Passion mit Leidenschaft
Vom 16. Mai bis 4. Oktober 2020 finden die 42. Oberammergauer Passionsspiele statt. Seit dem Jahr 2014 werden sie zum „immateriellen Kulturerbe“ der UNESCO gezählt. Die „New York Times“ erkor Oberammergau für das Jahr 2020 als einen der „places to go“. Passend zur Fastenzeit widmet sich unser „Thema des Monats“ dem bekanntesten Passionsspiel der Welt.
Cengiz Görür wurde im Eiscafé entdeckt. Aber nicht irgendwo, sondern in Oberammergau – und nicht von irgendwem, sondern von keinem geringerem als Christian Stückl. Der gebürtige Oberammergauer inszeniert im Jahr 2020 zum 4. Mal die berühmten Passionsspiele. Auf seinen „jüngsten Judas aller Zeiten“ ist er stolz, liegt ihm doch die Integration von Kindern und Jugendlichen in die jahrhundertelange Tradition der Passionsspiele am Herzen. Nicht zuletzt deshalb finden in diesem Jahr vom 7.-10. Mai zum ersten Mal „Jugendtage“ statt. Etwa 8.000 Teilnehmer/innen zwischen 16 und 26 Jahren werden erwartet. Auf ihrem Programm steht die Teilnahme an einem Probespiel, aber auch eine Podiumsdiskussion, ein kirchliches Begleitprogramm und Begegnungen mit den Darstellern. Rochus Rückel, einer der beiden Jesus-Darsteller, ist überzeugt: „Das wird auf jeden Fall cool. – Ein ganz neuer Versuch, Jesus den Menschen näher zu bringen. Und dafür muss ich nicht Christ sein.“ Nach dem jugendlichen Auftakt im Mai beginnt dann die „normale“ Passionssaison.
Versprechen im Pestjahr
Die Oberammergauer Passionsspiele blicken auf eine lange Tradition zurück und finden ihren Ursprung im Katastrophenjahr 1633. Als „Pestjahr“ ging es in die Annalen Oberammergaus ein. Immerhin 80 Menschen fielen damals dem schwarzen Tod zum Opfer. Vor dem Kreuz, das sich heute am rechten Seitenalter der Oberammergauer Pfarrkirche befindet, legten die Dorfbewohner in ihrer Not schließlich ein Gelübde ab: Wenn sie von weiteren Opfern durch die Pest verschont blieben, würden sie beginnen, regelmäßig ein Passionsspiel aufzuführen. In seinem originalen Wortlaut ist das Gelübde leider nicht mehr erhalten, eine um 1730 entstandene, mittlerweile allerdings auch verschollene Dorfchronik, weiß aber von der damaligen Not und dem abgelegten Versprechen zu berichten: „In diesen Leydweßen sind die Gemeinds-Leuthe Sechs und Zwölf zusammen gekommen, und haben die Pasions-Tragedie alle 10 Jahre zu halten Verlobet, und von dieser Zeit an ist kein einziger Mensch mehr gestorben.“
Im Jahr 1634 ist es schließlich so weit: Die Oberammergauer lösen ihr Gelübde ein und spielen die Passion zum ersten Mal und von da ab alle zehn Jahre. Nach und nach wird der Text erweitert, umformuliert, dem Stil der Zeit angepasst, Bühnentechnik und Kulissen werden aufwendiger und Oberammergau wird mehr und mehr zum Vorbild für andere Passionsspielorte.
(Fast) Ununterbrochene Tradition
Im Jahr 1680 wird der Rhythmus verändert – seitdem wird immer im vollen Zehnerjahr gespielt. Die Bürgerinnen und Bürger des Orts erneuern einige Monate vorher ihr Passionsversprechen: „Eingedenk des Gelübdes und getreu dem Verspruch unserer Vorfahren, führt Oberammergau im Jahre ... das Passionsspiel auf.“ Nur zwei Mal im Lauf der Geschichte kann das Gelübde nicht gehalten werden. 1770 wird die Aufführung unter Kurfürst Maximilian III. Joseph verboten, weil dieser die Meinung vertrat, dass Text und Inszenierung nicht der Würde des Themas entsprächen. Ein zweiter Ausfall ist 1940 dem 2. Weltkrieg geschuldet. Ansonsten heißt es nun alle zehn Jahre in der derzeit verwendeten Textfassung zu Beginn der Passion: „Alle seien gegrüßt, die mit uns folgen dem Erlöser...“
Streit um Darstellung der Juden
Nicht alle Textpassagen waren und sind so unumstritten wie der Beginn. Größere Auseinandersetzungen gab es in den letzten Jahrzehnten um die Darstellung der Juden, besonders um die zahlreichen antijudaistischen Anklänge im Stück. Kein Wunder, dass Hitler und Goebbels, die ansonsten in religiösen Dingen kaum Eifer zeigten, die Oberammergauer Passion zur „reichswichtigen Sache“ erklärten. Mit der Konzilserklärung „Nostra Aetate“, in der die katholische Kirche unter anderem ihr Verhältnis zum Judentum klärt, wird vor allem bezüglich der Schuldfrage am Tod Jesu festgestellt, dass man „die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen“ darf. Der Vatikan verlangt von den Oberammergauern eine entsprechende Überarbeitung der Passion und entzieht schließlich, als diese ausbleibt, die Zustimmung zum Text („missio canonica“). Jüdische Organisationen rufen zum Boykott auf, und erst allmählich beginnt ein Dialog, in dem man um Ausgleich bemüht ist. Die heutige Textfassung zeichnet ein weit differenzierteres Bild.
