Organspende – freiwillig oder vorbestimmt?
Die Volksabstimmung ist ein Kennzeichen der direkten Demokratie. Diese Form direkter Mitentscheidung aller Bürger und Bürgerinnen ist besonders in der Schweiz ausgeprägt. Am 15. Mai sind alle Stimmberechtigten in der Schweiz zu den Urnen gerufen, um über drei verschiedene Themen ihr Votum abzugeben. Eine der Abstimmungen betrifft eine Änderung des Transplantationsgesetzes.
Transplantationen sind heute Standard bei der Behandlung von endgradigen Organerkrankungen. Die Medizin konnte im Laufe des 20. Jahrhunderts in diesem Bereich große Fortschritte machen. Vielen sind vielleicht noch die Schlagzeilen in Erinnerung, als im Dezember 1967 der südafrikanische Herzchirurg Christiaan Barnard und sein Team erstmals eine Herztransplantation durchführten. Der damalige Patient starb nach wenigen Wochen an einer Lungenentzündung. Doch seit den 70iger Jahren ist es zunehmend gelungen, durch neu entwickelte Medikamente die körpereigene Abwehr zu unterdrücken und so die Transplantation von Organen erfolgreicher zu ermöglichen. Durch die Fortschritte in der Medizin ergab sich nun aber ein neues Problem. Der Bedarf an Organspenden lag und liegt deutlich höher als die tatsächlichen Organspenden.
Gesetzlicher Rahmen
Seit etwa 25 Jahren setzen sich die Gesetzgeber mit dem Thema Organspende auseinander. In Deutschland gibt es seit 1997 ein Transplantationsgesetz, in der Schweiz seit 2004. In beiden Ländern ist die Zustimmung des Spenders (oder der engsten Angehörigen) Voraussetzung für eine Transplantation („Zustimmungslösung“). Aufgrund der großen Lücke zwischen Bedarf und tatsächlichen Organspenden haben viele europäische Länder inzwischen eine andere rechtliche Basis für die Organentnahme geschaffen. In Italien, Frankreich, Spanien und Österreich gilt nun die sogenannte „Widerspruchslösung“: Alle Verstorbenen gelten nun als mögliche Organspender, es sei denn, sie haben der Organentnahme ausdrücklich widersprochen. Wenn Angehörige in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden, spricht man von einer „erweiterten Widerspruchslösung“.
In Deutschland scheiterte der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn im Jahr 2020 mit dem Vorhaben, die Widerspruchslösung als neue gesetzliche Grundlage der Organentnahme durchzusetzen. Die Zustimmungslösung blieb weiterhin bestehen, ergänzt durch regelmäßige Befragungen der Bürgerinnen und Bürger nach ihrer Bereitschaft. Sie bekommen nun regelmäßig Post von ihren Krankenkassen zu diesem Thema.
Widerspruch oder Zustimmung?
In der Schweiz wurde die aktuelle Debatte durch eine Initiative junger Menschen aus der Westschweiz ausgelöst. Alle sind Mitglieder der Jeune Chambre Internationale (JCI) Riviera, die sich selbst als internationale, gemeinnützige, unpolitische und konfessionslose Organisation bezeichnet. Sie starteten eine Volksinitiative für Organspende, übergaben der Bundeskanzlei am 22. März 2019 113.000 Unterschriften und erfüllten damit die Kriterien für eine Volksabstimmung.
Sie fordern eine Neuregelung des Transplantationsgesetzes in Form der Widerspruchslösung.
Auf diese Volksinitiative reagierte das Parlament und beschloss im Herbst 2021 eine Änderung des Transplantationsgesetzes. Beide gesetzgebenden Kammern (Nationalrat und Ständerat) verabschiedeten mit deutlicher Mehrheit eine Änderung von der Zustimmungslösung zur Widerspruchslösung. Da sie in ihrem Gesetz die Rolle der Angehörigen stärker berücksichtigen, bezeichnet man ihren Entwurf als „erweiterte Widerspruchslösung“.
Gegen diese Gesetzesänderung vom 1.10.2021 formierte sich Widerstand und führte zu einem Referendum in dieser Frage. Am 20. Januar 2022 konnten die Initiatoren der Bundeskanzlei 55.000 Unterschriften vorlegen, so dass es nun am 15. Mai zur Volksabstimmung kommt. Dem geänderten Gesetz („erweiterte Widerspruchslösung“) steht nun das Referendum („Organspende nur mit Zustimmung“) gegenüber.
Der Standpunkt der Kirche
Die Katholische Kirche hat sich in dieser Debatte schon seit Jahrzehnten klar positioniert. Eine Organspende muss ein bewusster und freiwilliger Akt sein. Das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit ist ein grundlegendes Menschenrecht, auch einer verstorbenen Person. Wenn schon in der gesamten Medizinethik das Prinzip der „informierten Zustimmung“ gilt, ohne die keine Behandlung durchgeführt werden kann, so gilt dies ebenso in der Frage der Organentnahme. Im Katechismus der Katholischen Kirche ist dies so formuliert: „Organspenden können Leben verlängern oder Lebensqualität erhöhen; deswegen sind sie ein echter Dienst am Nächsten, sofern Menschen nicht dazu gezwungen werden.“ (Nr. 2296) Eine Antwort auf die Frage der Organspende zu finden, bleibt eine Herausforderung für jede und jeden Einzelnen. Auch Volksabstimmungen oder Gesetzesänderungen können einer und einem diese Entscheidungsfindung nicht abnehmen.