Niklaus' Friede und Dorotheas Ja

01. Juni 2017 | von

Zum 600. Geburtstag des Schweizer Friedensheiligen setzt eine Doppelbiografie bei der Geschichte des Ehepaares an. Welchen Weg ist die Gattin gegangen – bevor sie den Bauern auf dem Sachslerberg kennenlernte? Durch 20 Ehejahre? Als Mutter der zehn Kinder, von denen Niklaus sich mit 50 Jahren verabschiedete? Danach alleinerziehend? Was wurde aus ihr, was aus den Söhnen und Töchtern? Wie erlebte sie das gemeinsame Leben, die Krise ihres Mannes und seinen Weggang? Und was hat sie modernen Menschen in heutigen Beziehungs- und Familiengeschichten zu sagen? Um die Zusammenschau der beiden Lebenswege geht es dem Buch „Fernnahe Liebe“. Ermutigungen daraus stellt der Mitautor des Buches hier zusammen.

Die Lebenswelt der von Flüe liegt im Mittelalter. Es ist zunächst eine typische Familiengeschichte unter Viehzüchtern im Alpenraum vor 1500. Wir wissen heute, wo junge Paare damals in Obwalden zu Tanze gingen, was auf den Märkten in Sarnen und Luzern gekauft wurde, und dass Innerschweizer jährlich 10.000 Stück Vieh über vier Pässe auf Norditaliens Märkte trieben. Was erlebt ein 14-jähriges Mädchen, das mit einem 30-jährigen Bauern verheiratet wird, dazu die Talseite wechselt und in 20 Jahren zehn Kinder zur Welt bringt? Was bedeutet es für die Bäuerin, dass der Gatte öfter abwesend ist: auf Kriegszügen, im Rathaus, und dann tagsüber häufig in der stillen Schlucht, nachts im Gebet statt im warmen Bett? Dass der Liebste in seinen midlife-Jahren immer zerrissener wird, sich der Familie entfremdet und alle Ämter hinschmeißt? Viele Männer machten sich in Krise auf Pilgerschaft. Nach Monaten kamen sie oft mit neuer Klarheit und Hingabe zurück. Dorothea schneiderte ihrem Gatten ein Pilgergewand mit der Aussicht, dass er nicht wiederkehren könnte. Zwei Jahre rang er in einer immer stärkeren Sehnsucht mit ihr – und sie mit ihm. Als ihr Ja zu seiner Gottespilgerschaft geboren war, gewann Dorothea auch die Kinder: erwachsene Söhne, noch Pubertierende und die ganz Kleinen. Hätte die Mutter mit der neuen Berufung ihres Mannes gehadert, das Ja der Kinder wäre unmöglich gewesen, in dem Niklaus eine Gnade des Himmels erkannte.

Zweimal zwanzig Ehejahre
Niklaus täuschte sich – so gut er auf den Himmel und mit Dorothea gehört hatte! Tage, nachdem er Frau und Kinder ein letztes Mal umarmt hatte, kam der Pilger zurück. Nicht in der Fremde, sondern auf eigenem Grund sollte er seine zweite Berufung erfüllen: wenige Schritte vom Haus der Familie entfernt, als Ratgeber aus der Stille und als Friedensstifter. Allzu sorgsam, erhielt Dorothea zunächst Besuchsverbot in der Schlucht. Der älteste Sohn brachte die Fastenspeisen in den Ranft, bis der Vater gar nichts mehr aß. Dorothea wob ihm dafür die Eremitenkutte – und in diese hinein ihr neues Ja: das vierte nach dem Ja der Ehe, dem Ja zu Kindern und dem Ja zum Aufbruch des Gatten. Und sie prägte sein Leben im Ranft mit. Besucher, die zu Niklaus abstiegen, klopften auch bei Dorothea an. Sie selbst war unten an der Melchaa anzutreffen, feierte die Gottesdienste in der Ranftkapelle mit und päppelte Bruder Ulrich wieder auf – den Nachbar-Eremiten aus Memmingen, der das Totalfasten auch versuchte und nicht verkraftete. Dorothea erlebte zweimal 20 Ehejahre, die zweite Hälfte äußerlich getrennt, doch innerlich tiefer verbunden. Ihr Jüngster, Niklaus junior, lernte beim Ranftkaplan Latein und studierte dank Vaters europäischer Berühmtheit an den Universitäten von Basel, Paris und Pavia. Er wurde später Pfarrer in Sachseln, während seine ältesten Brüder als militärische Haudegen unter die regierenden Landammänner der Talschaft aufstiegen. Dorothea feierte die Hochzeiten ihrer Töchter und die Taufe der Enkelkinder mit, während Niklaus für sie alle betete.