Das halbe Dorf spielt mit...
Bereits etwa eineinhalb Jahre vor der jeweils ersten Aufführung werden die Darsteller gesucht. Hier gelten zwei Regeln: Mitspielen darf, wer entweder in Oberammergau geboren ist oder seit mindestens 20 Jahren dort seinen Wohnsitz hat. Eine Ausnahme wird nur bei kleinen Kindern gemacht, die vor allem im Volk ihre erste Theatererfahrung sammeln. Dass es mit dem Finden von Jesus- und Mariendarstellern – alle Hauptdarsteller werden übrigens doppelt besetzt – oder dem Besetzen von einfachen Rollen im Volk keine größeren Schwierigkeiten gibt, weiß Christian Stückl. Es finden sich immer genug Freiwillige, denn die Identifikation mit der Passion ist groß: „Der Oberammergauer zählt sein Leben in Passionen!“ Da verwundert es dann kaum, dass die 42. Passionssaufführung im Jahr 2020 so viele Spieler auf die Bühne bringt wie noch nie zuvor in der Geschichte. Insgesamt sind fast 2.000 Personen beteiligt – Menschen aller Generationen, Personen mit unterschiedlichstem Charakter, Gläubige verschiedener Konfessionen und Religionen ebenso wie Nicht-Gläubige. Pilatus-Darsteller Carsten Lück beobachtet, dass die Passion dabei aber kein „normales“ Theaterstück ist, es passiert etwas: „Wir werden eine große Familie!“
Um die Identifikation mit dem besonderen Stoff zu erleichtern, wird seit 1990 vor dem Probenbeginn eine einwöchige Pilgerreise nach Israel angeboten. So können sich vor allem die Hauptdarsteller leichter in die Originalschauplätze einfinden und bekommen ein Gespür für das Umfeld, in dem Jesus vor 2.000 Jahren gelebt hat.
Intensives Proben
Die Passionsspiele sind aber für die Mitwirkenden auch harte Arbeit. Denn wenn die Proben im Dezember beginnen, muss der Text sitzen. Irgendwann werden dann die Männer aufgefordert, Bart und Haare wachsen zu lassen und ab April wird schließlich inklusive der Kostüme geprobt – fast jeden Abend übrigens, auch wenn freilich nicht täglich die komplette Passion durchgespielt wird, denn die dauert immerhin etwa fünfeinhalb Stunden, wovon fast zwei Stunden auf die Musik entfallen. Die geht zu einem großen Teil auf den Oberammergauer Komponisten Rochus Dedler (1779-1822) zurück, dessen berühmtes „Heil dir“ – quasi die Hymne Oberammergaus – bis heute beim Einzug Jesu in Jerusalem erklingt und das jedes Kind des Ortes auswendig kann. Größere musikalische Überarbeitungen erfolgten 1950 durch Eugen Papst und in jüngerer Vergangenheit durch den derzeitigen musikalischen Leiter Markus Zwink. Ihm unterstehen die etwa 60 Chorsänger, 60 Orchestermusiker und das gute Dutzend Solisten, die bei den Aufführungen jeweils musikalisch in Erscheinung treten.
Passion: Kind ihrer Zeit
Zwischen Mai und Oktober gibt es dann in der knapp 5.000 Zuschauer fassenden Freilichtbühne, die als größte der Welt gilt, über 100 Vorstellungen. Der 1. Teil der Passion, der am frühen Nachmittag beginnt, endet mit der Verhaftung Jesu. Nach einer mehrstündigen Pause dauert der 2. Teil dann bis in den dunklen Abend hinein.
