Menschseinvor Gott
Als kleiner Ministrant hatte ich die Vorstellung, zum Beten müsse man sich hinknien oder gesammelt dastehen, die Hände falten, die Augen auf das Kreuz richten und vorgegebene Texte sprechen. Ich war auch überzeugt, daß mein Beten um so wertvoller sei, je länger ich aushielt und die Knie wehtaten. Nähe Gottes erfahren. Inzwischen habe ich gelernt, daß dies eine viel zu enge Sicht war. Es gibt eine breite Palette von Ausdrucksmöglichkeiten des Gebetes. Mir gefällt folgende Geschichte: Zum Erzbischof von Petersburg kam eine ältere Frau: Herr Erzbischof, ich habe jahrelang eine Stunde lang das Jesusgebet verrichtet und habe dabei nie die Nähe Gottes erfahren. Dabei ist sie solchen Betern doch versprochen. Der Erzbischof, der sie und ihre Lebensumstände näher kannte, gab zur Antwort: Gute Frau, beten Sie ab heute das Jesusgebet nicht mehr. Ich rate Ihnen etwas anderes: Wenn Sie am Morgen Kaffee getrunken haben, räumen Sie Ihr Zimmer auf. Rücken Sie Ihren Lehnstuhl zurecht, so, daß Sie in den Garten hinausschauen können. Und dann legen Sie Ihr Strickzeug bereit. Setzen Sie sich dann in den Lehnstuhl und schauen Sie im Zimmer umher. Freuen Sie sich daran, welch schönes Zimmer Sie haben. Dann schauen Sie in den Garten hinaus: Alles blüht – freuen Sie sich darüber. Greifen Sie dann zum Strickzeug und fangen Sie an zu stricken. Stricken Sie eine Viertelstunde lang vor dem lieben Gott. Lassen Sie ihn dabei zuschauen. Mehr brauchen Sie nicht zu tun. Ja, ihn bloß beim Stricken zuschauen lassen! Jeden Tag – eine Viertelstunde lang. Die Frau ist verwundert, bedankt sich und geht. Nach einem halben Jahr kommt sie wieder: Herr Erzbischof, ich danke Ihnen. Was ich ein Leben lang vergebens gesucht habe, habe ich nun gefunden: Die Nähe Gottes. Auch das ist Gebet, den lieben Gott einfach zuschauen lassen, bei allem, was ich tue ihn zuschauen lassen, wenn ich schaue, verweile, verkoste. Ich kann aber auch meine ganze Energie in die Zuwendung zu Gott investieren. Die Bibel sagt: Sucht den Herrn, so lange er sich finden läßt, ruft ihn an, so lange er nahe ist (Jes 55,6). Sucht den Herren: das ist eine Aufforderung und eine Einladung und sie gilt auch heute und hier. Gott suchen – das sollte Lebensthema für jeden Menschen werden. Dabei geht es nicht um ein gedankliches Tasten und Grübeln, auch nicht um ein zielloses Umherirren. Auf diesem Weg finden wir Gott nicht. Sucht den Herrn, das heißt, aufstehen und sich auf den Weg machen. Wo finden wir Christen Gott? Gewiß läßt er sich auch finden in der Natur, auch auf dunklen und hellen Strecken unseres Lebens, auch in der Tiefe der Seele und im Innersten, in dem was uns bewegt. Aber ganz und eigentlich finden wir ihn in Jesus Christus. Bei Jesus können wir in sein Herz schauen; können nur sehen wie er ist; in ihm kommt er uns ganz nahe; über ihn ist er uns zugänglich in Wort und Sakrament und in seinem Leib, der Kirche. Liebendes Du. Gott ist immer unterwegs zu uns. Es drängt ihn zum Menschen hin. Augustinus sagt: Die Sehnsucht Gottes ist der Mensch. Er ist da, liebend für uns da. So hat er sich in seinem Namen Jahwe geoffenbart. Wer betet, antwortet darauf. Er begegnet einem lebendigen, liebenden Du. Er ist der nächste und beste Freund, mein Vater, meine Mutter - ich kann ihm alles sagen, hinschreien, klagen und erzählen. Ich darf mit ihm reden, wie es mir ums Herz ist. Meine Rede soll die Liebesbeziehung nähren. Auf diesem Weg kann