Magie des sakralen Klanges
Glocken dienten über Jahrhunderte hinweg als Rufer zum Gebet, waren Instrumente zur Einteilung des Tages und warnten vor Unwetter und anderen Gefahren. Doch sie bedeuteten den Menschen noch viel mehr: Sie schenkten ihnen religiöse Orientierung in Zeit und Raum, ließen sie die Verbindung zwischen Himmel und Erde hören und fühlen. Selbst in unseren lauten Zeiten geht ihr warmer Ton noch zu Herzen.
Bedauernd blickt Baron Vincenzo dem Wagen nach, der gerade das Parktor passiert. Eine Woche wollte das junge Paar aus Deutschland auf seinem Weingut Castello di Roncade Urlaub machen, doch schon nach der ersten Nacht packten sie die Koffer. Die Ferienwohnung im Schlossturm sei auf Ohrenhöhe mit den Glocken des benachbarten Kirchturms, klagten sie. Beim Läuten zur Frühmesse wären sie fast aus dem Bett gefallen, bei diesem Lärm könne man sich unmöglich erholen...
Zeitansage und Gebetsruf. Dabei gab es einmal eine Zeit, da bestimmte der Klang der Glocken den Tagesablauf aller Menschen im Abendland. Das Früh-, Mittag- und Abendläuten weckte die Schläfer, rief zum Mahl und bestimmte die Nachtruhe. Glockenklang gliederte den Lebensrhythmus der Bevölkerung auf dem Lande und in den wachsenden Städten. Die Glocken gaben zeitliche Orientierung, aber sie taten noch mehr. Das Geläut forderte die Menschen am Morgen auf zum Gebet: Gott zu danken für den Schutz vor Bedrohung in dunkler Nacht. Es erinnerte sie daran, dass jeder Sonnenaufgang die Auferstehung Christi symbolisiert und war Teil kirchlicher Intention, den Menschen Halt und Kraft für den Tag zu vermitteln. Glocken riefen zum Kirchgang und verkündeten mit feierlichem Geläute die hohen Feste des Jahres. Sie läuteten zur Taufe eines neuen Erdenbürgers, zur Hochzeit, aber auch zum Tod eines Nachbarn.
So waren Glocken über Jahrhunderte hinweg weit mehr als Instrumente zur Einteilung des Tages in Arbeits- und Ruhephasen oder zur sinnvollen Meisterung des Biorhythmus: Sie gaben religiöse Orientierung in Zeit und Raum. Glocken wurden als Verbindung zwischen Himmel und Erde empfunden. Ihr Klang bewegte die Seelen – und stiftete zugleich Identität.
Heimatraum Klangbereich. In jener Zeit, als noch nicht jedermann eine Uhr besaß und Mobilität oft am nächsten Dorf oder der nächsten Stadt endete, stellte der Klangbereich der Kirchenglocke, der konzentrische Kreis um den Kirchturm, der eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe umfing, eine Konzeption von Territorialität dar. In heute gebräuchlichen Metaphern wie “Kirchturmperspektive“ oder “Kirchturmspolitik“ kommt diese räumliche Begrenzung noch zum Ausdruck. Allerdings zeigt sich die friedliche Geborgenheit, welche einst die Bewohner kleiner Ortschaften umfing, darin ins Negative verkehrt: Begrenzte Horizonte lassen hier und da Inseln der Engstirnigkeit entstehen, in denen weit reichende Gedanken nur schwer realisierbar erscheinen.
Rückblickend auf diese “gute alte Zeit“ mit all ihren Beschränkungen, suggeriert der Klang der Glocken heute einen Raum traditioneller Gemächlichkeit und nostalgischer Verwurzelung. Gläubige Christen vernehmen dagegen im Glockengeläut noch Gottes Stimme. Nach moderner theologischer Sichtweise steht der Rufgedanke der Glocken im Mittelpunkt: Die sich bei ihren Klängen versammelnde Gemeinde möge ein Herz und eine Seele sein...
Glockengeschichte. Als eines der ältesten Klanginstrumente der Welt diente die Glocke den frühen Hochkulturen in China, Mesopotamien oder Ägypten als Abwehrmittel gegen Unheil: Ihr Klang sollte Geister und Dämonen fernhalten und den Träger der Glocke schützen. Glocken waren Kultgegenstände, denen man von Anbeginn eine magische Wirkung zuschrieb. Christliche Frömmigkeit spezifizierte diese Wirkung durch Psalmeninschriften, Bannsprüche, Heiligennamen oder bildliche Darstellungen auf den selbsttönenden Musikinstrumenten. In mittelalterlichen Buchillustrationen werden Engel oft mit Handglocken dargestellt.
