Lernaufgabe Mitgefühl

26. Mai 2009 | von

„Compassion – Menschsein für andere", so der Titel eines Sozialprojektes, das 1993 von der Deutschen Bischofskonferenz für Schülerinnen und Schüler der 11. und 12. Klassen entwickelt wurde. Die Teilnehmer machen ein zweiwöchiges Praktikum in Altenzentren, Kindergärten und anderen sozialen Einrichtungen, um sich in Solidarität und mitmenschliches Handeln einzuüben. Was sie in dieser Zeit erleben, wird im Unterricht reflektiert – und von den meisten als Gewinn fürs Leben empfunden.



 „Zu den Steinen hat einer gesagt: ‚Seid menschlich.’ Die Steine haben geantwortet: ‚Wir sind noch nicht hart genug.’" Diese Zeilen stammen von dem Schriftsteller Erich Fried, der in seinen Gedichten unsere Welt in wenigen Worten charakterisieren konnte. Seine Erfahrungen als Jude im Dritten Reich haben sicher mit dazu beigetragen, die Härte und die Grausamkeit in den menschlichen Beziehungen so deutlich zu benennen. Die Willkür- und Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten liegt inzwischen mehr als 60 Jahre hinter uns. Die Bundesrepublik Deutschland feiert in diesem Jahr ihr 60-jähriges Bestehen.

In vielen Rückblicken werden stolz die Leistungen der sozialen Marktwirtschaft hervorgehoben. Doch es lässt sich nicht leugnen, dass in den letzten Jahren das Miteinander rauer geworden ist.

Der Sozialforscher Richard Sennett beschreibt in seiner Studie „Der flexible Mensch" (Berlin 2000) das problematische Idealbild eines Menschen, der sich den Marktgesetzen der Wirtschaft angepasst hat. Sein Credo lautet: „Bleib’ in Bewegung. Geh’ keine Beziehungen ein und bring’ keine Opfer." Die Folgen einer solchen Flexibilität sind allerorten sichtbar. Die traditionellen Solidaritätsbündnisse wie Familie, Nachbarschaft, Vereine und Kirchengemeinden lösen sich langsam auf.

Für die Altersgruppe der Jugendlichen hat dies die 14. Jugendstudie des Mineralölkonzerns Shell aus dem Jahr 2002 in die Überschrift „Aufstieg statt Ausstieg" gefasst und den Begriff des „Egotaktikers" geschaffen. Damit beschreiben die Autoren das Verhalten eines Menschen, der zunächst einmal auf sich selbst schaut. Er ist durchaus auch bereit, Menschen in Not zu helfen, wenn er selbst „etwas" davon hat, sei es, dass es ihm Freude macht oder er sich eine spätere Gegenleistung erwartet. „Leistungs-, macht- und anpassungsbezogene Wertorientierungen nehmen zu, engagementbezogene (ökologisch, sozial und politisch) ab", lautet eine weitere Feststellung dieser Jugendstudie (S. 162).



Projekt „Compassion"



Auf die Zunahme egozentrischer Orientierungen und das Schwinden von solidarischem Verhalten seit Beginn der 90er Jahre reagierte die Arbeitsgruppe „Innovation" der Deutschen Bischofskonferenz mit einer Initiative. Sie wählten für ihr Projekt das englische Wort „Compassion", um das leicht missverständliche Wort „Mitleid" beziehungsweise den eher politisch besetzten Begriff „Solidarität" zu vermeiden. Ihr Anliegen war es, dass junge Menschen eine Haltung der Mitmenschlichkeit aufbauen lernen, aus der heraus sie sich anderen zuwenden und ihnen helfen. Da die bisherigen Lernorte von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft wie Familie, Vereine und Kirchen ihren Einfluss verlieren, suchten die Mitglieder der Arbeitsgruppe nach einer neuen Verortung für dieses Projekt sozialen Lernens. Sie sahen die Schulen als einen geeigneten Ort an, da diese wie keine andere gesellschaftliche Institution die Jugendlichen über viele Jahre hinweg prägen.

Diese neue und zusätzliche Aufgabe für die Schulen liegt aber ganz auf der Linie ihres umfassenden Erziehungsauftrages. „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden", heißt es zum Beispiel im Artikel 131 der Bayerischen Verfassung. Eine erste Aufgabe im Rahmen des Compassion-Projektes besteht darin, die Jugendlichen mit Menschen in Kontakt zu bringen, denen sie in ihrem Alltag kaum begegnen: alten Menschen, Behinderten, Kindern, Kranken, Flüchtlingen, armen Menschen und anderen. Ein erster Lerneffekt liegt darin, dass die jungen Menschen entdecken, dass diese Menschen, die sie bisher nicht wahrnahmen, Menschen sind wie sie.

