Rastloser Forscher in Sachen Seuchen
Oktober 1892. In Paris und Hamburg erkranken Zehntausende an der Cholera, Tausende sterben an der Krankheit. Allein 8605 in der norddeutschen Hansestadt. Ungeachtet der Gefahr trinkt am Morgen des 7. Oktobers in München ein Professor ein widerliches Gebräu: den Aufguss aus frisch gezüchteten Cholerabazillen (Vibrio cholerae). Der Name des anscheinend Verrückten: Max von Pettenkofer.
Riskanter Selbstversuch. Der Apotheker und Arzt führt den Selbstversuch durch, um Robert Koch, dem berühmtesten Bakteriologen seiner Zeit, etwas zu beweisen. Denn Koch behauptet, dass der Erreger der Cholera in erster Hinsicht für den Ausbruch der Krankheit verantwortlich ist. Pettenkofer hingegen ist überzeugt, dass die Lebensumstände der Menschen die entscheidenden Faktoren sind. Da er nicht erkrankt, ist sich Pettenkofer fortan sicher, im Gelehrtenstreit Recht zu haben. Doch auch ohne diesen riskanten Selbstversuch wäre Pettenkofer im Buch der Medizin ein Ehrenplatz sicher gewesen. Gilt er doch als Begründer der modernen Hygiene. Mithin einer Wissenschaft, die seit ihrer Einführung Millionen von Menschenleben gerettet hat.
Max Pettenkofer - der Adelstitel wird ihm erst 1883 wegen seiner Verdienste vom bayerischen König verliehen - kommt am 3. Dezember 1818 im Weiler Lichtenheim bei Neuburg an der Donau zur Welt. Als Neunzehnjähriger schreibt er sich an der Universität München ein, um Philosophie und Naturwissenschaften zu studieren. Ab 1841 widmet er sich der Medizin. Offensichtlich mit Erfolg, denn schon zwei Jahre später erhält er die Approbation als Apotheker und Arzt.
Rastloser Forscher. 1844 wechselt der junge Wissenschaftler zu Justus von Liebig an die Universität Gießen. Ein Jahr später kehrt er zurück nach München, wo er eine Stelle als Assistent am Hauptmünzamt findet. 1846 beruft ihn die Bayerische Akademie der Wissenschaften, im Jahr darauf wird er zum Professor für medizinische Chemie ernannt. Er bleibt es bis 1865. Dann ernennt ihn die Münchener Universität zum ordentlichen Professor für Hygiene.
Endlich ist Pettenkofer in seinem Element. Rastlos forscht und experimentiert er, setzt sein in Jahrzehnten erworbenes Wissen um. Cholera und Typhus, bis auf den heutigen Tag Geißeln der Menschheit, der noch immer Tausende zum Opfer fallen, haben es ihm angetan.
Immer wieder verlässt der Professor Schreibtisch und Laboratorium, um sich in der Wirklichkeit der Städte umzusehen. Dort sind die hygienischen (hygieine, griechisch: der Gesundheit zuträglich) Zustände häufig katastrophal. Eine geordnete Kanalisation ist unbekannt; Abwässer aus Haushalten und Industrie fließen ungeklärt in offenen Gräben dem nächsten Bach oder Fluss zu. Aus denen wird - ein Teufelskreis - die Brühe als Trinkwasser in die öffentlichen Brunnen gepumpt. Gefahr droht auch, hauptsächlich auf dem Land, von Hausbrunnen, die oft neben dem Misthaufen gebohrt wurden. Kein Wunder also, dass regelmäßig Seuchen die Menschen plagen, die daraus trinken.
Verfechter der Reinheit. Pettenkofer kommt aufgrund seiner Forschungen zu dem Ergebnis, dass erst gewisse Voraussetzungen zum Ausbruch der Infektionen beim Menschen führen. Diese seien ein bestimmter Erreger, ein feuchter, poröser Boden mit verwesendem organischen Material und eine giftige Substanz. Letztere entstehe, wenn der Erreger mit dem entsprechenden Boden in Berührung komme. Außerdem gebe es eine Anfälligkeit für Seuchen, die aber von Mensch zu Mensch verschieden stark entwickelt sei.
Getreu seiner Ansichten fordert Pettenkofer die Reinhaltung von Boden, Wasser und Luft. Insofern würden wir Heutigen ihn als einen frühen Umweltschützer bezeichnen, dessen Forschungen zwischenzeitlich wissenschaftliches Allgemeingut sind. Zu seiner Zeit muss der Hygieniker jedoch erst riesige Widerstände überwinden, bevor er sich Gehör verschafft. Schließlich befindet sich eine ganze Welt im industriellen Aufbruch. Was zählt da schon die Reinheit des Bodens, der Luft und des Wassers?
Letzteres liegt Pettenkofer besonders am Herzen. In einer Abhandlung schreibt er: Unter allen Umständen liegt es im Interesse der öffentlichen Gesundheit, auf möglichste Reinheit des Trinkwassers nicht bloß wegen bald vorübergehender Epidemien zu sehen, sondern überhaupt und zu allen Zeiten. Es sollte im neunzehnten Jahrhundert ein überwundener Standpunkt sein, dass man die Menschen zur Reinlichkeit noch durch Furcht vor ganz spezifischen Krankheiten treiben muss. Man würde den Wert von reinem Boden, reinem Wasser, reiner Luft und so weiter viel zu gering schätzen, wenn man annähme, dass diese Dinge nur bei einzelnen, zeitweise auftretenden Krankheiten von Wert wären.
Hygiene-Institut. 1879 erringt Pettenkofer den vielleicht größten Erfolg seines Lebens. Nach seinen Plänen errichtet die Münchner Universität ein Hygiene-Institut, das erste seiner Art weltweit. Von ihm gehen Anstöße aus im Kampf gegen Seuchen. Etwa durch Bauvorschriften, Trink- und Abwasserleitungen räumlich voneinander zu trennen, Brunnen nicht neben Jauchegruben anzulegen, oder in den damals üblichen Mietskasernen für ausreichende Belüftung zu sorgen.
Mit der Zeit greifen Pettenkofers Einsichten Raum, der medizinische Fortschritt tut ein Übriges: Zumindest in der westlichen Welt gehören seither Cholera- und Typhusepidemien der Vergangenheit an.
Am 10. Februar 1901 begeht der Begründer der modernen Hygiene Selbstmord. Ein großer Forscher war seines Lebens überdrüssig geworden.