Prüft alles und behaltet das Gute
Es ist keine üble Nachrede, wenn wir feststellen, dass Antonius nie zu den Bahnbrechern der Theologie gehört hat. Dafür blieb ihm in seinem kurzen, intensiven Leben zu wenig Zeit. Auch in dem schmalen Werk, das von ihm auf uns gekommen ist, besticht er nicht durch Neuigkeiten, wohl aber durch eine durchaus kreative, lebensnahe Ausrichtung an den Lebens- und Glaubensmöglichkeiten der Menschen seiner Zeit. Für Antonius‘ profundes theologisches Wissen, auch in Sachen der Ethik sind die Schrift, die Vätertheologie, die frühe Scholastik maßgebend, wenn es um Tugenden, um Lebenshaltungen geht. Dabei kann Antonius die maßgebende Größe noch gar nicht kennen, die die theologische Tugendethik über Jahrhunderte in der Kirche prägen wird: den Dominikaner Thomas von Aquin, der unter anderem im Rückgriff auf den neuentdeckten, alten Philosophen Aristoteles nur ein paar Jahrzehnte später Entscheidendes wird. Worauf also stützt sich Antonius?
Biblische Wurzeln. Das Alte Testament kennt viele Tugenden, aber keinen zusammenfassenden Oberbegriff. In die griechische Übersetzung fanden die vier Kardinaltugenden Eingang: Wenn jemand Gerechtigkeit liebt, in ihren Mühen findet er die Tugenden. Denn sie lehrt Maß und Klugheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit, die Tugenden die im Leben der Menschen nützlicher sind als alles andere (Weish 8,7). Das Neue Testament greift den Begriff der Tugend nur selten auf. An den betreffenden Stellen wird er zur Beschreibung der göttlichen Macht und Herrlichkeit und der sittlichen Einstellung des Menschen verwendet. Möglicherweise ist diese Zurückhaltung gegenüber dem zentralen Thema der damaligen Profanethik darin begründet, dass der Tugendbegriff für das Sprachempfinden der neutestamentlichen Schriftsteller zu sehr der Herausstellung menschlicher Leistungsfähigkeit dient, während sie das rechte Handeln wie auch das Gut-Sein des Menschen in erster Linie als Geschenk und Gabe Gottes verstehen.
Bei Paulus hingegen sind Tugend- und Lasterkataloge aus der zeitgenössischen Popularphilosophie zu finden. Er nennt: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung, wobei auffällt, dass er Liebe als erste Tugend bezeichnet. Paulus versteht sie als Tugend und das ganze moralische Handeln als geistgewirkt. In seinen Briefen geht er davon aus, dass seine Adressaten alles «was Tugend heißt und lobenswert ist» (Phil 4,8), kennen. Genauso wie sie umgekehrt den Inhalt der Laster, dessen, was sich nicht gehört, längst kennen. Darin kommt der Respekt vor der profanen Ethik seiner Zeit zum Ausdruck. Der Inhalt der Moral ist also nicht erst durch die christliche Offenbarung bestimmt, sondern wird durch die profane Vernunft, durch das profane Ethos der jeweiligen Zeit mitgeprägt. Darauf verweist auch die Maxime: «Prüft alles und behaltet das Gute!» (1 Thess 5,21). Tugendkatalog der Zeit. Paulus geht es um eine Begegnung mit dem Weltethos seiner Zeit – eine Prüfung, das Gute zu erkennen, ist auch eine Spur auf der Suche nach dem Wirken Gottes. Es gibt verschiedene Tugendkataloge in der Bibel (Eph 4,32-5,5, Kol 3,5-14, 1Tim 1,9-10, 2Petr 1,5-11). In diesen Katalogen zeigen die christlichen Schriftsteller, wie sie den Auftrag des Paulus verstehen. Sie übernehmen die Tugendkataloge ihrer Umgebung, aber sie unterstreichen vor allem Haltungen, in denen sich die eschatologische Hoffnung des Glaubens ausspricht: Hoffnung, Wachsamkeit, Nüchternheit und Geduld treten in ganz besonderem Maß hervor. Bei den Griechen war die Hoffnung noch nicht als Tugend geschätzt, sondern galt als ungewisse Form des Wissens. Wer etwas hofft, der weiß es eben nicht genau, wie auch der Glaube eine ungewisse Form des Meinens war. So kommt es in Tugendkatalogen zu einer innerhalb der griechischen Ethik unbekannten Hochschätzung einzelner Handlungen wie etwa der Demut, des Mitleids und der gegenseitigen Unterordnung. Demut und Mitleid sind im griechischen Denken zwar nicht unbekannt, aber sie standen am Rand. Innerhalb des Neuen Testaments rücken sie in die Mitte und zwar deshalb, weil sie unmittelbar auf das Beispiel Jesu verweisen, an seinem Leben abgelesen werden. |
Kirchenväter. Antonius konnte natürlich an die Kirchenväter anknüpfen. Bedeutsam ist hier Ambrosius. In seinem Werk «De officiis» folgt er weitgehend einer Schrift Ciceros über das Ethos der Staatsbeamten. Bei Ambrosius taucht auch erstmals der Name «Kardinaltugenden» für die vier Haupttugenden auf (lat. «cardo» für Türangel, womit will ausgesagt wird, dass alle ethischen Einzelhaltungen in diesen vier Grundhaltungen verankert sind.) Weiter wird das Bild der vier Paradiesesströme entwickelt. Die neue Existenzweise der Christen, die in der Taufe durch das Wasser des ewigen Lebens reingewaschen wurden, zeigt sich in einem Leben der Gerechtigkeit, der Klugheit, der Tapferkeit und des Maßes. Hieronymus verwendet außerdem des Bild eines Viergespanns, dessen Wagenlenker Christus selber ist. Gregor der Große parallelisiert erstmals das philosophische Viererschema der Kardinaltugenden mit den drei theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung und Liebe). Diese Basis war Antonius bekannt. Die Theologie entdeckt hier vor allem die Eigenbedeutung des Menschen. Der Mensch wird unter dem Anruf der Gnade nicht aufgelöst, sondern vielmehr in seiner Eigenwirklichkeit und in seiner Freiheit anerkannt. Der entscheidende Punkt ist, dass das Tun den Menschen in seinem Sein und Handeln gut macht. Hier steht wieder der Gedanke fester und verlässlicher Handlungsprägungen, der dem menschlichen Tätigsein Beständigkeit und, was aus heutiger Sicht vielleicht schwieriger zu verstehen ist, Leichtigkeit und Freude zugleich schenken. Diesen vier Kardinaltugenden voraus liegen die drei göttlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe. Worauf es ankommt: In jedem Einzelbereich des Handelns kann die höchste Möglichkeit des Menschseins verwirklicht werden. Das ist die Kernaussage der Tugendethik. Das Entscheidende, das sich im Zusammenhang des Glaubens ändert, ist, dass diese höchste Möglichkeit des Menschen eine geschenkte Möglichkeit ist, die ihm in der Gnade Gottes gegeben wird. Die Gnade, die Gott schenkt und die dem menschlichen Handeln vorausgeht und die Übung des Menschen, der Erwerb moralischer Handlungskompetenz kommen in dem theologischen Begriff der Tugend zusammen. Allen Mühen und eigenen Anstrengungen des Menschen voran geht die Erfahrung des Geschenktseins mit der Fähigkeit zu glauben, zu hoffen und zu lieben. Die Erfahrung des Beschenktseins ist für Antonius die erste Erfahrung des christlichen Ethos. |