Bereits in der Frühzeit des Christentums wurde der Glockenschall als akustisches Symbol der Verkündigung der christlichen Botschaft verstanden. Koptische Mönche in Ägypten haben wohl zuerst die Glocke als Ruferin zum Gebet genutzt. Im 5. Jahrhundert nach Christus dürfte die Glocke dann – von Kleinasien über den Mittelmeerraum und Südeuropa vordringend – in den meisten Klostergemeinschaften Einzug gehalten haben. Papst Sabinian (604-606), Nachfolger von Papst Gregor dem Großen, ordnete an, auch außerhalb der Klostermauern zu den sieben bei den Mönchen üblichen Gebetszeiten zu läuten.
Siegeszug in Europa. Seit der Christianisierung durch irische und schottische Wandermönche (wie Columban, Gallus oder Bonifatius) haben sich die Glocken in weiten Teilen Europas zu einem wichtigen Instrument der Kommunikation entwickelt. Karl der Große sorgte für den Siegeszug der Glocken im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, das der Wiener Kunsthistoriker Friedrich Heer im 20. Jahrhundert als “Glockeneuropa“ definieren sollte. Glocken riefen zu kirchlichen, aber auch zu weltlichen Zwecken, läuteten zu Gebetszeiten, aber auch in Notsituationen.
Vielfältige Funktionen. Die Aufgaben des sakralen Klanginstruments beschreibt beispielsweise diese Glockeninschrift aus dem späten Mittelalter: “laudo deum verum – plebem voco – congrego clerum – defunctos ploro – pestem fugo – festa decoro“ (Ich lobe den wahren Gott – ich rufe das Volk – ich versammle den Klerus – beklage die Sterbenden – vertreibe die Pest – schmücke das Fest). Denn neben den Angelus- und Betglocken, den Tauf- und Totenglocken, den Festtags- und Friedensglocken läuteten auch die Sturmglocken, um vor Unwetter, Feuersbrunst und anrückenden Feinden zu warnen. Erklang diese in unruhigen Zeiten, hatten die wehrfähigen Männer sich eilends zu sammeln. Pestglocken warnten vor dem schwarzen Tod, Glocken kündigten das Öffnen der Stadttore ebenso an wie die abendliche Sperrstunde in Gasthöfen oder den Sitzungsbeginn der Gerichte. Die Reichweite des Glockenläutens umfasste nicht nur die Kirchengemeinde, sie wurde auch als akustisches Maß für die Ausdehnung von Grundbesitz und für den Umfang einer Gerichtsbarkeit genommen.
Stumme Glocken, schlechte Zeiten. Und schließlich wurden Glocken über Jahrhunderte hinweg immer wieder missbraucht. Ihr klingendes Erz wurde zu Kanonen umgegossen, und statt der “vox dei“ ertönte auf den Schlachtfeldern Europas todbringender Geschützdonner. Historiker schätzen, dass zum Beispiel in Frankreich nach der Revolution von 1789 rund 50.000 Tonnen Metall von den Glockentürmen heruntergeholt, abtransportiert, verkauft oder eingeschmolzen wurden. Im 20. Jahrhundert zerstörte der Erste Weltkrieg in Deutschland ungefähr 60.000 bis 70.000 Glocken, im Zweiten Weltkrieg sollen es etwa 80.000 gewesen sein, 16.000 wurden nach Kriegsende noch auf dem Glockenfriedhof in Hamburg oder anderen Sammelstellen gefunden und bis 1952 zurückgeführt.
Die Zeiten, in denen die Glocken verstummten – zum Beispiel in den Religionskämpfen des 30jährigen Krieges, in den glaubensfeindlichen Unruhen der französischen Revolution oder während der Weltkriege des 20. Jahrhunderts – waren stets unheilvolle Zeiten, Zeiten emotionaler Entwurzelung. Als ob ohne den magischen Klang der Kirchenglocken die Geborgenheit in der Gemeinschaft der Gläubigen, ja sogar Leben, Freiheit und Toleranz bedroht seien.
