Lieber Bruder Antoniu (5)
Lieber Bruder Antonius!
Du wirst Minderbruder... unter dieser Überschrift bedenken wir heute im Jahr 2020 deine Schritte vor 800 Jahren. Wir haben ein wenig nachzuspüren versucht, was dich, den jungen Augustiner-Chorherrn, der es in seiner Gemeinschaft sicher weit gebracht hätte, dazu bewegte, die gesicherte Existenz in einem Orden mit Tradition aufzugeben für ein risikoreiches Experiment. Wir können wohl bis heute noch von der Kraft deiner Sehnsucht ahnen – die Sehnsucht, die dich dazu trieb, dich den Minderbrüdern anzuschließen, es ihnen gleich zu tun und den Glauben auch dort zu verkünden, wo man ihn noch nicht kennt. Freilich: Wir sind vielleicht etwas ratlos angesichts deines Traums, Christus als Märtyrer nachzufolgen. Darf man sein Leben einfach so aufs Spiel setzen? Und möglicherweise sind wir aus heutiger Perspektive dann auch ganz froh, dass es damit nicht geklappt hat, dass dein Traum geplatzt ist, weil du plötzlich krank geworden bist. Die Mission in Marokko musste abgebrochen werden. Du musstest dir dein Scheitern eingestehen und die Rückreise antreten. Doch auch die war wohl mehr eine Irrfahrt denn ein geordneter Rückzug. Denn statt in der Heimat landest du schließlich in der italienischen Fremde. Im fernen Sizilien kommst du gewissermaßen als Schiffbrüchiger an. Irgendwie gelingt es dir nach einer langen Reise durchs Land, am Generalkapitel in Assisi teilzunehmen. Und auch wenn du dort eigentlich übrig bleibst, findest du einen Bruder und der findet für dich einen Ort: Br. Gratian nimmt sich deiner an.
Was dann beginnt, ist ein „Zur-Ruhe-Kommen“. Und es braucht wohl jeder Mensch auch gerade solche Phasen. Br. Gratian nimmt dich mit nach Montepaolo, eine Einsiedelei in der Nähe von Forlì. Einer deiner Biografen, der Verfasser der Assidua, schreibt über diese Zeit: „Dort, jenseits allen weltlichen Treibens, tauchte er in den Frieden der Stille ein. – Während sich Antonius in jener Einsiedelei aufhielt, hatte sich ein Bruder in einer Grotte eine Zelle zum Beten eingerichtet, um sich ungestört dem Herrn widmen zu können. Nachdem der Mann Gottes diese Grotte gesehen hatte und sie ihm als sehr geeigneter Ort für seine eigene Frömmigkeit erschien, wandte er sich bittend an den Bruder, damit dieser ihm jenen Zufluchtsort überließ. Als er also diesen Ort des Friedens erhalten hatte, zog der Diener Gottes sich jeden Tag, nachdem er die verpflichtenden Morgengebete mit der Gemeinschaft verrichtet hatte, in jene Zelle zurück. Dabei nahm er ein kleines Stück Brot und eine Schüssel voll Wasser mit sich. Auf diese Weise verbrachte er den Tag in aller Einsamkeit und zwang das Fleisch, allein dem Geist zu dienen. Nichtsdestotrotz kehrte er immer zum Zeitpunkt der Zusammenkunft der Brüder zurück, so wie es die Regel vorschreibt.“
Ich kann mir gut vorstellen, dass du in dieser Zeit die vergangenen Monate noch einmal Revue passieren lässt: deine Sehnsucht, dein Aufbrechen, deine Hoffnungen, das Scheitern. Und vielleicht erkennst du in all dem ja auch so etwas wie einen roten Faden: Gott hat dich trotz allem nicht hängen lassen.
Aber ich kann mir vorstellen, dass Ruhe und Stille auch mal bedrängend sein können. Es gibt keine großen äußeren Ablenkungen mehr. Du und Gott. Dein Leben und seine Botschaft. Sicherlich führt dich diese Zeit auch in deine eigenen Abgründe, in deine Dunkelheiten und Schattenseiten.
