Lieber Bruder Antonius (4)
Unsere Brief-Serie anlässlich des 800-jährigen Jubiläums des Ordenseintritts des späteren heiligen Antonius findet auf den nächsten drei Seiten ihre Fortsetzung. Thema des Briefes ist die verhinderte Heimkehr nach Portugal und die Ankunft des Antonius auf italienischem Boden.
Lieber Bruder Antonius!
Immer wieder höre ich es – manchmal auch mich selber – sagen: „Es muss dann doch für irgendetwas gut sein!“ Man sagt es, wenn eine Situation schwierig und dramatisch ist, wenn etwas ganz und gar anders läuft als man sich das erträumt hatte – und man sagt es wohl mit der Hoffnung, dass man am Ende wird sagen können, dass es doch irgendwie weitergegangen ist und vielleicht gar nicht einmal so schlecht, wie es anfangs noch zu befürchten war. Es muss dann doch für irgendetwas gut sein… Vielleicht auch bei dir?
Deine Mission in Marokko ist gerade gescheitert. Ein großer Traum ist geplatzt. Eine Sehnsucht hat sich nicht erfüllt. Zwangsläufig hast du dich entschieden, die Heimreise anzutreten. Und in meiner Fantasie bringen dich deine Mitbrüder auf ein Schiff. Eine vermutlich nicht ganz ungefährliche Überfahrt liegt vor dir und dann kommt offensichtlich auch noch ein gewaltiger Sturm auf. Ich kann nicht umhin, ein wenig zu schmunzeln, wenn der Verfasser deiner Biografie in der Assidua nur einen einzigen Satz zu dieser Episode schreibt: „Während der Schiffsreise aber, als er sich schon darauf vorbereitete, in Spanien an Land zu gehen, strandete er auf Grund schwerer Stürme an der Küste Siziliens.“ Muss da nicht eine gewaltige Angst an Bord geherrscht haben? Und von Spanien nach Sizilien, das ist ja auch nicht gerade um die Ecke… Es mir zugegebenermaßen schon ein Rätsel, wie man so weit abdriftet. Aber bei den Naturgewalten kommen die Fähigkeiten des Menschen doch regelmäßig an ihre Grenzen.
Wie auch immer. Du landest in Sizilien. Erst einmal kennt keiner dich und du kennst niemanden. Ein schiffbrüchiger Ausländer. Der Landessprache nicht mächtig. Hinter dir liegt eine verunglückte Schifffahrt. Deine Erkrankung ist ganz gewiss noch nicht auskuriert.
Vor ein paar Jahren konnte ich da – zumindest ein wenig – mitfühlen. Für eine Artikelreihe über „Antonius-Orte“ bin ich nach Sizilien gereist. Zwar bequem mit dem Flugzeug, aber völlig unorganisiert, ohne Ahnung von dieser Insel, ohne Hotel und mit herzlich wenig Italienisch-Kenntnissen. So wie du vielleicht damals von Minderbrüdern aufgenommen wurdest, habe ich schließlich einen freundlichen Pensionsbesitzer gefunden, der mir trotz Siesta ein Zimmer vermietete und mich dann auf einer abenteuerlichen Fahrt auf dem Rücksitz seiner Vespa sogar noch dorthin brachte. „Capo di Milazzo“ war mein Ziel, eine Halbinsel – angeblich der Ort, wo du damals angekommen bist. Ein langer Fußmarsch lag vor mir, aber einer, der sich schließlich gelohnt hat – traumhaftes Wetter, weiter Blick, vor mir das Meer und eine kleine, dir zu Ehren errichtete Felsenkapelle, in der ich mich ausruhen konnte.
Und auch wenn deine Umstände vielleicht weniger komfortabel waren als meine: Du wirst wohl irgendjemanden gefunden haben (oder jemand dich), der sich deiner annahm. Jakobus von Vitry, ein mittelalterlicher Kardinal und Verfasser einiger historischer Abhandlungen, stellt jedenfalls schon für 1216 fest, dass sich die Minderbrüder „das ganze Jahr über in Sizilien verbreiteten“. Als einigermaßen sicher darf man annehmen, dass in Messina und Syrakus schon offizielle Konvente bestanden. Vielleicht bist du also ziemlich schnell auf deine Mitbrüder gestoßen und konntest ihnen glaubhaft machen, dass du einer der ihren wärest.
Wir wären da heute sicher erst einmal vorsichtig. Wenn ein Gestrandeter und obendrein Kranker plötzlich an der Pforte klopft und dann auch noch behauptet, er würde zu uns gehören?! Dank unseres Mitgliederverzeichnisses, in dem alle etwa 4.000 Franziskaner-Minoriten weltweit erfasst sind, lässt es sich heute ziemlich schnell überprüfen, ob da einer die Wahrheit sagt oder uns etwas Falsches vormacht. Aber damals?
