Mir wird vieles geschenkt
Vor einiger Zeit besuchte ich ein mir sehr nahe stehendes 75-jähriges Ehepaar. Marlene, die Ehefrau, ist seit etwa zwei Jahren an Morbus Alzheimer erkrankt. Ihr Zustand überraschte mich insofern, weil sie sehr wach, aufgeweckt, manchmal sogar spitzbübisch reagierte. Bei einem früheren Besuch saß sie gebeugt im Stuhl, stumpf vor sich hindämmernd und antwortete auf Fragen mehr oder weniger richtig, wenn nicht ausweichend. Bekanntlich aber verläuft die Krankheit in Phasen mit lichteren Momenten und erschreckend deprimierenden Anteilen. Bei der Begrüßung jetzt, erkannte sie mich und war emotional sichtlich gerührt.
Im kommenden Jahr ist das Paar 50 Jahre verheiratet. 50 arbeitsreiche Jahre, in denen sie Freud und Leid miteinander teilten, Krankheiten und andere Krisen gemeinsam bewältigten.
Verpuffte Träume. Sie freuten sich auf ihren Ruhestand, um dann auch den einen und anderen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. So reisten sie nach der Pensionierung des Ehemannes Klaus, jeden Winter für drei Monate in wärmere Regionen. Das milde Klima, die warmen Sonnenstrahlen, zu einer bei uns feucht-kalten Jahreszeit, bekam ihnen sichtlich gut.
Vor zwei Jahren dann, veränderte sich ihre heile Welt mit einem Schlag. Bei einem gemeinsamen Einkauf war Marlene, plötzlich verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Alles Suchen und Nachfragen blieben ergebnislos. Eine entsetzlich hilflose Situation. Irgendwann zu später Stunde kam ein polizeilicher Anruf aus einer entfernten Großstadt, dass Marlene sich auf einem dortigen Polizeirevier befinde. Es ließ sich rekonstruieren, dass sie zum Bahnhof geeilt war, sich in einen Zug gesetzt hatte und in dieser besagten Großstadt ausgestiegen war. Ihr hilfloses Suchen dort, hatte die Aufmerksamkeit einer Reisenden erregt, die sie bei der Polizei ablieferte. Sie trug keine Ausweispapiere mit sich, wusste nicht wer sie war und wo sie wohnte. Durch die Telefonnummer ihrer Freundin, die man in der Tasche fand – sie wohnt in einer weit entfernten Region -, konnte ihre Identität ausfindig gemacht werden.
Abgrund des Vergessens. Nun mag man sich fragen, kam das von jetzt auf gleich? Marlene war zuvor nicht Besorgnis erregend aufgefallen. Die üblichen kleineren Vergesslichkeiten, mal einen Gegenstand verlegen und nicht auf Anhieb wieder finden, Situationen, die wir aus unserem Alltag alle kennen. Erste Anzeichen der Krankheit ließen sich bei Telefonaten feststellen: Jedes gesprochene Wort des Anrufers gab sie unmittelbar an Klaus weiter, der neben ihr saß. Fragen gab sie ebenfalls an ihn und ließ diese von ihm beantworten, um sie dann dem Anrufer am Telefon weiterzugeben.
Die Entwicklung der Krankheit nahm zunächst einen rapiden Verlauf. Inzwischen ist Marlenes Kurzzeitgedächtnis wie ausgelöscht. Sie kennt weder den Tag noch die Stunde, noch Wohnort und Straße. Räumliche und zeitliche Orientierung grenzen an eine komplette Orientierungslosigkeit. Die Speicherung von neuen Informationen ist abhanden gekommen. Eigene Gedanken kann sie nicht verbalisieren. Es treten Wortfindungsstörungen auf, sie setzt irgendein Wort ein, das in keinem Zusammenhang steht.