Eine Schülerin schreibt: „Die Aufregung war groß, als ich das erste Mal als Praktikantin in den Kindergarten ging. Ich überlegte mir, wie mich die Kleinen wohl aufnehmen würden. Doch die Kinder waren supernett zu mir. Sie malten mir Bilder und wollten viele Spiele mit mir spielen. Auch der Faschingsball fiel in meine Zeit als Praktikantin. Ich war richtig traurig, als ich das letzte Mal in den Kindergarten durfte." Ihre Zeilen lassen die Begegnungen spüren, die sie in diesem Praktikum erleben konnte. Und es wird ebenso deutlich, dass diese Begegnungen keine Einbahnstraßen waren, sondern Kinder und Schülerin sich gegenseitig beschenken konnten.



Bereicherung für beide Seiten



Eine andere Schülerin schreibt über ihre Erfahrungen in einem Altenheim: „Es gab zwar einige recht selbständige und noch rüstige ältere Damen und Herren, die meisten Bewohner litten aber an Demenz in sehr unterschiedlichen Stadien. Manche Bewohner waren zum Beispiel völlig orientierungslos und drängten auf ihre baldige ‚Entlassung’. Einige Bewohner waren depressiv und zogen sich eher zurück, andere verhielten sich vertrauensvoll und aufgeschlossen." Neben einer differenzierteren Sicht auf die betroffenen Menschen lernen die Jugendlichen, dass ganz einfache Tätigkeiten Freude vermitteln. „Zum Beispiel erfreute sich das Vorlesen der Zeitung auf der ersten Etage großer Beliebtheit, während die zweite Etage eher das Singen von Volksliedern und leichte Gymnastikübungen bevorzugte." Weitere Tätigkeiten im Rahmen des Projektes an Altenheimen sind zum Beispiel Bastelgruppen, Kreuzworträtselturniere und Spaziergänge. Die Sozialpraktika werden auf unterschiedliche Weise durchgeführt. Zum einen geschieht dies in Form von Blockpraktika, das heißt die Jugendlichen leisten für eine oder zwei Wochen anstelle des Schulunterrichts Dienst in einer sozialen Einrichtung. Diese Weise wird vor allem von den Schulen gewählt, die alle Schüler zur Teilnahme verpflichten.

An der Maria-Ward-Realschule in Mindelheim, an der ich unterrichte, ist die Teilnahme am Compassion-Projekt freiwillig. Deswegen umfasst die „Dienstzeit" zwei Stunden an einem Nachmittag pro Woche. Da sich die Schülerinnen zu diesem Dienst für circa drei Monate verpflichten, üben sie gleichzeitig Verbindlichkeit ein. Auch in einer Stadt mit 14.000 Einwohnern finden sie verschiedenste Einrichtungen vor, so drei Kindergärten, zwei Alten- und Pflegezentren, zwei Wohngruppen für Schwerbehinderte, Werkstätten der Lebenshilfe für leichter Behinderte, die „Mindelheimer Tafel" und der Second-Hand-Shop „Klamotte" für bedürftige Menschen. Rund 15 bis 20 Prozent der Schülerinnen der 9. Jahrgangsstufe beteiligten sich in den vergangenen Jahren an den Sozialpraktika.



Neue Erfahrung Empathie



Im Compassion-Projekt geht es aber nicht nur darum, dass Jugendliche neue soziale Erfahrungen machen, sondern auch um das Nachdenken und Beurteilen der gemachten Erlebnisse. Die Begleitung dieses Reflexionsprozesses im Unterricht ist der zweite wichtige Teil. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass Schüler ihre Erfahrungen in Unterrichtseinheiten einbringen, zumeist in den Fächern Deutsch, Religion oder Sozialkunde. Zum anderen sollen besondere Veranstaltungen zu Beginn und vor allem nach Abschluss des Praktikums die Jugendlichen in ihrem Auswertungsprozess begleiten. Sie werden angeleitet, ihre Erlebnisse zu bedenken, schwierige, aber auch schöne Erfahrungen aufzuschreiben, ihren Umgang mit den Menschen in der Einrichtung zu bedenken, vor allem aber das schätzen zu lernen, was sie über sich selbst neu erfahren haben.

Eine Schülerin hielt für sich fest: „Ich weiß nicht genau, ob es Mitleid ist, was sich im Laufe meines Sozialpraktikums entwickelt hat. Ich glaube, es ist mehr Aufmerksamkeit dafür, wie es anderen geht." Solche sozialen Lernerfolge sind gerade in Zeiten der einseitig kognitiv orientierten PISA-Tests von allergrößter Wichtigkeit.

