Reizthema und Versöhnungsangebot

01. Januar 1900 | von

Als Papst Bonifaz VIII. am 22. Februar 1300, am Fest der Cathedra Petri (Petri Stuhlfeier), einen Jubiläumsablass ausrief, führte er keineswegs eine Neuerung ein. Einen ähnlichen Ablass hatte schon Papst Alexander II. im Jahre 1063 den Kämpfern gegen die Mauren in Spanien gewährt. Urban II., der Initiator der Kreuzzüge, war diesem Beispiel gefolgt, als er 1095 auf der berühmten Synode von Clermont den Heilig-Land-Kämpfern den Nachlass aller zeitlichen Sündenstrafen in Aussicht stellte.

Bußübung am Beginn. Bekanntlich hat sich der Ablass aus der frühkirchlichen Bußpraxis heraus entwickelt. Schon in ihren Anfängen musste die neue Glaubensgemeinschaft die Erfahrung machen, dass viele Getaufte in ihrem Eifer erlahmten und nur allzu bald wieder ihren alten Lastern frönten. Angesichts dieser betrüblichen Tatsache wurde der Kirche bewusst, dass sie von Christus dazu ermächtigt ist, gegenüber jenen, die nach der Taufe rückfällig geworden waren, noch einmal Milde walten zu lassen und ihnen Vergebung zu gewähren. Gleichzeitig verbreitete sich die Überzeugung, dass schwer wiegende Verfehlungen wie Glaubensabfall, Mord und Ehebruch (später zählte man noch schweren Diebstahl zu diesen ‘Kapitalsünden’) zwar vergeben werden konnten, aber nicht mehr wie bei der Taufe durch einen reinen Gnadenerweis Gottes, sondern erst nach Ableistung außerordentlich strenger Bußübungen. Diese zweite Taufe, wie man diese Sühnewerke auch nannte, bildete die Vorstufe des heutigen Bußsakramentes – und damit des Ablasswesens.
In der Praxis sah das dann so aus, dass die Sünder und Sünderinnen ihre Vergehen dem Bischof bekannten und öffentlich Buße leisteten, die zumeist im zeitweisen Verzicht auf die eheliche Intimgemeinschaft und in einem strengen Fasten bestand.
Im 6. Jahrhundert erfuhr diese Bußpraxis eine einschneidende Veränderung, als die Äbte und Mönche in irischen und angelsächsischen Klöstern damit begannen, der Bevölkerung wiederholt Versöhnung zu gewähren. Damit verbunden war eine weitere Neuerung, insofern jetzt die Lossprechung von den Sünden schon vor Ableistung der entsprechenden Bußübungen erteilt wurde, während die Sündenstrafen anschließend durch genau festgelegte Bußleistungen abgetragen werden mussten, die aber nach wie vor eine fast übermenschliche Belastung bedeuteten.

Weg in die Sackgasse. Da diese harte Disziplin langfristig schlicht nicht durchzuhalten war, wurde sie bald einmal durch die Kommutation oder Umwandlung der zu leistenden Sühnewerke ersetzt. Das bedeutet, dass man jetzt ein langes Fasten besonders streng gestaltete oder den Verzicht auf die eheliche Intimgemeinschaft mit der Enthaltung von Speise kombinierte und dafür abkürzte. Eine andere Weise, die Wiederversöhnung mit Gott und der kirchlichen Gemeinschaft erträglicher zu gestalten, bildete in der Folge die Redemption oder Ablösung. Diese Art der Wiederversöhnung verpflichtete die Fehlbaren dazu, an Stelle der vorgesehenen Bußauflagen ein gutes Werk zu vollbringen. Dazu rechnete man Geldspenden für fromme Zwecke, oder gemeinnützige Unternehmen wie den Bau einer Brücke oder einer Befestigungsanlage, sowie Gebetsübungen und Wallfahrten. Der Sühnegedanke blieb dabei unangetastet. Wenn aber jede Sündenstrafe durch ein entsprechendes Bußwerk abgetragen werden kann, ist nicht einzusehen, warum dieses unbedingt vom Sünder persönlich zu leisten ist. Wenn man für andere beten konnte, musste es doch auch möglich sein, stellvertretend für andere Buße zu tun! Derlei Überlegungen führten schließlich zu der von uns heute als anstößig empfundenen Gepflogenheit, auferlegte Bußleistungen durch Drittpersonen verrichten zu lassen und diese dafür finanziell zu entschädigen. Dadurch aber ging die bei den ‘Umwandlungen’ noch deutlich ersichtliche direkte Verbindung zwischen Bußwerken und Büßenden verloren. Sowohl theologisch wie auch rein menschlich führte diese ganze Entwicklung damit in eine Sackgasse.
Aus Umwandlung, Ablösung und stellvertretender Buße entstand im 11. Jahrhundert dann der eigentliche Ablass, wie wir ihn heute verstehen: Auf ein Gebet, ein Bußwerk oder eine wohltätige Gabe hin gewährt die Kirche den Büßenden jetzt den Erlass zeitlicher Sündenstrafen.
Leider entartete das Ablasswesen seit dem Spätmittelalter immer mehr zu einem Geldgeschäft. Als einer der ersten Päpste verfolgte Bonifaz IX. (1389-1404) bei der Verleihung von Ablässen systematisch finanzielle Interessen. Diese ungute Praktik erregte schon lange vor Luthers Auftreten Ärgernis.