Vertrauen wachsen, das mich auch durch die Dunkelheit meines Lebens hindurchträgt. Sein Herz ausschütten. Ruft ihn an: Wir dürfen und sollen wirklich rufen und schreien. Im Alten Testament finden wir kaum das Wort Gebet. Die Psalmen beispielsweise sprechen nicht abstrakt vom Gebet, sondern vom Vollzug, das heißt wie man betet. Da finden wir Ausdrücke wie: ich schreie, ich schütte mein Herz aus, ich klage, ich weine, ich seufze, ich lobe, ich tanze, ich singe...Von den Psalmen und großen anderen Betern können wir lernen, aus allen Stimmungen und Lagen heraus, auch aus den unpassenden, mit Gott zu reden. Die Psalmen bringen alles zu Sprache, was Menschen bewegt: Die Freude und den Dank, genau so wie die Angst, den Haß, erbitterte Fragen und die Dunkelheit im eigenen Inneren. Nichts wird verschwiegen oder verdrängt, da ist keine Situation, die nicht sogleich Gott zu Ohren gebracht würde. Beten ist nicht etwas neben dem konkret Erlebten und Erlittenen, sondern Menschsein vor Gott. Im Gebet teilt der Mensch sein Leben, seine Erlebnisse Gott mit. Er teilt sie mit ihm. In der Bibel begegnen wir öfter der Aufforderung: Betet! Das ist ein Befehl, das heißt, tut es, wartet nicht lange, fängt an, laßt nicht nach, hört nicht auf! Wie heute beten? Einige Antworten haben wir schon gehört: Wie es mir zutiefst ums Herz ist; wie zu einem Freund, wie zu meinem besten Freund. Ich kann laut und leise beten; allein und mit anderen; mit den alten Worten der Kirche, die mich tragen können in der Gebetskraft vieler Jahrhunderte und mit den allerpersönlichsten Worten, die nur ich in meiner Situation finden und aussprechen kann. Immer wieder höre ich: Mir geht es gut, ich komme allein zurecht. Wer das Gebet aufschiebt für Tage der Not und sich an das Sprichwort halten will: Not lehrt beten, wird leicht die Frucht des Gebetes verfehlen. Wer nämlich nicht in guten Zeiten beten lernt, kann nicht damit rechnen, es in bösen Zeiten zu können. Wer nicht regelmäßig betet, wird auch bald nicht unregelmäßig beten. Seismograph. Ein anderer Einwand ist oft zu hören: Diese Kirchgänger beten viel, aber im alltäglichen Leben sind sie ungenießbar. Da verzichte ich lieber auf das Beten und geh mit meinem Nächsten freundlich um. Hier wird die falsche Alternative aufgestellt: Entweder Gott oder Mitmensch. Die Beziehung zur Schöpfung, zu mir selbst, zu meinen Mitmenschen und meine soziale Empfindsamkeit sind gleichsam ein Seismograph für mein Verhältnis zu Gott. Wer sich vor seinen Mitmenschen fürchtet, hat auch Angst vor Gott. Wer sich selbst nicht annehmen kann, wird auch Gott nicht ganz annehmen können. Wer sich aus Verletztheit und Angst vor Menschen verschließt, wird in der Tiefe seines Herzens auch für Gott verschlossen sein. Die Welt umarmen. Wer ein Gespür hat für die Not seiner Mitmenschen und die Umwelt, ist auch sensibel für Gott. Wir haben nicht zwei Herzen, eines, das ganz geöffnet ist für Gott und eines das Menschen gegenüber mißtrauisch und ablehnend ist. Wir haben nur dieses eine Herz für alle Weisen der Begegnung. Martin Buber sagt einmal: Wir können nur mit Gott reden, wenn wir unsere Arme, so gut wir können, um die Welt legen.... Unser Beten soll nicht nur ein heimeliges Mein Heiland und ich sein. Das wäre zu eng. Es gilt, die ganze Welt zu umarmen und sie mitzubringen in den Aufblick zum Herrn. Noch einmal stellen wir die Frage, wie wir beten sollen. Alle Formen sind recht, wenn sie mit mir und meiner