Gemeinwohl – sozial und familiär
Dorothea und Niklaus hatten ein Gespür dafür, dass es ohne sorgsame Mitgestaltung der Gesellschaft kein privates Glück gibt. Im bäuerlichen Alltag wie in Niklaus’ politischen Ämtern zeigt sich, wie hoch das Paar das gemeinsame Wohl der Menschen in Dorf, Tal und Schweizer Bund schätzte. Zeitkritische Beobachter sehen unsere moderne Gesellschaft egozentrische Selbstverwirklichung kultivieren. Aus dem Engagement des Bauern, von Dorothea in seinen Ämtern unterstützt, und seiner Wirksamkeit als Ratgeber sprechen politische Wachheit und Mitverantwortung, die auch tief unten in der Schlucht keinen Rückzug in private Oasen zuließen.
Im Zusammenspiel ließen Bäuerin und Bauer ihren Hof florieren und eine Großfamilie heranwachsen. Dem Erfahrungsschatz der alpinen Gesellschaft entsprechend, gab es klare Rollen für Mann und Frau, Eltern und Kinder. Heutige Vorstellungen von idealer Partnerschaft setzen Gleichberechtigung mit „fifty-fifty“ gleich. Gleichstellung darf aber nicht auf Gleichmacherei hinauslaufen. Dorothea und Niklaus setzen ihre unterschiedlichen Talente für das gemeinsame Ganze ein – und verändern im Lauf der Zeit ihre Rollenverteilung: Nach Niklaus’ Weggang übernimmt Dorothea in einem neuen Zusammenspiel gemeinsam mit den zwei erwachsenen Söhnen die Verantwortung für Hof und Großfamilie. Mit Blick auf die Kleinsten wirken ältere Geschwister als Miterziehende und der Vater im nahen Ranft als Begleiter.

Partnerschaft – bewegt und im Wandel
In zwanzig Ehejahren unter demselben Dach formen die Partner einander. In Niklaus’ Krisenzeit nimmt Dorothea seine wachsende Sehnsucht und Unruhe ernst, ringt mit ihm auf Augenhöhe, liest die gemeinsame Vergangenheit und öffnet sich zugleich einer neuen Zukunft. Auch als das Paar äußerlich getrennte Wege geht, lebt die partnerschaftliche Beziehung weiter. Dorothea ist zweimal 20 Jahre mit Niklaus verheiratet: Ihr Miteinander ist in der zweiten Halbzeit nicht mehr an das gemeinsame Dach und Bett gebunden, sondern findet in Fernnähe eine innere Verbundenheit – und eine Freiheit, die sich von gängigen Erwartungen und vertrauten Mustern löst. Auch moderne Beziehungsgeschichten kennen überraschende Wendezeiten. Paare wechseln nach Jahren in getrennte Schlafzimmer oder beziehen verschiedene Wohnungen. Ein vertrautes Nebeneinander weicht neuen Formen von Nähe und Zusammenspiel. Äußerliche Distanz eröffnet vielfach neue Chancen des Miteinanders in einer neuen Lebensphase. Der Blick auf die bewegte Geschichte von Niklaus und Dorothea kann uns heute auch die Frage stellen, wodurch wir selber Nähe definieren und woran wir eine tiefere Verbundenheit in Partnerschaft oder Lebensgemeinschaft messen?
Niklaus‘ und Dorotheas Paargeschichte spricht nicht nur in Partnerschaften, die um ihre Zukunft ringen, sondern auch in zerbrechende Beziehungen: Die beiden ermutigen Betroffene, das gemeinsam Erlebte loszulassen, eine neue Konstellation zuzulassen und sich auf eine neue Zukunft einzulassen. Selbst wenn der Partner oder die Partnerin sich gemeinsamer Verarbeitung entzieht, kann das dreifache Lassen, gut begleitet, persönlich gelingen. Niklaus und Dorothea glückt dies je individuell und gemeinsam. Im Durchleben, Verarbeiten und Neugestalten der gemeinsamen Geschichte trägt sie dabei – über gute Freunde hinaus – ihre je eigene Gottesbeziehung, wie es die moderne Ikone feinsinnig ausgedrückt.

Zehn Gründe, Niklaus  von Flüe auch heute zu feiern

Was verbindet Amos von Tekoa, den Gott vom Pflug weg zum Propheten berief, Ägidius von Assisi, den dritten Gefährten des Franziskus, und Bruder Klaus, den Schweizer Nationalheiligen? Sie alle stammen aus einfachsten Verhältnissen, arbeiteten mit den Händen und hatten keine oder nur einfache Bildung. Und alle wurden sie Zeugen Gottes in ihrer Zeit. Niklaus war Viehzüchter und Prophet wie Amos. Er wurde nach überaus aktivem Leben wie Ägidius Einsiedler und sein Ruf zog ebenfalls Kreise bis an den französischen Königshof. Als Franziskaner, der den Namen des Schweizer Nationalpatrons trägt, sehe ich zehn Gründe, den Friedensstifter zu feiern.

