Neue Nähe zum göttlichen Kind
Die Tage sind kürzer geworden − und die Menschen verbringen wieder mehr Zeit in ihren Häusern und Wohnungen. Der Advent, die Vorbereitungszeit auf Weihnachten, ist angebrochen. Wie erleben Menschen in den Altenheimen diese besonderen Tage im Jahr?
Auch in den Altenheimen ist die Advents- und Winterzeit eingekehrt – unübersehbar ist die entsprechende Dekoration in den Fluren, Aufenthaltsräumen und Zimmern der Bewohner. Überall hängen Tannenzweige an den Wänden oder stehen Adventskränze mit Kerzen auf kleinen Tischchen. Für die Bewohner ist es wichtig, den Jahreskreislauf – gerade den kirchlichen – zu erleben und nach Möglichkeit auch mitzufeiern. Viele Menschen in Heimen leben in dieser Zeit ganz besonders in und mit ihren Erinnerungen aus vergangenen Zeiten, und so manches Gespräch dreht sich um ihre früheren Erlebnisse mit der Familie. „Bei uns, da war das immer so...", „Als ich noch klein war, da waren wir Kinder immer ganz aufgeregt", „Natürlich war das eine ganz andere Zeit und die Geschenke viel kleiner, aber zu Nikolaus gab es bei uns in der Eifel doch immer etwas Besonderes ..." Die wiederkehrende Adventszeit wird so Anlass, sich an die eigene Lebensgeschichte zu erinnern. Oft sind die alten Menschen dankbar für das Gute, das sie erfahren durften, aber manchmal auch ein wenig bitter. So muss auch Maria G. in diesen Tagen mühsam ihre Traurigkeit zurückdrängen. Zu weit weg scheint die vermeintlich oder wirklich schönere Vergangenheit gerade auf Weihnachten hin zu sein. „Meine Familie, sie ist ganz verstreut, sie hält unsere Tradition nicht aufrecht, ja könnte es auch beim besten Willen gar nicht. Und an Weihnachten", so fügt die über Neunzigjährige hinzu, „da bin ich schon froh, wenn einer ein bisschen Zeit hat und mal vorbeischaut. Das war doch früher ganz anders." Solche Gedanken der Einsamkeit begegnen dem Besucher in den Altenheimen gerade in der Weihnachtszeit und rund um den Jahreswechsel häufiger. Vielleicht weil das Weihnachtsfest traditionell in Deutschland als Familienfest gefeiert, und daher der „Verlust" von Familie besonders deutlich und schmerzhaft erlebt wird. Natürlich gibt es auch die anderen Erfahrungen, dass die Senioren von ihren Familien besucht werden oder gar in die Familien ihrer Kinder oder Enkel eingeladen sind. Ein wenig beneidet werden sie dann schon – von denen, die im Heim bleiben „müssen". „Alle geben sich hier doch so viel Mühe, wir haben wöchentliches Adventssingen und Backen, wir hören Geschichten und feiern besondere Gottesdienste", so eine andere Bewohnerin, „aber ich vermisse trotzdem meine Kinder und Enkelkinder." So ist es kein Wunder, dass in der Advents- und Weihnachtszeit die Besuche der Seelsorger ganz besonders geschätzt werden. Dann kann Bedrückendes einmal ausgesprochen werden, und auch Tränen dürfen fließen.
Kindlicher ZUgang
Aber es gibt auch andere Erfahrungen. So die Geschichte von Johanna K., der die „Familienbedeutung" von Weihnachten weniger wichtig erscheint. Sie war nie verheiratet und hat von daher den Heiligen Abend zumeist alleine verbracht. Sie freut sich heute, dass das Gemeinschaftsangebot im Advent in ihrem Seniorenheim so ausgeprägt ist und sie sich so einstimmen kann auf das Weihnachtsfest. Die alten Lieder zu singen, die sie fast alle noch auswendig kann, und die Gedichte zu hören, die sie in längst vergangenen Schultagen lernen musste und an die sie sich bis heute noch erinnert, das sind schöne Momente für sie. Auch die religiöse Dimension des Weihnachtsfestes ist ihr heute, im Alter, näher als in früheren Jahren. „Damals", so erzählt sie, „hatte ich dafür anscheinend nie richtig Zeit, oder ich habe sie mir eben nicht genommen. Natürlich bin ich in die Gottesdienste gegangen, aber eigentlich eher, weil es einfach dazugehörte. Heute denke ich oft über die Weihnachtsbotschaft nach, ich hab ja viel mehr Zeit als früher." Johanna K. lächelt und fährt fort: „Dass Gott Mensch geworden ist, das sagt sich so leicht dahin, aber was es wirklich bedeutet, das kann man wohl nur erahnen. Gott als kleines wehrloses Kind, das ist schon eine unglaubliche Geschichte." Der Menschwerdung Gottes in diesem kleinen Kind in Bethlehem fühlt sie sich im Alter auf eine neue Weise ganz nahe. „Nein, kindisch bin ich Gott sei Dank nicht geworden, aber irgendwie doch kindlicher – und das meine ich ganz positiv. Ich habe so vieles abgeben müssen, bin wieder angewiesen auf andere und muss so viel Vertrauen haben wie ein Kind, irgendwie ist mir Gott an Weihnachten viel näher als früher." Das Gespräch mit Frau K. wird auch für mich unversehens zum Geschenk. Denn die Rede vom menschgewordenen Gott, der uns nahe kommt, ist für die alte Dame ein Stück Realität geworden. Und so frage ich mich unwillkürlich, ob die Menschen, die so tatkräftig und voller Energie mitten im Leben die Welt gestalten, sich dadurch nicht auch einen möglichen Zugang zu Weihnachten erschweren.
Licht in dunkler Nacht
Aber in all diese Gedanken hinein erstrahlen die Adventskerzen in den Altenheimen genau wie in den anderen Häusern. Sie verbreiten ein Licht, das vom Triumph des Lebens über den Tod spricht. Gerade die Zeichenhaftigkeit dieser Zeit ist ein besonderes Geschenk für diejenigen, die sich nur noch wenig artikulieren können oder – weil an Demenz erkrankt – für Außenstehende nur schwer zu erreichen sind. Das Kerzenlicht lässt auch die Augen derjenigen strahlen, deren Mund keine verstehbaren Worte mehr formulieren kann. Und das Lied von der Tür, die hochgemacht wird für den Herrn der Herrlichkeit, zaubert auch ein Lächeln auf Gesichter, die sonst abwesend scheinen.