Pawel Florenski, Priester und Wissenschaftler

28. Juni 2013 | von

In der Geschichte der Menschheit gibt es immer wieder große Bekehrungen, bei denen die Gnade Gottes sichtbar wird. Pawel Alexandrowitsch Florenski war als Sohn seiner Heimat Russland und als Kind seiner Zeit überzeugter Agnostiker, bis auch er zu der Erkenntnis kam: „Nein, ohne Gott kann der Mensch nicht leben.“



In einer einzigen Nacht habe ich das Buch durchgelesen! Die Briefe, die der christliche Philosoph und Wissenschaftler Pawel Florenski zwischen 1933-1937 aus der sibirischen Verbannung, wo er sich wegen „konterrevolutionärer Propaganda“ befand, an seine Familie schrieb, haben mich zutiefst berührt. Er war Priester, Philosoph, Biologe, Physiker, Mathematiker, Ingenieur sowie Fachmann für Fragen der Ästhetik, Literatur, Malerei, Musik... es ist unmöglich, die Vielseitigkeit seiner Persönlichkeit vollständig zu erfassen.

Am 21. Januar 1882 geboren, beschloss Pawel Florenski nach der Revolution von 1917, trotz drohender Verfolgung seitens des Staates, nicht auszuwandern, so wie es viele seiner Schicksalsgenossen taten. Er forderte auf, „das Schiff nicht zu verlassen“ und engagierte sich von da an noch stärker im sozialen und kulturellen Leben. Dabei bekannte er sich immer offenherzig zu seinem Glauben und zu seinem Priesteramt.



VON TROTZKI GESCHÄTZT

In den zwanziger Jahren kontrollierte die kommunistische Partei das gesamte kulturelle Leben des Landes besonders scharf. Alle ‚unbequemen‘ Elemente, vor allem die Intellektuellen, wurden verbannt, erschossen oder in den Selbstmord getrieben. Dazu gehörten Theologen wie Bulgakov, Schriftsteller wie Gumilev und Gippius, Maler wie Chagall und viele andere. In dieser Zeit lernte Lev Trotzki, der sich in starkem Konflikt mit Stalin befand, Florenski kennen.

Es verwunderte ihn, auf einer wissenschaftlichen Konferenz den Priester im Talar zu sehen und fragte brüsk nach dem Grund. Mit seiner entwaffnenden Antwort („Ich bin orthodoxer Priester und kann nicht ohne Priesterkleidung gehen“) gewann Florenski die Sympathie des Bolschewiken-Führers, der von nun an den ‚Popen-Wissenschaftler‘, wie er ihn nannte, besonders schätzte.

Ausgerechnet die schweren Jahre 1925 bis 1933 gehörten für Florenski mit zu den fruchtbarsten. Mehr als 40 Mal meldete er beim Patentamt seine neuen Erfindungen an, z.B. das ‚karbolit‘, eine schwarze harte Plastikmasse, aus der bis in die sechziger Jahre in der UdSSR Telefone und Tischlampen gefertigt wurden, die auch ich noch 1991 in meiner Moskauer Wohnung vorfand.



LEBENSHINGABE FÜR DIE FREUNDE

Im Februar 1933 wurde Florenski verhaftet und in das gefürchtete Staatsgefängnis Lubjanka in Moskau gebracht. Die Anklage lautete: Zugehörigkeit zu einer verbotenen Organisation (die jedoch nicht existierte), und dieses Vergehen wurde mit zehn Jahren Lager bestraft. Erst 1991, als der KGB geheime Akten freigab, wurde bekannt, dass 1933, zur Zeit seiner Verhaftung, Florenski ganz bewusst das Urteil annahm, um der Befreiung einiger seiner Gefährten nicht im Wege zu stehen, die ihn unschuldig angeklagt hatten.

Einer seiner Kollegen, der seit fünf Jahren gefangen gehalten wurde, hatte dem Druck nicht standhalten können und eine vorgefertigte ‚Aussage‘ unterschrieben, in der einige Intellektuelle, darunter auch Florenski, einer nicht existenten Straftat beschuldigt worden waren. Florenski wusste, dass diese Aussage seinen Kollegen vor dem Lager rettete, und widersetzte sich dem Urteil nicht.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie Florenski das ‚sein Leben hingeben für die Freunde‘, wie es im Evangelium gefordert wird, ganz konkret umzusetzen vermochte. Er war ein „Mann des Wortes“, aber noch mehr ein Mann des Evangeliums, der bereit war, den ‚Kelch des Leidens‘ aus Liebe zu den Brüdern bis zur Neige zu leeren.