Aufwändiger Guss. Um die enge emotionale Bindung der Menschen an die Magie des sakralen Klanges zu begreifen, muss man auch einen Blick auf ihre Entstehungsgeschichte werfen. Die Entwicklung der ursprünglich kleinen Glocken, die als Kultinstrument eingesetzt wurden, zu tonnenschweren Kirchturmsglocken ist eng mit der Verbreitung des Christentums verknüpft. Zunächst waren es Mönche, welche die Glocken herstellten. Mit wachsendem Bedarf wurde Glockengießen ein Beruf, der bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als im Zuge der Industrialisierung in größeren Städten Gießereien entstanden, oft von Wanderhandwerkern ausgeübt wurde, die überwiegend im Familienverband tätig waren.
Gewöhnlich schlugen sie ihre mobile Werkstatt auf dem Dorfplatz oder neben dem Kirchhof auf. Die Bevölkerung konnte so nicht nur den geheimnisvollen Prozess verfolgen, sondern auch beim Entstehen – etwa durch Bereitstellung von Holz oder Befeuern der Schmelzöfen – mitwirken. Der Kraft vieler Männer bedurfte es, in manchmal tagelanger Arbeit die kostbaren Glocken vorsichtig in den Kirchturm hochzuziehen.
Objekt des Stolzes. Kein Geläute zu besitzen, schien Gemeinden von einer gewissen Größenordnung an undenkbar. Eine machtvolle Glocke mit weitreichendem Klang war ein Objekt des Stolzes, für das man gern spendete. Über Jahrhunderte hinweg waren die Gemeindemitglieder bei der Entstehung der Glocke dabei, bei ihrer Weihe und bei ihrem Einzug in den Kirchturm. Nach Ansicht des Pariser Historikers Alain Courbin, der ein bedeutendes Werk über “Die Sprache der Glocken“ schrieb, macht dieser Sachverhalt die Kirchenglocken zu einem bürgerlichen Identifikationsmerkmal.
Noch heute ist der Einzug und das erstmalige Läuten neuer Glocken ein bewegendes Ereignis, das in den Medien seinen Niederschlag findet. So kündeten Zeitungsberichte davon, dass in diesem Jahr im Dom “Zu unserer Lieben Frau“ in München erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg dank dreier neuer Glocken das Ostergeläut wieder in traditioneller Vielstimmigkeit erklang. Und im Mai 2003 fand die Ankunft und Weihe der sieben neu gegossenen Glocken für die wiedererstehende Dresdener Frauenkirche bundesweite Anteilnahme. Sie wurden Jesaja, Johannes, Jeremia, Josua, David, Philippus und Hannah getauft, denn ihre Verzierungen beziehen sich auf diese prophetischen Gestalten des Alten und Neuen Testaments.
In Poesie und Prosa. In Schillers berühmtem Lied von der Glocke wird der mühsame und risikoreiche Prozess des Glockengießens beschrieben. Auch die feierliche Glockenweihe wird hier geschildert, mit der das Instrument aus dem Reich des Profanen gelöst und zu einem Gegenstand sakraler Bedeutung wird. Bis hin zum mühsamen Hochziehen und Aufhängen der Glocken und ihrem ersten Erklingen (“Friede sei ihr erst Geläute...“) beschreibt Schiller das Werden der Glocken und verknüpft sein Werk mit dem Ende des 18. Jahrhunderts geläufigen Lebensalter-Motiv. Schließlich wurden damals noch alle Etappen des menschlichen Daseins, von der Taufe bis zum Tod, vom Klang der Glocken begleitet.
Die warmen und dunklen Akkorde des Geläuts verkünden die freudigen wie traurigen Ereignisse des Lebens – mit einem Ton, der zu Herzen geht.
Der deutsche Schriftsteller Horst Bienek schildert in seinem Roman “Zeit ohne Glocken“ den Karfreitag des Jahres 1943 in einem oberschlesischen Städtchen. Soldaten der nationalsozialistischen Organisation Todt kommen, um die Glocken für die Rüstungsindustrie zu beschlagnahmen. Nur eine kleine Glocke, bezeichnenderweise die “Totenglocke“, lassen sie zurück. Die Menschen strömen vor der Kirche zusammen, Betroffenheit und Zorn regieren die Szene. Der Verlust ihrer Kirchenglocken wird das Bewusstsein der Bürger verändern. Die Zeit ohne Glocken wird zur gottlosen Zeit vor dem Ende des verbrecherischen Regimes. Die Menschen können nun – ohne den magischen Schutz des sakralen Glockenklangs – nicht länger die Augen verschließen vor der Deportation ihrer jüdischen Nachbarn, vor der Sinnlosigkeit des Krieges, der ihre Söhne, halbe Kinder noch, fordert, noch vor der nahenden Katastrophe. “Mit den Glocken geht auch der Glaube..., Glocken sind mehr als ihr Klang...“, heißt es in Bieneks Buch.
