Prawda heißt Wahrheit
Meine erste Begegnung mit der „Prawda“ geht in das Jahr 1979 zurück. Während eines Studienaufenthaltes in Sankt Petersburg sah ich sie jeden Morgen zwischen den Metrostationen Leninski Prospekt und Prospekt Bolschenikow: großes Format und eng bedruckt. Die Hände meiner Mitreisenden verfärbten sich beim Lesen. Die Druckerschwärze blieb an ihnen haften. Vor hundert Jahren, im Mai 1912, erschien in St. Petersburg die erste Ausgabe der „Prawda“, eine neue Arbeiterzeitung, die im zaristischen Russland von der staatlichen Zensur kontrolliert, gerügt, gestraft und verboten wurde.
Dank meiner mehr als rudimentären Sprachkenntnisse jener Jahre las ich nur den fettgedruckten Titel „Prawda“ und wusste: das bedeutet „Wahrheit“. Später traf ich die „Prawda“ als Hülle um ein Buch, das mir Freunde geliehen hatten. Oder als Packpapier und auch einmal als Tapete. Der chronische Papiermangel in der Sowjetunion machte erfinderisch. Damals klebte die schwarze Farbe auch an meinen Fingern.
EINE ARBEITERZEITUNG
Heute wird die „Prawda“ 100 Jahre alt und schaut stolz auf eine bewegte Geschichte zurück. Hier geht es um weit mehr, als ich Ende der siebziger Jahre ahnen konnte. Anfang 1912 wurde in Petersburg die erste Ausgabe einer neuen Arbeiterzeitung vorbereitet. Im zaristischen Russland sollte eine Tageszeitung für russische Arbeiter von russischen Arbeitern entstehen. Zumindest hatte das Lenin, damals im Schweizer Exil, als ideologischer Vater des Blattes bestimmt.
Der Leitartikel der ersten Nummer vom 5. Mai 1912 sprach so auch sofort von der umwälzenden Zielsetzung der Redakteure. Arbeiter wurden aufgefordert, an der Leitung der Zeitung konkret mitzuarbeiten, d.h. die Artikel selbst zu schreiben. Der Einwand, Schriftstellerei sei für sie eine völlig ungewohnte Materie, wurde vom Tisch gefegt: „Man muss nur mutig beginnen. Ein paar Mal stolpert man, und dann lernt man es.“ Folgsam – so das Archivmaterial – nahmen die russischen Arbeiter die Herausforderung an. Es ist hingegen nicht überliefert, inwieweit ihr Einsatz wirklich freiwillig war. Fest steht, dass im Laufe des ersten Jahres mehr als 11.000 Beiträge verfasst wurden. Lenin selbst war der engagierteste Autor. Aus dem Schweizer Exil schickte er seine Artikel nach Sankt Petersburg: „Wenn die Herrschenden das Volk als Sklaven sehen, ist das furchtbar. Aber noch furchtbarer ist es, wenn das Volk damit einverstanden ist.“ Und „Proletarier alles Länder vereinigt Euch“ waren die stets wiederkehrenden Parolen, die den Zaren provozierten und so die Regierung zu einer Gegenreaktion zwangen.
VERSTECKSPIEL MIT DER ZENSUR
Die staatliche Zensur ging mit der Zeitung streng ins Gericht. Kontrollen, Rügen, Strafen und Verbote waren an der Tagesordnung. Aber die Redakteure waren erfinderisch. 40 Männer wechselten sich als Pseudoherausgeber ab. Sie wurden regelmäßig inhaftiert und zur Maximalstrafe von 3 Monaten oder 3000 Rubel verurteilt. Der eigentliche Herausgeber Wjatscheslaw Molotow trat dabei nie in Erscheinung und konnte so die Arbeit voranbringen. Ebenfalls zur Irreführung der Zensur erschien die Zeitung immer wieder unter verschiedenen Namen, wie z.B. „Arbeiterwahrheit“, „Wahrheit des Nordens“, „Weg der Wahrheit“ oder „Wahrheit der Arbeit“. Die Phantasie der Herausgeber schien unerschöpflich, um ihre Botschaft an die Massen zu lancieren: für die Arbeiter Brot, für die Soldaten Frieden und für die Bauern Land.
Trotz der strikten Kontrollen seitens des Staates blieb die Leserschaft ihrer Zeitung treu. Mit einer Auflage von ca. 40.000 Exemplaren wurde sie in den ersten fünf Jahren ihres Bestehens zur größten Arbeiterzeitung Russlands und zum ideologischen Sprachrohr der Bolschewiken, der Partei um Lenin. In der Oktoberrevolution von 1917 sprach man von ihr schließlich als dem wichtigsten Agitationsorgan der Partei. Nach 1917 wurde die „Prawda“ das offizielle Zentralorgan der KPdSU, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Das sollte mehr als siebzig Jahre währen. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR geriet die „Prawda“ dann in unüberwindbare finanzielle Schwierigkeiten. Die Unterstützung ihres Sponsors, des Zentralkomitees, blieb aus. Um überleben zu können, entschieden sich die Verantwortlichen des Organs schließlich dafür, eine Aktiengesellschaft zu gründen. Die größte Zeitung der UdSSR mit einst 14 Millionen Exemplaren täglich war in ihrer bisherigen Form gescheitert.
JETZT ONLINE ABRUFBAR
Die folgenden 20 Jahre sahen immer wieder neue Zeitungen unter dem Namen „Prawda“ auf dem Markt erscheinen. Sie stritten sich darum, als gesetzliche Nachfolger der ursprünglichen „Prawda“ anerkannt zu werden.
Am 10. Februar 2006 geriet das Bürohaus des Moskauer Verlags „Pressa“ in Brand, in dem die Archive sowie die historischen Ausgaben der Zeitung, einschließlich des Bildmaterials, aufbewahrt wurden. Das Feuer hat fast alles vernichtet.
Aber „Prawda“ geht mit der Zeit und lebt weiter, u.a. online. Journalisten gründeten www.prawda.ru, Novosti i analitika. Rund 4 Millionen Leser verfolgen heute die politische Berichterstattung rund um die Welt. Hier haben u.a. auch Mode und Gesellschaftsklatsch ihre Rubriken gefunden.
„Prawda“ bedeutet immer noch „Wahrheit“. Ein dehnbarer Begriff, wie mir scheint. Aber wie man auch immer darüber denken mag, die Zeitung „Prawda“ ist ein Spiegelbild der wechselhaften Vergangenheit der russischen Arbeiterbewegung. Damit hat sie historischen Wert. Und wenn ich sie heute online lese, muss ich mir hinterher nicht einmal die Druckerschwärze von den Händen waschen.