Marlenes kleine Abschiede. Sehr deutlich ist der Verlust der Spontaneität und der Verlust des eigenen Antriebs. Das bedeutet, dass sie die Körperpflege nicht selbst vornehmen, sich weder aus- noch ankleiden kann. Sie hat vergessen wie es geht. Sie kann, wenn man ihr die Gesichtscreme auf die Hand gibt, das Gesicht eincremen, aber sie hat vergessen, wann es genug ist, wann sie aufhören kann. Es besteht eine Harninkontinenz, das heißt sie hat das Gefühl einer vollen Harnblase und den damit verbundenen Gang zur Toilette vergessen. Marlene kann noch selbständig essen und trinken, allerdings bedarf es dazu ständiger Aufforderung. Den realistischen Bezug zum Essen hat sie verloren; wenn fünf Bananen in der Schale sind, isst sie sie allesamt hintereinander auf.
Eine sinnvolle Beschäftigung tagsüber ist nicht mehr möglich. Das Langzeitgedächtnis funktioniert noch so weit, dass die Kranke anhand von Fotos Personen erkennt, sie jedoch nicht namentlich benennen kann. An Situationen kann sie sich durch Bilder ebenfalls erinnern, aber sie kann die Situation nicht schildern.
Weggefährte Klaus. Für Klaus ist der Rollenwechsel vom Ehepartner zur Pflegeperson eine unglaubliche Herausforderung, die er zunächst nur mühsam bewältigen konnte. Neben den körperlichen Strapazen machen der Abschied von dem vertrauten Menschen – so wie er Marlene kannte -, der schmerzhafte Prozess des Loslassens von Gewohnheiten und das Hineinversetzen in die veränderte Lebenssituation diesen Liebesdienst manchmal zur Belastungsprobe. Klaus musste diese veränderte Lebenssituation erst einmal selbst durchleben, um entsprechend handeln zu können.
Er sagte mir, dass er den Wechsel vom Zwang bis zu dem freien Entschluss, seine Frau zu pflegen und seine Lebensaufgabe darin zu sehen, erst einmal lernen, aushalten, und annehmen musste. Bisher gültige Rollen musste er ablegen und andere erlernen. Mit seinen persönlichen Bedürfnissen, mit Ermüdungserscheinungen und mit der Aufopferung bis hin zu Ohnmacht und Enttäuschung musste er erst einmal umgehen lernen. Zu wissen, was Marlene für ein Mensch war, zu sehen, was ihr die Krankheit Stück für Stück nimmt und mit dem was übrig bleibt zu leben, ist menschlich gesehen eine Überforderung.
Last und Chance. Das Leben in dieser Weise zu meistern, ist eine Herausforderung sondergleichen und kann nur mit Kraft von oben und mit Gottes Gnade geleistet werden, meint Klaus.
Zu Beginn der Krankheit fiel es ihm schwer, darüber zu sprechen. Im Laufe der Zeit erfuhr er dadurch aber auch Entlastung. Er sagt selbst, dass ihm jetzt manches möglich ist, was er nie für möglich gehalten hätte. Er habe ungeahnte Kräfte entwickelt und ihm werde vieles geschenkt.
Klaus betreut seine Frau und hilft ihr, wie man einem kleinen hilflosen Kind helfen muss. Er führt sie zur Toilette und wechselt ihr die Windelhose. Er nimmt die Körperpflege vor und kleidet sie aus und an. Einmal pro Woche kommt eine Mitarbeiterin des sozialen Dienstes und badet Marlene. Das ist aber nicht immer möglich. Aus den Gedächtnisproblemen resultieren für den Alzheimer Kranken Angst und Unsicherheit. Diese Gefühle können sich sowohl in einem aggressiven wie auch in regressiven Verhalten äußern. In einer aggressiven Phase muss das Bad entfallen. Manchmal gelingt es später, wenn der Widerstand aufgehoben ist, das Bad nachzuholen.