Die Glocken haben seit alters her die Macht, durch ihre Botschaft das Innerste der Menschen zu berühren, wie es Alexander Solschenizyn in seiner Erzählung “Am Oka-Fluss entlang“ schildert: “Schon immer waren die Menschen selbstsüchtig und oft wenig gut. Aber das Abendläuten erklang, schwebte über den Feldern, über dem Wald. Es mahnte, die unbedeutenden irdischen Dinge abzulegen, Zeit und Gedanken der Ewigkeit zu widmen. Dieses Läuten bewahrte die Menschen davor, zu vierbeinigen Kreaturen zu werden.“
Der alte Zauber dahin? Im kulturellen Gedächtnis der Menschen Europas zeugt der Glockenklang von einer Beziehung zur Welt und zum Heiligen, die früher weit inniger war als sie es heute ist. Seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, mit der Expansion der Industrie, so der Historiker Alain Courbin, sei die Rolle der Glocke in der Gesellschaft eine andere geworden. Neue Kommunikationswege durch Post und Presse, die steigende Anzahl von Uhren zum persönlichen Gebrauch, die Beschleunigung des Lebensrhythmus und die Häufigkeit des Ortswechsels führten dazu, dass die weltlichen Klangbotschaften zurück gingen und nur mehr Raum für Sakralität blieb.
Doch in der veränderten Geräuschkulisse des Großstadtalltags, der von Verkehrs- und Maschinenlärm geprägt ist, im veränderten Lebensrhythmus von Menschen, deren Alltag nicht mehr vom Lauf der Sonne geregelt wird, verlieren Raum und Zeit den alten Zauber. Im veränderten akustischen Umfeld haben es die Glocken zunehmend schwerer, ins Bewusstsein der Menschen vorzustoßen. In dem Maße, wie das Geläut zu einem akustischen Signal reduziert wird, dessen Symbolik nicht mehr jedem geläufig ist, erscheint der Ruf vom Kirchturm zum Gottesdienst manchen Menschen sogar als Lärmbelästigung.
Und dennoch sind es wohl nicht nur die eifrigen Kirchgänger, die noch heute im Glockengeläut “vox dei“, Gottes Stimme, vernehmen. In dem Buch “Glocken in Geschichte und Gegenwart“ sind diese Sätze des Erfurter Bischofs Dr. Joachim Warnke zu finden: “Die Glocke wird auch weiterhin eng mit der Botschaft Jesu Christi verbunden bleiben und ihr Schicksal teilen. Gelingt es uns, diese Heilsbotschaft mit Leben zu füllen, … dann werden die Klänge, welche diese Botschaften verkünden, auch weiterhin die Seele der Menschen erreichen.“
Emotionale Kraft. Überall in den Beitrittsstaaten der Europäischen Union läuteten in der Nacht zum 1. Mai 2004 die Glocken, weil die magische Kraft des sakralen Klanges die Tiefe des Menschseins berührt. Sie läuteten eine friedliche Erweiterung Europas ein.
Irgendwo im kulturellen Gedächtnis der Europäer scheint Glockenklang als “himmlischer Schall“ verankert. Dort, wo ein kraftvolles Geläut die “sakrale Wiederaufladung des umgebenden Raumes“ (Alain Courbin) bewirkt, ist ihr symbolischer Wert und ihre emotionale Gewalt erlebbar. Und vielleicht erreicht die Magie des sakralen Klanges die Seelen der Menschen sogar, ohne dass sie die Klänge zu deuten verstehen. Vielleicht besteht sie ja darin, dass sie die Seele ohne Umweg über den Verstand erreicht.
GLOCKENMUSEEN
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Tannenstraße 17, 71083 Herrenberg
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VERANSTALTUNG
Vom 22. bis 27. September 2004 finden die “EUROPÄISCHE GLOCKENTAGE“ in Karlsruhe statt.