Die Compassion-Initiative der Deutschen Bischofskonferenz besteht nun circa 15 Jahre. Sie ist ein Markenzeichen kirchlicher Schulen geworden, wird aber zunehmend auch von den staatlichen Schulen aufgegriffen. Für die Katholischen Schulen gilt, dass mehr als die Hälfte der Gymnasien, etwa jede dritte Realschule beziehungsweise jede vierte Berufsbildende Schule begleitete Sozialpraktika durchführt.

Ein weiterer Aspekt dieser Sozialpraktika ist ebenfalls nicht zu unterschätzen. Die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler üben sich in einen Grundvollzug christlichen Lebens ein, die Diakonie. Damit wird ein zentrales Anliegen der biblischen Botschaft aufgegriffen.

Denn unsolidarische und egoistische Verhaltensweisen sind keine modernen Erfahrungen. Sie lassen sich schon in den alten Kulturen des Orients und auch in der Bibel nachweisen.



Zeugnis des Lebens



Der Prophet Amos schreit im 8. Jahrhundert vor Christus den Bewohnern des Nordreichs Israel entgegen: „Ihr sagt: ‚Wir wollen das Maß kleiner und den Preis größer machen und die Gewichte fälschen. Wir wollen mit Geld die Hilflosen kaufen, für ein paar Sandalen die Armen. Sogar den Abfall des Getreides machen wir zu Geld.’" (Amos 8,5-6) Im Namen Jahwes fordert dieser Prophet eine Umkehr zu den Weisungen Gottes, zu Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Barmherzigkeit.

Dem Mose hatte sich Jahwe, der Gott Israels, auf dem Berg Sinai offenbart: „Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue" (Ex 34,6). Diesen treuen und barmherzigen Gott verkündete Jesus in Gleichnissen und Wundertaten. In seinem Wirken erfuhren die Menschen „die Güte und Menschenliebe Gottes" (Tit 3,4). Doch Jesus machte in seiner Verkündigung auch deutlich: Wer Gottes Barmherzigkeit erfahren hat, der muss auch selbst anderen Barmherzigkeit schenken. „Hättest nicht auch du mit jenem Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte", wird der unbarmherzige Gläubiger gefragt (Mt 18,33) und wegen seiner Hartherzigkeit verurteilt.

Mit der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter

(Lk 10,25-37) fordert Jesus seine Zuhörer auf, den Glauben in Taten der Liebe zu bezeugen: „Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am anderen Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme" (Lk 10,33-35). Der Samariter wird zum Vorbild für die Jünger, denn er verwirklicht die Aufforderung Jesu: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist" (Lk 6,36)!

In der Weltgerichtsrede (Mt 25) macht Jesus noch einmal eindringlich deutlich, dass sich unser zukünftiges Schicksal an unserem Verhalten gegenüber den geringsten Brüdern und Schwestern entscheidet. Aus diesem Text hat die christliche Überlieferung die Werke der leiblichen Barmherzigkeit (Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke besuchen, Gefangene besuchen, Tote bestatten) abgeleitet, die später um die geistigen Werke der Barmherzigkeit (Unwissende lehren, Zweifelnde beraten, Trauernde trösten, Sünder zurechtweisen, Beleidigern verzeihen, Lästige ertragen, für Lebende und Verstorbene beten) ergänzt wurden.



Kultur der Achtsamkeit



Wenn Jugendliche in Altenzentren und Krankenhäusern, in Kindergärten und Behinderteneinrichtungen, in der Kleiderkis-te oder der „Tafel" Dienst tun, können sie sich ganz konkret in den Dienst der Barmherzigkeit einüben.

Auf die Initiative „Compassion-Projekt" dürfen die Katholischen Schulen stolz sein und auf weitere positive Auswirkungen hoffen. Denn die Sensibilisierung für soziale Notstände außerhalb der Schule kann dazu beitragen, auch die Nöte innerhalb einer Schule stärker wahrzunehmen. Diese Hoffnung äußerte Paderborns Erzbischof Hans-Josef Becker auf dem Kongress Katholischer Schulen 2008 in Essen: „Wenn wir über die Aufmerksamkeit für Benachteiligte an unseren Schulen sprechen, dann sollten wir auch die Wirkung unserer Compassion-Projekte nicht unterschätzen, die ja inzwischen zum Standardprogramm einer Vielzahl von Katholischen Schulen gehören. Die Sensibilisierung für das Leid, die Not und die Bedürftigkeit anderer Menschen, die durch diese Sozialpraktika und ihre unterrichtsübergreifende schulische Begleitung erreicht wird, bleibt nicht ohne Wirkung auf das Klima an der Schule und den Umgang miteinander. Vielmehr gibt es hier wechselseitige Effekte einer positiven Verstärkung."



 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016