Und selbst wenn der Kern der Passionsgeschichte immer der gleiche ist, ist doch jede Passion Kind ihrer Zeit. Christian Stückl, der seit 1987 Spielleiter der Passionsspiele ist und ansonsten das Müncher Volkstheater leitet, stellt beobachtend fest: „Dein eigenes Jesus-Bild verschiebt sich.“ Habe er bei seiner ersten Inszenierung noch gedacht, Jesus müsse vor allem laut sein, meint er heute: „Vielleicht geht‘s viel stärker um seine Konsequenz, seine Geradlinigkeit.“ Auch das Bemühen Jesu um die Menschen am Rand der Gesellschaft, sein soziales Handeln steht heute mehr im Vordergrund als bei früheren Aufführungen. „Vor 20 Jahren haben meine Schauspieler dort noch theologische Fragen gestellt: Sind wir durch Jesus von unseren Sünden erlöst? Das ist den jungen Menschen heute völlig wurscht. Sie erinnert Jesus eher an Sophie Scholl. Dass da einer ganz gradlinig einer Idee hinterhergegangen ist, im Bewusstsein, dass er umgebracht werden könnte. Sie wollen wissen, was dieser Jesus für eine Botschaft hat.“
Neben Eingriffen in den Text hat der Regisseur vor allem auch bei er Gestaltung der „lebenden Bilder“, die in die Passion eingeschoben sind, seine Chance, Akzente zu setzen. Hier werden zwölf Szenen aus dem Alten Testament in Bezug zur Jesus-Geschichte gesetzt. Bei der diesjährigen Passion soll erstmals eine durchgehende Geschichte erzählt werden, die von der Vertreibung, Versklavung und Flucht der Israeliten handelt.
2020 wird man außerdem zum ersten Mal auf den Prologsprecher verzichten, der bislang auch als eine Art „moralischer Zeigefinger“ fungierte. Seine Rolle übernehmen Chor und Solisten. Und eine weitere Premiere: Erstmals werden einige Hauptdarsteller mit einem Mikrofon ausgestattet sein – nicht ganz unumstritten im Traditionsort, aber für die Zuschauer der hinteren Ränge sicher eine Verbesserung.
Bedeutender Wirtschaftsfaktor
Wenn der Text sitzt, die Bewegungsabläufe stimmen, dann hofft man in Oberammergau natürlich, dass das Publikum in Scharen kommt. Vor zehn Jahren während der letzten Passionsspiele konnte man eine erfreuliche Bilanz ziehen: Nicht nur, dass sich Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel die Ehre gab, auch 99,8% der Veranstaltungen waren ausgebucht. Etwa eine halbe Million Zuschauer werden Zeugen des Oberammergauer Passionsgeschehens, davon viele aus dem Ausland, vor allem den USA und Großbritannien. Hoteliers freuen sich über ausgelastete Zimmer – und die Gemeinde ist auf die Passionseinnahmen dringend angewiesen. Nach Abzug aller Kosten – alle Mitwirkenden bekommen eine (kleine) Gage – , rechnet man mit einem Gewinn von etwa 30 Millionen Euro. Der muss der klammen Gemeindekasse dann aber auch über die nächsten zehn Jahre helfen, die hohen Kosten für das ortseigene Schwimmbad „Wellenberg“, das Museum und den kostenintensiven „Theatersommer“ zu stemmen. Mit letzterem versucht man mit zunehmendem Erfolg, die Passionsspiel-Pausen für kulturelle Angebote zu nutzen und dabei von der vorhandenen Infrastruktur zu profitieren.
Ein interessantes Detail am Rande, das belegt, dass die Passion das wirklich beherrschende Thema im Ort ist: Oberammergau ist der Ort mit den zweitmeisten Bürgerbegehren in Bayern – und 80 Prozent davon drehen sich um das Passionsspiel. Das jüngste, allerdings letztlich abgelehnte Bürgerbegehren wandte sich gegen einen geplanten Umbau der Passionsbühne.
Geistliche Tiefe
Bei allen wirtschaftlichen Fragen und dörflichen Querelen: Am Ende ist und bleibt die Passion ein geistliches Geschehen. Selbst den touristischsten Besucher wird die Jesus-Botschaft irgendwo in seinem Innersten berühren. Wer fünfeinhalb Stunden Zeit investiert, wer das „Hosanna!“ des Palmsonntags ebenso miterlebt wie das „Kreuzige ihn!“ des Karfreitags, der wird nicht umhin können, seinen Platz in der Geschichte zu suchen. Die Oberammergauer Passion dürfte dabei auch ein Weg sein, kirchenfernen und kirchennahen Menschen wieder deutlich zu machen, welchen Weg Gott für uns in seinem Jesus Christus gegangen ist: Den Weg in den Abgrund größter existenzieller Not hin zur jubelnden Freude der Auferstehung. Und mit diesem Jesus-Weg ist uns wahrhaft die denkbar größte Hoffnung geschenkt – im Jahr 2020, dem Oberammergauer Passionsjahr, aber auch weit darüber hinaus.