Menschenwort oder Gottesrede?

17. Dezember 2014

Wie kam es, dass nur ganz bestimmte Bücher den Heiligen Schriften zugezählt wurden? Welche Voraussetzungen waren dabei maßgebend, welche Gründe waren mit im Spiel?



Im zweiten Jahrhundert, und noch etliche Zeit darüber hinaus, herrschte innerhalb der christlichen Ortskirchen noch immer Unklarheit darüber, welche Bücher denn nun den biblischen Schriften zuzuzählen seien. Diese Unsicherheit veranlasste den römischen Klerus Ende Juli des Jahres 144, in dieser Sache eine Anhörung von kompetenten Gemeindemitgliedern durchzuführen.

Unter anderen äußerte sich in der fraglichen Angelegenheit auch ein gewisser Markion, und dies auf eine Weise, dass es den damaligen Schriftgelehrten und Gottesexperten die Sprache verschlug. Der glaubte, einen Coup zu landen, welcher sich dann als Schlag ins Wasser erwies.



DAS ALTE TESTAMENT – TOTAL VERALTET?

Bei dem besagten Markion handelt es sich um einen um 85 nach Christus in der am Schwarzen Meer gelegenen Handelsstadt Sinope geborenen Schiffseigner und Seekaufmann. Um 135 verlegt er seinen Wohnsitz nach Rom, wo er die dortige Christengemeinde mit umfangreichen finanziellen Spenden unterstützt. Aber was er jetzt den dortigen Presbytern, den Ältesten, vorträgt, stößt nicht nur bei ihnen auf Ablehnung.

Markion nämlich vertritt die Ansicht, dass das gesamte Erste oder Alte Testament keinerlei göttliche Offenbarung beinhalte. Für ihn hat der ersttestamentliche Richtergott nichts gemeinsam mit dem Gott der Barmherzigkeit, den Jesus verkündete. Ergo hat das Erste Testament für Jesusjünger und Christusnachfolgerinnen keinerlei Gültigkeit.

Auch bezüglich der Evangelien herrscht damals innerhalb der Ortskirchen noch eine große Unsicherheit. Vor allem das Johannesevangelium ist umstritten, weil es sich von den drei anderen Evangelien erheblich unterscheidet. Nach Markion ist einzig das Lukasevangelium verlässlich – aus dem er allerdings sämtliche Passagen mit ersttestamentlichen Bezügen herausstreicht. Darüber hinaus betrachtet er lediglich noch einige Paulusbriefe als authentisch.

Markions Thesen stoßen beim römischen Klerus nicht nur auf dezidierte Ablehnung, sondern geben auch Anlass zur Empörung. Der Mann wird exkommuniziert; die der Gemeinde zugewendeten Güter erstattet man ihm zurück. Fortan geht Markion seinen eigenen Weg, was praktisch auf die Gründung einer Gegenkirche hinausläuft.



DIE HEBRÄISCHE BIBEL

Innerkirchlich war die Debatte darüber, welche Bücher denn nun zur Heiligen Schrift gehörten, damit keineswegs abgeschlossen; sie hatte ja noch gar nicht richtig begonnen. Nachdem die radikale Kritik Markions von der römischen Kirche abgeschmettert wurde, stand die Qualifikation des Ersten Testaments als einer Heiligen Schrift nie mehr zur Debatte.

Nach jüdischem Verständnis gliedern sich diese erstbundlichen Texte in drei Hauptgruppen, nämlich die fünf Bücher Mose, die Propheten und die übrigen Schriften. Der genaue Umfang dieser ‚Hebräischen Bibel‘ wurde im Judentum ums Jahr 100 nach Christus definitiv festgelegt. Damals entschied man sich, auch einige bislang umstrittene Texte in das Verzeichnis der Heiligen Bücher aufzunehmen (Hohelied, Rut, Klagelieder, Kohelet, Ester, Daniel, Esra, Nehemia und die beiden Chronikbücher) – nicht aber eine Reihe weiterer in aramäischer, hebräischer oder griechischer Sprache verfasster Texte (Tobit, Judit, 1 und 2 Makkabäer, Jesus Sirach, Weisheit, Baruch).



DIE KANONISCHEN SCHRIFTEN

Für Jesus und seine Zeitgenossen bildeten die drei (im Detail damals noch nicht festgelegten) Hauptgruppen den maßgebenden Bibeltext – oder wie wir heute sagen, den Kanon. Der aus dem Griechischen stammende Begriff bedeutet Stange oder Mess-

latte. In unserem Kontext besagt das, dass die kanonischen Schriften normativen Charakter haben.

Der erste Christ, der sich mit der Frage auseinandersetzte, welche jüdischen Schriften von der Großkirche als Heilige Schrift anerkannt zu werden verdienten, war ein gewisser Melito, der in Sardes Bischof war. Seine um das Jahr 170 zusammengestellte „Liste des Alten Bundes“ ist praktisch identisch mit dem offiziellen hebräischen Kanon; es fehlt darin einzig das Buch Ester. Anlass zu kleineren Auseinandersetzungen gaben gelegentlich die in der jüdischen Bibel nicht enthaltenen sieben Bücher:

Tobit, Judit, 1 und 2 Makkabäer, Jesus Sirach, Weisheit, Baruch.



