Oberhauptmann in Bremen ernannt, wo er den hannoverschen Besitz verwaltete und nebenbei ein Theater gründete. Durch rastlose Anstrengungen und erfolglose Arbeit krank und erschöpft, starb er am 6. Mai 1796. Seine letzte Ruhestätte fand Adolph Freiherr von Knigge im Dom zu Bremen. Nach seinem Tod spiegelte sich in den Nachrufen der Streit um seine Person: Die Thoren und Narren in Deutschland feyern ein Freudenfest, und die Klugen und Rechtschaffenen trauern, resümierte der Jakobiner Andreas Georg Friedrich Rebmann.
Höflichkeit des Herzens. Heute scheint - in Knigges Namen - der gute Ton wieder gern gehört zu werden. Der wirkt allerdings in unseren Tagen oft weit davon entfernt, die Schwingungen jener inneren Instanz mitzuliefern, die dem freien Herrn Knigge im 18. Jahrhundert so wichtig war. Die Höflichkeit des Herzens, die jedem Menschen - gleich welchen Standes, welchen Charakters, welcher Bildung – Respekt erweist und seine Würde achtet, scheint rar geworden.