Man hat es mir in meinem Leben gesagt und ich habe es anderen Menschen in Begleitungsgesprächen weitergesagt: Die Konfrontation mit dem eigenen Schatten ist wichtig – die Reflexion des eigenen Lebens kann helfen, sich selbst besser kennen zu lernen, um zu erspüren, was in meinem Leben „dran“ ist. Aber solche Dinge sind immer schnell gesagt. Zu leben ist das sehr viel mühsamer. Die Zurückgezogenheit in Montepaolo war also sicherlich etwas anderes als einfach ein Erholungsurlaub. Franziskus spricht in der eigens für die Einsiedeleien geschriebenen Regel ja dann auch von dem „intensiveren religiösen Leben“, das dort geführt wird.
Dass du dir selber auch nichts geschenkt hast, ja, dass deine geistliche Entschiedenheit immer noch so stark ist, wie wir das aus deiner Biografie kennen, schildert eindrucksvoll dein Biograf: „Doch mehr als einmal geschah es, dass er sich beim Läuten der Glocke aufmachte, um die Brüder zu treffen, dann aber auf dem Weg, erschöpft vom Wachen und entkräftet vom Fasten, ins Wanken geriet und, weil er sich nicht festhalten konnte, auf den Boden fiel. Tatsächlich hatte er die Zügel seines Fleisches manches Mal so kräftig angezogen, dass er nicht mehr heimgekommen wäre, hätten die Brüder ihn nicht gestützt. Das bezeugt einer, der dabei gewesen ist.“
So wie man in der Einsiedelei auch auf sich gestellt ist, so hat Franziskus doch gewünscht, dass die Brüder einander auch in der Einsamkeit beistehen. Er verlangt, dass in einer Einsiedelei immer drei oder vier Brüder zusammen leben – zwei bezeichnet er als „Mütter“, zwei als „Söhne“. Was hinter diesem Konzept steckt, formuliert er so: „Jene Brüder, die Mütter sind, seien bestrebt, von jedermann fernzubleiben; und im Gehorsam gegen ihren Minister sollen sie ihre Söhne vor jedermann behüten, damit niemand mit ihnen sprechen kann. Und die Söhne selbst dürfen mit niemandem reden außer mit ihren Müttern und mit ihrem Minister und Kustos, wenn er sie mit dem Segen Gottes des Herrn aufzusuchen wünscht. – Die Söhne aber sollen bisweilen das Amt der Mütter übernehmen, wie es ihnen gut scheint, dies abwechselnd für eine Zeit zu regeln, auf dass sie sorgsam und eifrig bemüht seien, all das oben Gesagte zu beobachten.“
Auch du wirst in den Monaten der Einsiedelei mal diese, mal jene Rolle übernommen haben. In manch frommer Heiligenlegende wirst du dargestellt als das noch unerkannte Predigt-talent, das in der Einsiedelei Kartoffeln schält – gewissermaßen frei nach dem Motto „Vom Tellerwäscher zum Millionär...“. Die Kartoffel gab es zu deiner Zeit zwar schon, aber in Europa kommt sie erst über 300 Jahre nach deinem Tod an. Aber die einfache Arbeit war dir da sicherlich ebenso wenig fremd wie das stille, bei Gott verweilende Gebet.
Was aber wirklich in dir vorgeht, das können wir heute – 800 Jahre später – allenfalls erahnen. Im Gegensatz zu dir damals wissen wir heute allerdings, wie deine Lebensgeschichte weitergeht: Bald wirst du als Prediger entdeckt werden und du wirst unglaublich viele Menschen mit dem Wort Gottes begeistern. Noch aber bist du in dieser „Zwischenstation“ Montepaolo.
Etwas von der Atmosphäre konnte ich dort bei einem Besuch vor einigen Jahren erleben: eine kleine Kirche und eine steinerne Hütte, die an deine Einsied-lerzelle erinnerte. Ein ruhiger Ort, der zum Verweilen einlädt. Seit wenigen Jahren sind unsere Brüder dort zumindest in den Sommermonaten präsent, um den Ort mit Gebet zu füllen und um für Pilgerinnen und Wallfahrer da zu sein. Ein Glücksfall dürfte sein, dass vor einem Jahr Klarissenschwestern von Faenza nach Montepaolo umgezogen sind. Die acht Schwestern geben deinem Ort nun wirklich eine neue geistliche Atmosphäre und sehen sich natürlich fest verwurzelt in deiner Tradition an dieser heiligen Stätte. Und irgendwie hat man an diesen historischen Orten dann doch ein wenig das Gefühl, dir für ein paar Augenblicke ein bisschen näher zu sein.
Mit einem herzlichen Gruß in die Stille grüße ich dich!
Dein Br. Andreas