DIE HEILIGEN BÜCHER DER CHRISTENHEIT

Mit einem neuen Problem wurde die entstehende Kirche konfrontiert, als irgendwann die Frage auftauchte, ob nicht auch einzelnen christlichen Texten (also den Evangelien, der Apostelgeschichte und der neutestamentlichen Briefliteratur) eine ähnliche – also normative – Rolle zukomme, wie den von den Juden übernommenen heiligen Schriften.

Zur Auswahl standen, neben dem in unserem heutigen Neuen Testament enthaltenen Schriften, eine ganze Reihe anderer Texte, nämlich Apokalypsen (Hirte des Hermas), Apostelakten (Paulusakten, Petrusakten), sowie zahlreiche Evangelien (Bartholomäusevangelium, Hebräerevangelium, Protoevangelium des Jakobus, verschiedene Evangelien betreffend die Kindheit Jesu, Petrusevangelium, Thomasevangelium …). Die meisten dieser Bücher bezeichnen die Fachleute als Apokryphen, was so viel bedeutet wie geheime Schriften. Es handelt sich dabei um Texte, die zwar gewisse Ähnlichkeiten mit den biblischen Büchern aufweisen, aber nicht in die Bibel Eingang gefunden haben, sei es aus inhaltlichen Gründen, sei es, weil sie nicht überall bekannt waren, sei es schließlich, weil ihre Autorität nicht allgemein anerkannt war.



DIE VERFASSERSCHAFT IST WICHTIG

Zuerst wurden die Paulusbriefe gesammelt. Manche davon waren wohl schon ums Jahr 70 im Umlauf. Sie wurden in den christlichen Gemeinden verlesen, als über den aktuellen Anlass hinaus gültige Botschaften. Paulus selber wünschte die Weitergabe auch an jene Gemeinden, die er nicht selbst gegründet hatte, wie er ausdrücklich betont.

Seit dem späten zweiten Jahrhundert erstellten mehrere Theologen Listen sogenannter kanonischer Bücher. Wichtigstes Kriterium für die Aufnahme war damals deren Verfasserschaft, also eines von Jesus berufenen Apostels oder eine von einem Apostel autorisierte Abfassung – aber dieses Kriterium der Auswahl hat sich schon bald geändert.

Die entsprechenden Texte wurden in den Gottesdiensten gelesen und dienten als Richtschnur für die Ordnung innerhalb der Gemeinden. Darüber hinaus fanden sie Verwendung im Unterricht der Katechumenen, also in der Unterweisung der Taufbewerber.



DER KANON MURATORI

Die älteste uns bekannte (und nach ihrem Entdecker benannte) Liste der neutestamentlichen Schriften, der sogenannte Kanon Muratori, entstand ums Jahr 170 und beinhaltete auch eine (apokryphe) Apokalypse des Petrus, nicht jedoch die heute als kanonisch geltenden beiden Petrusbriefe, noch den Hebräer-, den Jakobus- und den dritten Johannesbrief.

Im dritten Jahrhundert ist immer noch nicht definitiv geklärt, welche Bücher zu den für die Gesamtkirche verbindlichen Schriften gehören. Um die Mitte des vierten Jahrhunderts erstellt der Kirchenvater Kyrill von Jerusalem eine Liste, welche, bis auf die Offenbarung des Johannes, alle jetzigen Bücher des Neuen Testaments enthält.



HEBRÄER-EVANGELIUM, THOMAS-AKTEN

Athanasius von Alexandria führt im Jahr 367 sämtliche Bücher des heutigen Neuen Testaments auf, weicht im Ersten Testament aber noch etwas von der heute üblichen Aufstellung ab. Erst eine lokale Kirchenversammlung in Karthago, die allerdings nur für den Bereich Nordafrika sprach, definierte im Jahr 397 den heute noch gültigen Kanon: 46 Schriften aus dem Ersten, 27 aus dem Neuen Testament.

Bleibt eine Frage: Warum blieb bei der Kanonisierung das Hebräerevangelium außen vor, das im zweiten und dritten Jahrhundert bei Judenchristen im griechischen Sprachraum Verwendung fand? Weshalb wurden nur die Apostelakten (gemeinhin als Apostelgeschichte bezeichnet) in das Verzeichnis aufgenommen, nicht aber die in syrischer Sprache um 250 verfassten Thomasakten?



KRITERIEN BEI DER AUSWAHL

Mit anderen Worten, welcher Richtschnur bedienten sich die kirchlichen Autoritäten, um festzulegen, welche Schriften göttlichen Ursprungs und damit geistinspiriert und deshalb allgemein verpflichtend sind?

Rückblickend und unter Berücksichtigung der faktischen Entwicklung lassen sich diesbezüglich gleich mehrere Kriterien feststellen.