Mit diesen aggressiven Reaktionen kann Klaus nicht gut umgehen. Das sind Momente, so sagt er, in denen er am liebsten davonlaufen möchte. Schnell jedoch kehrt die Vernunft zurück und er weiß, dass er das nicht kann, weil er sich in der Verantwortung sieht, bemerkt er. Zu Beginn der Krankheit bezogen sie das Essen auf Rädern. Schon bald entschloss sich Klaus zu handeln und mutig zuzupacken. Ohne spezielle Anleitung lernte er Kochen und Backen, ein Tun, das ihm bisher völlig abging. Er macht das inzwischen sehr gut. Alles muss pünktlich nach der Uhr verlaufen, denn seine Frau hat einen insulinpflichtigen Diabetes mellitus. Den Umgang mit der Stoffwechselerkrankung hat er fest im Griff. Das Kochen, so sagt er, hätte sein Hobby werden können. Klaus serviert Marlene das Essen und ermuntert sie mit viel Geduld zuzugreifen. Er regelt den gesamten Haushalt, vom Einkauf (wenn Marlene noch schläft), übers Kochen und Waschen bis zum Putzen.
Eingespieltes Team. Durch Marlenes ständigen Weglaufdrang (dieser ist/kann Alzheimer Kranken eigen sein), muss er stets auf der Hut sein, Türen verschlossen zu halten, andererseits ist er sehr bedacht, ihr nicht das Gefühl des Eingeschlossenseins zu vermitteln. Und so kommt es doch immer wieder einmal vor, dass Marlene in einem unbedachten Moment ein Schlupfloch gefunden hat.
Zum Spazierengehen ist sie nicht zu bewegen, sie klagt über schmerzende Füße und Beine. Das bedeutet gleichzeitig für Klaus, dass auch er völlig eingeschränkt ist. Konnte er sie doch einmal überreden, so fällt auf, welch eingespieltes Team sie sind. Ein Anstieg erscheint Marlene unüberwindlich, Klaus gibt ihr ein Zeichen, ergreift sie an der Hand und zieht sie den Hügel hinauf. Dabei sinniert Klaus über die Treueformel bei der Hochzeit und sagt vor sich hin: :...lieben und die Treue halten in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit. – Damals, so sagt er, war mir die Bedeutung dessen nicht bewusst, aber jetzt gilt es genau das einzulösen. An Familienfesten und -feiern können sie nicht teilnehmen, obwohl es für Klaus eine gute Abwechslung sein würde. Es sind zu viele Komplikationen damit verbunden: Für Marlene ist es wichtig, in der vertrauten Umgebung zu sein, denn selbst diese hält Tücken für sie bereit. Ein Ortswechsel würde sie zusätzlich verwirren.
Klaus sieht außerdem die hygienischen Gesichtspunkte. Zu Hause hat er entsprechende Vorsorge getroffen. Hinzu kommt, dass er Marlenes Reaktionen nie abschätzen kann und mit Vernunft kann er bei ihr nichts erreichen. Eine andere, entscheidende Frage ist für Klaus die der Würde. Es schmerzt zu sehr, seine Frau in dieser Hilflosigkeit anderen Menschen auszuliefern. Und so wird Klaus auch hier in eine Isolation gedrängt.
Dankbar angenommen. Wenn ich oder andere Klaus fragen, wie es geht, wie er mit der Situation fertig wird, antwortet er stets: Gut, ich bin dankbar, denn es könnte wesentlich dramatischer sein. Nach dem jetzigen Stand kann ich die Pflege noch zehn Jahre übernehmen, allerdings darf ich nicht krank werden.
Bei meinem letzten Besuch machte ich Klaus den Vorschlag, Marlene für zwei, drei Wochen zu betreuen, damit er einmal ausspannen, verreisen könne. Er lehnte ohne große Überlegung mit der Begründung ab, er hätte dann keine ruhige Minute und würde doch stets an Marlene denken und sich ständig fragen, wie sie sich verhalte, ob ich mit ihr zurecht käme und Ähnliches. Außerdem möchte er sich nicht beklagen. Ein Bild von Liebe und Treue!