Merkel, Luther, der Papst und eine Bibel, die alle verstehen

20. Dezember 2021 | von

Warum die Prinzipien der Leichten Sprache für die Kirche unverzichtbar sind – das erläutert unser Autor. Er ist stellvertretender Direktor der Akademie CPH in Nürnberg und als Theologe und Bibliker unter anderem verantwortlich für das Projekt „Evangelium in Leichter Sprache“, über das wir vor Jahren schon einmal berichtet haben.

Was haben Angela Merkel, Martin Luther und der Papst mit der Bibel gemeinsam? Diese Frage konnte sich stellen, wer die Geschenke sah, mit denen die Bundeskanzlerin bei ihrem Abschiedsbesuch Anfang Oktober im Vatikan Franziskus überraschte. Unter anderem waren darunter die drei Bände der Evangelien in Leichter Sprache, einer inklusiven Bibelübertragung, die das Nürnberger Caritas-Pirckheimer-Haus, das Stuttgarter Bibelwerk und die Thuiner Franziskanerinnen seit acht Jahren gemeinsam mit behinderten Menschen erstellen.

Suche nach verständlicher Sprache

All das war kein Zufall. Die evangelische Pfarrerstochter und Kanzlerin überreicht dem Papst eine katholische „Bibel für Alle“ aus Anlass des großen Jubiläums der ersten deutschen „Bibel für Alle“. Denn 2022 jährt es sich zum 500. Mal, dass Martin Luther das Neue Testament in ein für alle verständliches Deutsch übertrug. Die biblischen Texte sollten die Sprache der Menschen ihrer Zeit sprechen – nicht umgekehrt, das war seine Absicht.

Verständlichkeit, Klarheit, Zielgruppenorientierung, nah dran an den Menschen wie am Wort – diese Kriterien gelten für jede Art von Text, der von möglichst allen verstanden werden soll. Sprache wird dabei nicht als starres Kunstwerk oder verstaubtes Museum, sondern als lebendiger, dynamischer Prozess verstanden. Wie seinerzeit Luther beschäftigen auch uns im Projekt „Evangelium in Leichter Sprache“ (www.evangelium-in-leichter-sprache.de) diese Kriterien, wenn wir standardsprachliche Bibeltexte der Einheitsübersetzung in Leichte Sprache übertragen.

Leichte Sprache ist barrierefreie Sprache. Zuallererst für Menschen mit Lernschwierigkeiten bzw. geistiger Behinderung gedacht, ist sie auch für alle anderen Menschen geeignet, deren Sprachkompetenz (noch) nicht ausreicht, um „schwere“ Texte zu verstehen – Kinder, Schüler/innen, Demente, Geflüchtete und andere.

Kompliziertes einfach sagen

Leichte Sprache bedient sich klarer Regeln: Kurze Sätze, einfache Wörter, keine Fremdwörter oder mehrdeutigen Bilder, nur eine Aussage pro Satz, keine komplizierten Satzkonstruktionen, klares Schriftbild, große Schrift, dazu Bilder und Illustrationen zur Verdeutlichung und vieles mehr… Ihr Ziel: Die Botschaft möglichst einfach klar zu machen.

Dabei helfen besonders zwei Regeln: Zum einen: Kompliziertes und Schweres muss leicht und einfach gesagt werden. Dies zwingt mich, mir über die eigentliche Botschaft des Textes oder eines Begriffs erst einmal selbst klar zu werden, bevor ich anderen davon erzähle. Wie beschreibe ich zum Beispiel in Leichter Sprache eine Synagoge? „Eine Synagoge ist ein besonderes Haus. In der Synagoge können sich die Menschen treffen. Und beten. Und zusammen über Gott sprechen“. Was ist ein Prophet? „Der Prophet ist ein Mensch, der in seinem Herzen mit Gott redet. Der Prophet sagt den Menschen, was Gott zu ihm im Herzen redet.“

Von der Zielgruppe aus gedacht

Zum anderen: Beim Übersetzen muss ich die Perspektive derjenigen einnehmen, für die ich den Text übertrage, also der Zielgruppe. Und das in radikalster Form: Das Gütesiegel „Leicht“ dürfen die Texte erst tragen, wenn sie gemeinsam mit Menschen mit Lernschwierigkeiten entstanden, am besten von Beginn an. Eine nicht immer einfache, aber ungemein qualitätssichernde Anforderung.

Wer Texte in Leichte Sprache überträgt, gibt die Entscheidung darüber, ob und wann ein Text wirklich verständlich ist, ab, und zwar an die Lesenden beziehungsweise Hörenden. Nicht das, von dem ich glaube, dass es für die anderen verständlich sein könnte oder sollte, zählt. Sondern das, von dem die anderen sagen, dass sie es verstehen!

Das Bartimäus-Prinzip

Leichte Sprache stellt die Perspektive auf den Kopf. Keine andere biblische Geschichte veranschaulicht das besser als die vom blinden Bartimäus (Mk 10,46-52). Als er vor ihm steht, dürfte Jesus schnell geahnt haben, worum ihn der Blinde bitten würde. Doch Jesus macht ihn nicht einfach sehend. Er stellt als erstes eine unerwartete – aber alles entscheidende – Frage: „Was willst DU dass ich DIR tun soll?“ Jesu Blick geht auf Augenhöhe mit Bartimäus: Was er braucht, mag für andere scheinbar klar sein – wirklich wissen können sie es nur, wenn Bartimäus es selbst sagt (es könnte ja auch sein, dass sein Hunger viel größer ist als sein Wunsch zu sehen).

Dieses „Bartimäus-Prinzip“ eines radikalen Wechsels der Perspektive ist Jesu Grundhaltung gegenüber anderen. Es besitzt eine Sprengkraft, die weit über den Bereich von Inklusion und Teilhabe hinausgeht. Wer es ernst nimmt, wird die Sicherheit aufgeben (müssen), schon selbst zu wissen, wie die Botschaft am besten vermittelt werden kann. Stattdessen wird sie bzw. er vom vermeintlich Wissenden zum erstmal Fragenden. Und werden die anderen vom Objekt zum Maßstab allen Sprechens – und nicht nur des Sprechens, sondern auch des Handelns, der Verkündigung, von Kirche-Sein überhaupt.

Ob die Botschaft der Bibel – der Basis von Kirche, Glauben und Pastoral – in Zukunft wieder für alle verständlicher werden kann, hängt davon ab, ob es gelingt, diesen Perspektivenwechsel endlich ernst zu nehmen. Vielleicht steckte in Angela Merkels Geschenk ja auch ein wenig von dieser Aufforderung Jesu: Geht von dem aus, was die Menschen sagen, dass sie brauchen – und nicht von dem, was ihr glaubt, dass sie brauchen sollten!

Weitere Informationen fidnen sie unter: www.evangelium-in-leichter-sprache.de

Buchinweis:

Biblische Texte sind nicht immer einfach zu verstehen. Auch regelmäßige Gottesdienstbesucher/innen haben damit oft Probleme. Um wieviel mehr Menschen mit Lernbehinderung oder solche, die (noch) nicht so gut Deutsch sprechen. Dieses Buch bietet alle Evangelien des Lesejahres C in Leichter Sprache. Zu jedem Text finden sich Erläuterungen zur Übertragung sowie Vorschläge für die Katechese.

 

Bibel in Leichter Sprache. Evangelien der Sonn- und Festtage im Lesejahr C. Verlag Katholisches Bibelwerk, 280 Seiten, gebunden, € 49,95 (D), € 51,40 (A), CHF 70,00.

Zuletzt aktualisiert: 20. Dezember 2021
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