Zugriff auf Gnadenschatz. Nichtsdestotrotz hat die kirchliche Ablasspraxis gerade im 11. und 12. Jahrhundert auch viel Gutes bewirkt, zumindest solange der Zusammenhang mit ihren Ursprüngen (Umwandlung und Ablösung!) im Bewusstsein der Gläubigen noch vorhanden war. Sie führte ihnen den Ernst der Sünde und die Notwendigkeit der Sühne vor Augen und vermochte die christliche Nächstenliebe und den Sinn für Solidarität zu beleben. Mit der rapiden Zunahme von Missbräuchen jedoch drängte sich die Frage auf, mit welchem Recht die kirchlichen Autoritäten nicht nur Sünden, sondern auch die damit verbundenen Strafen vergeben könnten.
Die Antwort darauf fand man im 16. Kapitel des Matthäusevangeliums, wo von der Schlüsselgewalt die Rede ist, die Jesus dem Petrus und seinen Nachfolgern verliehen hat (vgl. Mt 16, 16-19). Dagegen wandte man allerdings ein, dass diese Schlüsselgewalt zwar die Vollmacht beinhalte, Sünden zu vergeben, nicht aber die Möglichkeit, auch die dafür zu leistende Sühne (‘Strafen’) zu erlassen.
Was diesen letzteren Einwand betrifft, besann man sich auf die alte christliche Überzeugung, dass nicht nur das Leben und Leiden Christi, sondern darüber hinaus auch der Tugendreichtum und das Martyrium der Heiligen der ganzen Glaubensgemeinschaft zugute kommt. Dieser Gedanke wurde im 12. und 13. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Erörterung des Bußsakramentes aufgegriffen und um 1230 von dem gelehrten Dominikaner Hugo von St-Cher zur Theorie vom thesaurus ecclesiae, vom Gnadenschatz der Kirche, ausgebaut. Dieser ‚Gnadenschatz‘, so lehrte man nun, setze sich zusammen aus den Früchten des Leidens Jesu, durch das dieser für alle Menschen aller Zeiten vollkommene und unendliche Genugtuung geleistet habe, sowie aus den verdienstvollen Werken der Heiligen. Wenn die Kirche in einzelnen Fällen nicht nur die Sünden, sondern auch die dafür fälligen Strafen erlasse, greife sie auf die ihr anvertrauten Verdienste Christi und der Heiligen zurück, ähnlich wie ein König die Schulden seiner Untertanen aus der eigenen Schatztruhe begleichen könne.

Gewinne verurteilt. Da aber die Missbräuche weiterhin überhand nahmen, sah sich das Reformkonzil von Trient gezwungen, sich mit der Ablassfrage etwas eingehender zu befassen. In ihrer Schlusssitzung vom 4. Dezember 1563 bestätigte die Kirchenversammlung die traditionelle Ablasslehre und, zumindest grundsätzlich, auch die bis dahin übliche Praxis der Kirche, allerdings nicht ohne gleichzeitig zu monieren, dass alle ungerechten Gewinne für die Erlangung von Ablässen vollständig abzuschaffen sind.
Sehr ausführlich bezüglich des Ablasses äußerte sich Papst Paul VI. in seiner 1967 veröffentlichten Apostolischen Konstitution Über die Ablasslehre. Dort wird gesagt, dass diese (den Ostkirchen übrigens unbekannte) Frömmigkeitsübung ein konkreter Ausdruck des kirchlichen Heilsdienstes sei. Die Doktrin vom ‘Kirchenschatz’ sei nicht dinglich zu interpretieren. Vielmehr besage diese Lehre, dass das Erlösungswerk Christi, aus dem auch die ‘Verdienste’ der Heiligen erwachsen, eine bleibende Geltung hat.