Kanonisch, d. h. allgemein verpflichtend ist, was (wie man meinte) von einem Apostel oder einem Apostelschüler stammte. Die Paulusbriefe wurden aus diesem Grund sofort akzeptiert, während der Hebräerbrief längere Zeit umstritten blieb, weil man die Urheberschaft nicht klären konnte. Jedes Buch musste nachweislich aus der Frühzeit der Gemeinden stammen. Später zählte nicht mehr die apostolische Urheberschaft, sondern der apostolische, d. h. der auf die Verkündigung Jesu und die Predigt der Apostel zurückgehende Inhalt.

Ein Buch gehört zur Bibel, wenn es mit dem von der kirchlichen Gemeinschaft überlieferten Glauben übereinstimmt. Aufgrund dieses Kriteriums verwarf man Dokumente mit authentisch klingenden Titeln, wie zum Beispiel das (apokryphe) Thomasevangelium oder die (ebenfalls apokryphe) Apostelgeschichte des Johannes.



GESAMTKIRCHE UND GEMEINDE

Ausschlaggebend war überdies, dass eine Schrift als Gottes Wort von der Gesamtkirche rezipiert und nicht bloß von einzelnen Sondergruppen als solches betrachtet wurde. Briefe an eine bestimmte Gemeinde wurden akzeptiert, wenn die darin enthaltene Botschaft auch für die Gesamtkirche von Bedeutung war. Die Bücher sollten dem Gemeindeleben förderlich sein. Das heißt, sie mussten die ihnen innewohnende geistliche Autorität dadurch beweisen, dass sie von den Gläubigen in den liturgischen Versammlungen akzeptiert und verinnerlicht wurden. Letztlich waren es also nicht irgendwelche kirchliche Amtspersonen, welche aufgrund einer herausragenden Stellung darüber entschieden, welche Schriften als normgebend zu betrachten waren, sondern die Kirchengemeinschaft.

Wir sagen heute: Bestimmte Bücher gehören zur Bibel, weil sie inspiriert sind. Das können wir aber nur sagen, weil es sich ursprünglich genau umgekehrt verhielt: Die Christen und Christinnen in den ersten Jahrhunderten kamen zu der Erkenntnis, dass diese (und keine anderen) Bücher inspiriert sind, weil sie den oben genannten Anforderungen genügen.



DIE BIBEL DER REFORMATOREN

Neu aufgeworfen wurde die Frage nach der Kanonizität der biblischen Bücher seitens der Reformatoren. So berief sich Martin Luther auf den heiligen Hieronymus († 420), welcher gegen Augustinus († 430) den jüdischen Kanon als von Gott inspiriert und damit als einzig verpflichtend verteidigt hatte. Was bedeutet, dass er, wie die Angehörigen der jüdischen Glaubensgemeinschaft, die ersttestamentlichen Bücher Tobit, Judith, 1 und 2 Makkabäer, Weisheit, Jesus Sirach und Baruch als nicht zur Bibel gehörend betrachtete.

Dies wiederum brachte es mit sich, dass diese Schriften später in die evangelischen Bibelübersetzungen nicht mehr aufgenommen wurden. In manchen heutigen lutherischen Ausgaben sind sie wieder enthalten – aber für evangelische Christen und Christinnen nicht verpflichtend. Die betrachten sie gewissermaßen als second-hand-books, welchen bei allfälligen theologischen Auseinandersetzungen keinerlei Beweiskraft zukommt. Nach Martin Luther handelt es sich um „Bücher, so der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind“. Ähnlich sieht es auch die Anglikanische Kirche. Die eher calvinistisch geprägten Traditionen innerhalb des Protestantismus verwerfen diese Bücher jedoch meist vollständig. Dagegen wiederum erklärte das Konzil von Trient am 8. April 1546, dass diese umstrittenen Schriften den übrigen biblischen Büchern gegenüber als gleichrangig zu gelten hätten.



HAUSDURCHSUCHUNGEN UNTER DIOKLETIAN

Welch große Bedeutung die Gläubigen seit jeher den heiligen Schriften beimaßen, zeigt eine Verfügung des römischen Kaisers Diokletian vom 23. Februar 303. Damals verbot Diokletian die christlichen Gottesdienste und befahl die Zerstörung von Kirchen und die Verbrennung christlicher Schriften. In diesem Zusammenhang kam es auch zu Hausdurchsuchungen. Über Mensurius, den Bischof von Karthago, ist überliefert, dass er die heiligen Schriften an einem sicheren Ort versteckte. Als die kaiserlichen Magistratsbeamten bei ihm anklopften, händigte er ihnen lediglich ein paar häretische Bücher aus, die er zum Zweck der Widerlegung bei sich verwahrte. Die römischen Büttel, welche wohl weder lesen noch schreiben konnten, freuten sich über den Erfolg ihres Unternehmens – und der Bischof freute sich, dass sie sich so leicht übertölpeln ließen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016