Vielleicht konntest du ihnen von deinen Begegnungen mit den Brüdern des heiligen Franziskus in Portugal berichten. Vielleicht hat man dir etwas angemerkt von deiner Begeisterung für die franziskanische Idee. Oder vielleicht klangen auch deine Martyriumssehnsucht und der Missionsversuch in Marokko so überzeugend – jedenfalls kommst du irgendwie durch. Dein Biograf hält als nächsten Ort Messina fest und berichtet: „Als Antonius von den Brüdern in Messina davon hörte,“ – dass in Assisi ein Generalkapitel stattfand – „zeigte er sich nach außen hin kräftiger als er es in Wahrheit war und erreichte den Ort, so gut er konnte.“
Wieder einmal staune ich: Erstens darüber, dass du offensichtlich nicht ganz ehrlich warst. Aber zweitens noch mehr, wie es dir gelungen ist, diese knapp 900 Kilometer lange Strecke hinter dich zu bringen – ohne Flugzeug, ohne Fähre, ohne Bahn und ohne Auto. Vielleicht ist es wieder die Sehnsucht, die dich anspornt, die Aussicht, den Gründer der Gemeinschaft kennen zu lernen.
Bis zum Pfingstfest wirst du jedenfalls dort in Assisi angekommen sein, denn dann sind die Brüder zum Generalkapitel versammelt. Erst die Regel von 1221 wird einführen, dass nur noch die Provinzialminister der verschiedenen Länder sich am Pfingstfest treffen – und das auch nur alle drei Jahre. Bis dahin hat Franziskus immer alle Brüder zusammengerufen. Selbst Novizen durften an den Treffen teilnehmen.
Ich kann mir die Stimmung, die bei solchen Zusammenkünften des Anfangs herrschte, gut vorstellen. Man kannte sich, man tauschte sich aus, war bestimmt voller Euphorie angesichts des immer größer werdenden Ordens, man schmiedete Pläne – und über allem stand wohl das gemeinsame Anliegen, Gott immer ernsthafter nachzufolgen, ihn zu loben und zu preisen. Ja, diese Zusammenkünfte waren sicher lebendige Feste des Glaubens.
Und auch da wird wieder ein „Aber“ kommen. Denn du bist ja noch unbekannt, ein Ausländer und obendrein sicherlich ein erschöpfter, kränklich wirkender Minderbruder. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie du da sicherlich manchmal etwas abseits warst. Dir fehlt noch die gemeinsame Geschichte und wohl auch ein wenig das Selbstbewusstsein. Dein Biograf hält dir auch zugute, dass du mit deinen Fähigkeiten und Talenten offensichtlich nicht hausieren gegangen bist. Aber man entwickelt schon fast ein bisschen Mitleid, wenn man dann liest: „Nachdem das Kapitel in der vorgesehenen Weise beendet war und die Provinzialminister die ihnen anvertrauten Brüder an ihre Bestimmungsorte geschickt hatten, blieb nur Antonius beim Generalminister verlassen zurück: Er war von keinem der Provinzialminister erbeten worden – als einer, der, weil er unbekannt war, wie ein blutiger Anfänger erschien und zu nichts gut war.“
Keiner braucht oder will dich für sein „Team“. Auch da, verzeih mir die Parallele, denke ich an meine eigene Lebenserfahrung im Sportunterricht. Wenn beim Fußball Mannschaften gebildet werden mussten und die zwei besten Spieler sich abwechselnd ihre Mitspieler wählten, blieb ich immer besonders lange stehen, fast immer bis zum Schluss. Und die Mannschaft, die mich schließlich nehmen musste, quittierte das mit einem ziemlich genervten Stöhnen. Ich, die Fußballniete, würde nun also wieder ihren Sieg gefährden. Keine guten Voraussetzungen. Und meine Angst vor dem Ball war gleich noch einmal ein gehöriges Stückchen größer.
Du bist also übriggeblieben und es gibt noch einen gewissermaßen letzten Strohhalm. Der Verfasser der Rigaldina berichtet: „Der heilige Antonius trat flehentlich, demütig und ehrfürchtig an Gratian heran, den Oberen der Brüder in der Romagna, und bat ihn, dass er ihn nach Zustimmung des Generalministers mit sich nehme und ihn in das religiöse Leben einführe.“ Br. Gratian erbarmt sich deiner schließlich und nimmt dich mit. Eine neue Etappe beginnt. Und man ahnt es bereits: Es war doch alles zu etwas gut.
Bis zum nächsten Schritt grüße ich dich herzlich!
Dein Br. Andreas