Strafe oder Aufarbeitung? Um die der kirchlichen Ablasslehre zu Grunde liegende Intention zu erfassen, tun wir gut daran, mit unseren Überlegungen ganz woanders anzusetzen. Dabei gehen wir davon aus, dass jeder Mensch seine eigene, ganz und gar persönliche Geschichte lebt, und ohne diese Geschichte nicht er selber wäre. Das wiederum schließt ein, dass wir nicht eine Geschichte haben, sondern dass wir unsere Geschichte sind. Diese Geschichte jedoch besteht nicht nur aus Erfolgen uns aus Siegen, sondern auch aus moralischen Niederlagen und schuldhaften Verstrickungen, deren Folgen nicht nur wir selber, sondern auch unsere Mitmenschen und unsere Mitwelt tragen. Daher versteht es sich eigentlich von selbst, dass die ‘Sündenstrafen’ nicht einfach als Sanktionen zu verstehen sind, die Gott von außen her verhängt. Diese ‘Strafen’ ergeben sich aus der Natur der Sache; es handelt sich dabei um die negativen Folgen unseres verfehlten Tuns, mit denen wir selber und unsere Mitwelt konfrontiert sind. Diese aber werden durch die Vergebung, welche die Kirche im Bußsakrament im Namen Gottes gewährt, nicht einfach beseitigt, sondern müssen aufgearbeitet werden.

Entlastung. In diesem Zusammenhang hat der Ablass nach wie vor seine Bedeutung. Inzwischen dürfte es sich ja herumgesprochen haben, dass sich die Schuldigen im Bußsakrament nicht nur mit Gott, sondern auch mit der Kirche wieder versöhnen. Wenn die Kirche den Umkehrwilligen Gottes Barmherzigkeit zuspricht, dann sagt sie eben nicht bloß: Geht getrost von dannen, Gott trägt euch nichts nach! Sie sagt nämlich auch: Selbst wenn die Folgen eures Tuns noch immer schwer auf euren Schultern lasten und euer Herz bedrücken: Getröstet seid! Ihr braucht eure Bürde nicht allein zu tragen! Das und nichts anderes meint die Lehre vom Schatz der Verdienste Christi und seiner (oder besser unserer) Heiligen. Das und nichts anderes intendiert die Kirche auch, wenn sie vom Ablass redet.
So gesehen steht die Ablasspraxis keineswegs im Widerspruch zur Heiligen Schrift; wichtig ist jedoch, dass sie stets im Licht der in der Bibel enthaltenen Offenbarung Gottes zu interpretieren und zu praktizieren ist. Im Grunde ist der Ablass nichts anderes als eine besonders intensive, von der Gewissheit der Erhörung getragene Form des Fürbittgebetes, welchem nach dem Jakobusbrief eine heilende Kraft zukommt (Jak 5,16). Außerdem ist im Neuen Testament ausdrücklich davon die Rede, dass jene, die Jesus nachfolgen, eine Gemeinschaft bilden, in der alle sich für alle sorgen (1 Kor 12) und einer des anderen Last tragen soll (Gal 6,2).

Blickrichtung Gott. Erst wenn die Ablasslehre und -praxis in das Gemeinschaftsleben der Kirche eingebettet ist, verliert sie den Anschein eines magischen Denkens. Zumindest theoretisch war sich die Kirche schon immer bewusst, dass zur Gewinnung eines Ablasses die richtige Disposition erforderlich ist. Die praktischen Ausführungsbestimmungen finden sich in der Heiligen Schrift: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft (Dtn 6,5), und deinen Nächsten wie dich selbst (Lev 19,18; vgl. Mk 12,30-31). Ist die Annahme vielleicht abwegig, dass die Sündenfolgen schneller aufgearbeitet werden, wenn sich jemand ernsthaft auf diesen Anspruch einlässt? Das gilt auch für den ‘vollkommenen Ablass’, der nicht mehr und nicht weniger verspricht, als die Schrift selber verheißt. Wer sich in der Nachfolge Jesu Gott und seinen Mitmenschen selbstlos zuwendet und so die Höhen und Tiefen seines Lebens in hoffnungsfroher Gelassenheit zu bewältigen versucht, erfüllt damit alle Voraussetzungen, um einen vollkommenen Ablass zu gewinnen. Warum denn sollte Gott einen Menschen noch bestrafen, der sich auf dem Weg befindet zu ihm, und der, selbst wenn er ab und zu über ein paar Steine stolpert, den Blick schon wieder erhebt, noch bevor er sich selber erhoben hat, um Gott ja nicht aus den Augen zu verlieren?

 Ausführlich äußert sich der Verfaser dieses Beitrags über den Ablass in seinem Buch über die Heiligenverehrung: Josef Imbach, Heiligenverehrung zwischen Frömmigkeit und Folklore, Echter Verlag, Würzburg 1999, 280 Seiten.

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016