Mit dem Mut der Verzweiflung
Hundertausende polnische und deutsche Juden hatte die SS bereits aus dem Warschauer Ghetto in Vernichtungslager deportiert. Als die deutschen Soldaten am 19. April 1943 erneut in die Straßen des Sammellagers eindringen, fallen Schüsse. Mit letzter Kraft und Hoffnung kämpfen die jüdischen Widerstandstruppen gegen ihre Vernichtung.
„Einige zehntausend ausgemergelte, verzweifelte, ungewaschene Gesichter. Mütter mit Kindern auf dem Arm, weinende Kinder, den Müttern mit Gewalt entrissen. Massen, Massen und immer wieder diese Massen, die hin und her irren, mit verzweifelten Blicken. Der Zug nimmt kein Ende. Und diese Selektionen finden statt, und ein Teil kehrt zurück, doch die Mehrheit – einige zehntausend – wird zum Umschlagplatz geführt.“ Diese Beobachtungen stammen vom 6. September 1942 im Warschauer Ghetto. Im Zuge der „Endlösung der Judenfrage“ sollte das von einer Mauer umgebene Sammellager westlich der Warschauer Altstadt aufgelöst werden. Schon seit Juli hatte die SS in Deportationswellen einen Großteil der dort internierten polnischen und deutschen Juden ins Vernichtungslager Treblinka abtransportiert. Von den einst 460.000 auf engstem Raum eingepferchten Menschen waren im Frühjahr 1943 nur mehr um die 70.000 übrig.
Ein Funken Hoffnung in der Dunkelheit
Errichtet wurde das Lager Mitte des Jahres 1940. Hunger und Elend bestimmten von Beginn an den Alltag im Ghetto. Den menschenunwürdigen Zuständen fielen Tausende zum Opfer, darunter viele Kinder. Alte, Behinderte und Gebrechliche wurden oft direkt auf den Straßen liquidiert. Jene, die 1943 noch im Lager waren, hatten bereits alles und jeden verloren. Aus ihrer Verzweiflung und Wut formierte sich der aussichtslosen Lage zum Trotz der Wille zum Aufstand. Lieber wollten sie im Kampf sterben als im Todeslager. Verschiedene jüdische Widerstandsgruppen vereinten nun ihre Kräfte, allen voran der jüdische Militärverband ŻZW (Żydowski Związek Wojskowy) und die jüdische Kampforganisation ŻOB (Żydowska Organizacja Bojowa). Zu deren führenden Kommandeuren gehörten auch Marek Edelmann (1919-2009) und Mordechaj Anielewicz (1919-1943). Anielewicz war zudem wesentlich an der Organisation des Aufruhrs beteiligt. Bereits im Januar kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Widerstandskämpfern und SS-Soldaten. Niemand hatte sich zur Deportation gemeldet, so marschierten 1.000 Mann unter dem Oberbefehl von Ferdinand von Sammern-Frankenegg (1897-1944) am 18. Januar 1943 tiefer in das Ghetto hinein. Dort wurden sie nach Partisanenart von den Aufständischen angegriffen. Zwar besaß der ŻZW dank seiner Kontakte zum polnischen Widerstand einige Waffen, aber gerade einmal jeder Zehnte konnte damit ausgestattet werden. Nach vier Tagen gelang es dennoch, die Soldaten aus dem Ghetto zu vertreiben. Allein die menschlichen Verluste auf Seiten der Widerständler waren mit 80 % enorm. Dennoch blieben weitere Deportationen vorübergehend aus, und die Überlebenden bereiteten sich mit dem Mut der Verzweiflung auf den nächsten, finalen Angriff vor.
Der Aufstand beginnt
Vor 75 Jahren am 19. April 1943 um 3 Uhr umstellten deutsche Truppen das Warschauer Ghetto. Es war die jüdische Festwoche Pessach, in der an die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten erinnert wird. Gegen 6 Uhr marschierte die SS mit 850 Mann in die Straßen hinter der Mauer und wurde sofort beschossen, der mitgeführte Panzer geriet im Hagel aus Molotowcocktails in Brand. Die Soldaten waren zum Rückzug gezwungen. Ein Funke Hoffnung muss für einen Augenblick unter den Widerständlern aufgeglimmt sein, ihm sollten vier Wochen der Zerstörung folgen. Um 8 Uhr desselben Tages leitete SS-General Jürgen Stroop (1895-1952) den nächsten Vormarsch ein. Der Kampf bis zum bitteren Ende hatte nun begonnen. Schon in den ersten Tagen steckten die Deutschen, bestückt mit Flammenwerfern, Haus um Haus an. Getrieben vom Rauch flüchtete die Bevölkerung des Ghettos aus den Bunkern in die Kanalisation. Einigen gelang so die Flucht. Dann warteten auch dort an den Ausgängen hinter der Mauer Soldaten, die auf fliehende Männer, Frauen und Kinder schossen. „In der Kanalisation schwammen Leichen und Ratten. Es war schrecklich“, erinnerte sich die damals elfjährige Krystyna Budnicka.
Gefecht um Gefecht verloren die Widerstandstruppen ihren Kampf ums Überleben gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Gegner. Am 8. Mai leiteten die Deutschen Gas in den entdeckten Kommandobunker, Anielewicz und weitere starben, andere begingen Selbstmord. Am 16. Mai 1943 ließ Stroop die Synagoge sprengen und vermerkte in seinem Tagesbericht: „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk Warschau mehr.“
Grausame Bilanz
Während im Ghetto die Häuser brannten, Schüsse knallten und Straßenschlachten tobten, ging im übrigen Warschau außerhalb der Mauern das Leben unverändert weiter. Dieses „Alleinsein der Opfer“ angesichts der Gleichgültigkeit ihrer Mitmenschen zeigt im Warschauer Ghetto-Aufstand sein tragisches Gesicht. Schätzungen zufolge starben in jenen Wochen etwa 12.000 Menschen. Weitere 30.000 wurden im Anschluss erschossen und um die 7.000 doch noch in Vernichtungslager deportiert. Kleinere Gruppen kämpften unaufhörlich weiter, weit über das von den Deutschen offiziell verkündete Ende hinaus. Als einer der wenigen hat Marek Edelmann das Grauen des Ghettos und den Aufstand überlebt. Bis zu seinem Tod engagierte sich der spätere polnische Politiker für eine friedliche, von Verhandlung geprägte Konfliktlösung und gegen das Töten.