1. Bauer und Gottesfreund
Sie sind rar, die Bauern und Familienmänner, die ohne Martyrium oder Klosterjahre heiliggesprochen wurden. Niklaus gehört zu ihnen, obwohl des Lesens unkundig, ohne Schulbildung und theologischer Laie. Gottesfreundschaft setzt nicht viel Wissen voraus, sondern offene Augen, freie Hände und mutige Füße. 
2. Gespür für „mehr als alles“
Bereits als Jugendlicher hat Klaus sich öfter für stille Momente aus Spiel und Arbeit zurückgezogen. So tatkräftig er sich später als Jungbauer, Familienvater und Politiker für das Gemeinwohl einsetzt, behält er seinen Sinn für die Stille, die Himmel und Erde verbindet – den Sinn für „mehr als alles“, wie Dorothee Sölle Gott nannte.
3. Friedfertig in Konflikten
Die von Flüe lebten im friedlichsten Tal der Eidgenossenschaft. Viehexporte in die Lombardei führten Bauern aus Obwalden hinaus – und Kriegszüge gegen Zürich und Habsburg. Klaus folgt nur militärischen Aufgeboten des Landammanns. Wilde Raubzüge sind ihm ein Gräuel. Im Thurgau verhindert er die Plünderung eines Frauenklosters, denn auch der Krieg hat seine Ethik. Keine Gewalt ist heilig, und Friede zu bringen, trug Jesus seinen Freunden auf.
4. Konfliktfähig in der Kirche
Von seiner Kirchgemeinde in den Rat der Talschaft entsandt, scheut sich Klaus nicht, den eigenen Pfarrer seiner Raffgier wegen vor Gericht anzuklagen. Gegen Privilegien der mächtigen Abtei Engelberg spricht er in einem Schiedsgericht den Stansern die freie Pfarrwahl zu. Einem Abt, der ihn im Ranft besucht, hält er schmutzige Geschäfte hinter dem Rücken seiner Mönche vor Augen. Der Bauer Klaus erinnert dabei an Amos’ Kritik an Israels Priestern und Mächtigen.
5. Gerechtigkeitssinn
Als Ratsherr widersetzt er sich auch in der Politik und im Gericht korrupten Kollegen, die schon damals Steuerflucht zulassen und aus kriminellen Einbürgerungen Profit schlagen. Gerechtigkeitssinn lässt kein Schweigen zu, wo Unrecht geschieht, selbst wenn freimütige Kritik ins Abseits führt und gegen gewählte Mehrheiten machtlos ist.
6. Mit den Liebsten ringen 
Klaus gerät in eine tiefe Sinnkrise – und ringt mit sich, Gott und seiner Liebsten. Dorothea begreift in vielen Gesprächen, dass eine tiefere Unruhe ihren Liebsten treibt. Sein Aufbrechen „in ein Land, das Gott ihm zeigen würde“, könnte ohne Rückkehr sein. Wozu auch immer der Höchste ihren Gatten ruft, sie schneidert ihr Ja in ein Pilgerkleid. Sie hilft Klaus, auch das Ja ihrer Kinder zu gewinnen.
7. Sich spirituell irren dürfen
Klaus kommt nur fünf Tage weit, bis ihn eine Umkehrvision vor Basel zurücksendet: Nicht der Weg in die Fremde ist Gottes Wille, sondern das Leben eines Einsiedlers in der Heimat. Nicht zum Pilger ist er berufen, sondern zum Propheten. So lang und innig das persönliche und gemeinsame Ringen gewesen ist, Gottes Wege finden sich bisweilen auf Umwegen – und in bleibender Wachheit.
8. Ehe im Wandel leben
Dorothea webt ihr viertes Ja, nach denen zur Ehe, zu Kindern und zum Aufbruch des Liebsten. Sie webt Klaus das Eremitenkleid, das er in der nahen Schlucht trägt. Zwanzig gemeinsamen Jahren am Familientisch folgen zwanzig weitere Ehejahre in einer neuartig fruchtbaren Konstellation
9. Gottes- und Menschenliebe
Klaus’ Zelle hat drei Fenster: eines in die Kapelle und auf den Altar, eines für eintreffende Menschen und eines in die wilde Schöpfung. Stille Zeiten allein mit Gott schenken Klarheit und Weisheit für Gespräche mit Ratsuchenden, die bald auch aus Italien, Sachsen und dem Elsass eintreffen.
10. Reformatorische Werte vor 1517
Das Meditationsbild des Einsiedlers weist auf die Reformation voraus: Orientierung vermitteln die vier Evangelisten (sola scriptura) in den Eckpunkten, die Mitte ist Christus (solus Christus) und der Heilige Geist schafft tiefste Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen – wie in Maria (sola gratia).

 

Zuletzt aktualisiert: 28. Juli 2017
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