ALS FEIND DES VOLKES LIQUIDIERT

Nach einigen Monaten Gefängnis begann im August 1933 die furchtbare Erfahrung der Konzentrationslager. Nach Zwischenstationen kam Florenski im September 1934 auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer an. Das dortige Kloster, einst Hochburg des orthodoxen Glaubens, war 1923 in ein Lager umgewandelt worden und so vom Symbol der russischen Spiritualität zum Emblem der repressiven Stalinmaschinerie entstellt. Hier spielten sich die schrecklichsten Dramen des menschlichen Despotismus des 20. Jahrhunderts ab. Mehr als eine Million Menschen haben an diesem Ort ihr Leben verloren.

1937, zwanzig Jahre nach Beginn der Revolution, beschloss Stalin, endgültig alle ‚Feinde des Volkes‘ zu liquidieren. In zwei Jahren wurden sieben Millionen Menschen verhaftet, die zu den bereits fünf Millionen Gefangenen in die Gulags gebracht wurden. Auch aus ‚logistischen‘ Gründen mussten Ende 1937 viele Inhaftierte sterben. Unter ihnen befand sich Pawel Florenski, der zusammen mit 500 Gefährten von den Solowki-Inseln nach Leningrad gebracht wurde, wo man ihn am 8. Dezember 1937 in einem Wald am Stadtrand erschoss.



FORSCHUNGSJAHRE IM GULAG

Sein ganzes Leben lang war Pawel Florenski seiner Doppel-Berufung als Priester und Wissenschaftler treu. Sein intellektuelles Gedankengut war untrennbar mit seinem persönlichen Leben nach dem Evangelium verbunden, das auch in den extremen Situationen von Hunger, Kälte und Einsamkeit stets überzeugte. Gefangene, die den Gulag überlebt haben, erinnern ihn als eine Persönlichkeit, die von allen sehr geliebt und geschätzt wurde.

Körperlich und geistig erschöpft, gab er auch die letzten Jahre nicht auf. Im Konzentrationslager erstellte er Studien über den Dauerfrostboden, erkannte, wie man aus den Meeresalgen Jod gewinnen kann, baute eine Jodfabrik auf (die Jodprom) und entwickelte wissenschaftliche Grundlagen für neue Medikamente gegen den Jodmangel. Für dies alles zwang er sich immer wieder zur Begeisterung, auch wenn ihn die äußeren Umstände fast erstickten.



BRIEFE AN SEINE FAMILIE

Aus der Zeit auf den Solowki-Inseln sind viele Briefe an seine Familie erhalten, die ihn als liebevollen Ehemann, zärtlichen Vater und aufmerksamen Sohn zeigen. Papier war knapp und so teilte er den Briefbogen in gleiche Teile auf für seine Frau, die fünf Kinder und seine Mutter. Jedem schrieb er entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen. Er ermahnte den Ältesten Vasja zu mehr Ernsthaftigkeit im Leben, diskutierte mit dem zweitältesten Sohn Kirill wissenschaftliche Themen und ermutigte seinen Sohn Mik zum Studium. Olga, seine Tochter, war nach der Verhaftung des Vaters der Schule verwiesen worden und hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten. So übernahm Florenski ihre Erziehung auf dem Postweg aus dem Lager.

Dank dieser originellen Korrespondenz, die mir selbst in russischer Sprache zugänglich war, liegt uns heute ein Werk über das enzyklopädische Wissen des Pawel Florenski vor. Deutsche Leser werden mit einiger Mühe vielleicht das 2001 erschienene Buch auftreiben: Pawel Florenski, Eis und Algen. Briefe aus dem Lager 1933 – 1937, herausgegeben von Fritz und Sieglinde Mierau.

In den Briefen wird in komprimierter Form die gesamte Weltsicht und Religiosität dieses ungewöhnlichen Mannes sichtbar. Florenski zeigt so auch heute noch, dass er trotz entwürdigender Verfolgung seinem Glauben und seiner Wissenschaft treu geblieben ist. Für Pawel Florenski ist das Lager zum „Lehrstuhl“ geworden, von dem er seine Botschaft an die ganze Welt weitergegeben hat.



Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016