Situation stimmig sind. Trotzdem möchte ich drei Möglichkeiten des Betens nennen. Formulierte Gebete. Am bekanntesten und denen die schon beten wohl am vertrautesten ist das Sprechen formulierter Gebete. Ich denke hier an Gebete die wir auswendig können oder Gebete, die im Gebetbuch stehen. Es ist nicht selbstverständlich, daß man sich in jedem formulierten Gebet in gleicher Weise wieder findet. Jede Zeit hat ihre Sprache und auch jeder Mensch hat seine Sprache. Es kann hilfreich sein, z.B. einen Psalm zu subjektivieren, d.h. ihn so umzuformulieren, daß er ein persönliches Gebet wird. Und es ist auch eine Hilfe für das Beten, wenn wir Texte und Worte kennen, in denen Menschen unserer Zeit sich äußern. Solche Gebete finden sich z.B. im Gotteslob. Zu dieser Gruppe von Gebet gehört auch das freiformulierte. Es erwächst aus den jeweiligen Situationen. Wir können uns in ihm ganz persönlich aussprechen und unsere Freuden und Leiden vor Gott bringen. Gebet der Stille. Eine zweite Möglichkeit des Betens ist das Gebet der Stille. Jesus liebte dieses Gebet besonders. Er hat in der intensiven persönlichen Beziehung zu Gott gelebt. Immer wieder zieht er sich zurück in die Stille der Einsamkeit. Aus ihrer Kraft und aus der Nähe zum Vater redet und handelt er dann bei den Menschen. In unserer Zeit ist es häufig gar nicht leicht, einen Raum der Stille zu finden. Manch einer findet ihn bei einem Spaziergang. Ein anderer sucht die Stille im Kirchenraum. Wir sollten deshalb mitsorgen und Mitverantwortung übernehmen, daß Kirchen tagsüber geöffnet bleiben. Auch Bügelarbeit kann zu einer Zeit des Betens nutzen. Mir sagte einmal ein Mann: Mein Auto, das ist meine Gebetshöhle. Was geschieht bei diesem Gebet der Stille? Äußerlich gesehen gar nicht viel. Der indische Dichter Rabindranath Tagore lädt zu diesem stillen Gebet ein mit den Worten: Laß mich bitte einen Augenblick an deiner Seite sitzen, die Arbeit unter meinen Händen will ich später enden... Jetzt ist es Zeit, ganz ruhig dazusitzen und dich zu schauen, Aug in Auge. Mir gefällt, was der Pfarrer von Ars von einem alten Bauern berichtet, den er oft lange Zeit allein in der Kirche sah. Gefragt, was er denn bete, antwortete er: Nichts. Ich schaue ihn an und er schaut mich an. Begegnung der Liebe! Das leibhafte Gebet ist eine dritte Möglichkeit des Betens. Im Gebet sollen wir uns ganz, das heißt auch mit unserem Leib Gott zuwenden. Das innere, geistige Geschehen sucht nach sichtbaren, leibhaften Ausdrucksformen. Wir kennen die Bilder, die uns die Sprache schenkt: Vor Gott stehen; vor Gott singen, tanzen, spielen; auf Gott schauen; die Hände zu Gott erheben; die Seele zu Gott erheben; vor Gott das Herz ausschütten; sich vor Gott verneigen; vor ihm niederknien und niederfallen vor Gott. Auch das leibhaftige Tun kann Gebet werden, ohne daß Worte fallen müssen. Konkreter Zugang. Da das Thema Beten unerschöpflich ist, können diese Gedanken nur ein erster Schritt und eine Art Einführung sein. In diesem Heft starten wir eine Serie (Kleine Gebetsschule, S. 45), die als konkrete Hinführung zum Gebet gedacht ist. Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Über eine bloß theoretische Auseinandersetzung werden wir keinen Zugang zum Gebet finden. Er ist wenn wir uns mit Mut, in aller Freiheit, aber auch in Treue auf das Gebet einlassen, wie auf eine Freundschaft, werden wir seinen Wert entdecken und Erfahrungen machen, die uns zum Weitersuchen drängen. |