Renaissance der Schreibkultur

25. Oktober 2006 | von

Wer die Schreibkultur zwischen Computer- und Handynachrichten für verloren hielt, irrt. Der Trend geht  weg von der flüchtigen hin zur handfesten Botschaft. Die Kalligraphie erfreut sich einer Wiederbelebung. Lernen kann man dabei von den alten und modernen Meistern der schönen Schrift.

Wer schreibt, der bleibt. Die uralte Redensart, zurückgehend auf das lateinische „verba volant – scripta manent“ (Worte fliegen davon, Geschriebenes bleibt) überschreibt einen neuen Trend. Während elektronische Post ihre Empfänger überflutet, während junge Menschen stundenlang SMS, in Codes gezwängte Kurzbotschaften, ins Mobiltelefon tippen, nimmt das Interesse am Briefeschreiben wieder zu. Denn keine E-Mail, keine SMS kann einen Duft verströmen wie parfümierte Tinte, keine hat die optische Qualität eines schönen Büttenpapiers mit eingearbeiteten Goldregenblüten, keine die Einzigartigkeit einer Handschrift…

Letzter Schönschreiber. In Schreibwarengeschäften prunken neben schlichten Schulfüllern noble Stücke in Edelmetall von Traditionsmarken wie Montblanc oder Faber-Castell. Spezialläden für Tinten tun sich auf, nach Blüten duftend, mit Gold und Silber veredelt oder von Hand in der Tradition vergangener Epochen komponiert, wie sie die Manufaktur De Atramentis herstellt. In Geschenkboutiquen und Museumsläden stapelt sich heute nicht nur kunstvoll gestaltetes Briefpapier. Da werden nostalgische Schreib- und Kalligraphie-Sets angeboten - vom einfachen Bambusschreiber mit Gänsekiel und Tinte über vergoldete Federn und Veilchen-Tinte für feinste handgeschöpfte Briefbogen, bis hin zum Schreibbrett aus Pinienholz nebst Federhaltern, Tinte und Federn für verschiedene Schriften sowie einer Anleitung fürs Schönschreiben. Die Kalligraphie – von Griechisch kalos = schön und graphein = schreiben – ist in Amerika schon zu einem Hobby breiter Volksschichten geworden, vor Kalligraphie-Ausstellungen bilden sich lange Warteschlangen. Und auch in Europa wächst das Interesse.
Kalligraphie verlangt Konzentration, Präzision, sie verlangt Gefühl für die Form der Buchstaben und den leeren Raum dazwischen. Europas einziger Schönschreiber von Hauptberuf, Andreas Schenk, sitzt in Basel in seinem altmodischen Scriptorium am Rheinsprung. Hier fertigt er mit Tinte, Feder und großer Gelassenheit Schriftstücke nach den Wünschen seiner Auftraggeber. Das sind beispielsweise Urkunden für die Stadt, Chroniken oder Zunftbücher, aber auch Speisekarten, Heiratsanzeigen und segenbringende Sinnsprüche. Nebenbei verkauft er Passanten Tintenfläschchen und Federkiele, und an einigen Wochenenden führt er Interessierte in die Kunst der Kalligraphie ein.

Belebende Schrift. Die Zahl der Aspiranten wächst, die Uniformität der Schriftstücke, die Computer und Laserdrucker täglich auf unseren Schreibtisch spucken, hat ein Bedürfnis nach schöner Schrift ausgelöst. Wer sich konzentriert darauf einlässt, wem mit rhythmischen Bewegungen die Koordination von Hirn, Herz und Hand gelingt, erlebt beglückende Momente. Der renommierte Kalligraph Andreas Schenk weiß: „Beim Schreiben, das einen hochkonzentrierten feinmotorischen und koordinativen Prozess darstellt, werden von der Hirnanhangdrüse berauschende Endorphine, Glückshormone, in die Blutbahn des Körpers ausgeschüttet, die ähnlich wie beim Spitzensport suchterzeugend sein können. Die große Anstrengung wird gar nicht mehr wahrgenommen, störende Geräusche, Hunger, ja Schmerzen werden von einem wohltuenden stimmungsaufhellenden Gefühl überdeckt…“
In China sagt man, dass Kalligraphen sehr alt werden, weil der ständige Austausch zwischen der rechten, intuitiven, und der linken, rationalen Hirnhälfte bei der Arbeit mit Feder oder Tuschpinsel besondere Energien freisetzt. Energie haben die Schreiber in früheren Zeiten gewiss gebraucht, als sie mit dem Gänsekiel auf Pergament aus Tierhaut oder auf Papier, das aus Textilien in Mühlen hergestellt wurde, mit Tinte, die etwa aus Eisenvitriol, Gallapfelpulver und gummi arabicum gemischt war, und mit dem stets griffbereiten Sandstreuer oder dem Löschpapier zum Trocknen feuchter Tintenkleckse ans Werk gingen.
 
Mühselige Schreibarbeit. Bevor Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts den Buchdruck erfand und durch diesen technischen Quantensprung die massenhafte Verbreitung von Wissen ermöglichte, wurden nicht nur Briefe oder Dokumente von Hand geschrieben - jedes Buch musste zur Vervielfältigung Seite um Seite von Hand kopiert werden. Bis ins 12. Jahrhundert hinein waren es hauptsächlich Mönche und Nonnen, die in Klöstern und Schreibschulen die mühselige Arbeit verrichteten. Bücher wurden für die Liturgie, für Stundengebet, Gesänge und für Studien benötigt. Das Kopieren der Bücher war daher ein wichtiger Dienst für die klösterliche Gemeinschaft. Jeder neue Kodex war schließlich eine neue Quelle des Wissens. So waren die Mönche bei aller Mühsal sicher auch beseelt von ihrem Tun.
Allerdings ist in einem westgotischen Rechtsbuch aus dem 8. Jahrhundert dieser Kommentar eines Schreibers überliefert: „O wie schwer ist das Schreiben: es trübt die Augen, quetscht die Nieren und bringt zugleich allen Gliedern Qual. Drei Finger schreiben, der ganze Körper leidet…“  Der Stoßseufzer wird verständlich, wenn man weiß, dass die Tagesleistung eines Schreibers bei vier bis acht Blättern am Tag lag. Wort für Wort, Zeile um Zeile mit dem nötigen Druck auf die Feder geschrieben – nicht zu stark am Anfang, damit die Tinte nicht kleckst, kräftig später, damit die Schrift nicht dünner wird…
Geübte Kalligraphen schaffen heute eine ähnliche Tagesleistung, wenn sie karolingische Minuskel benutzen, die alte Standardschrift für Fließtexte, die in der kaiserlichen Hofschule Karls des Großen entwickelt wurde: ästhetisch anspruchsvoll, aber gleichzeitig flüssig zu schreiben. Ein Hobby-Kalligraph, der heute in Stunden der Konzentration und Kontemplation am Schreibtisch erst sich und dann andere glücklich macht, kennt solche Qualen nicht. Er hat für die grobe Arbeit seinen Computer.

Markenzeichen. Es muss aber nicht unbedingt Schönschrift sein. Die Handschrift an sich hat ihren Wert. Sie ist Ausdruck der Persönlichkeit, fließt doch beim Schreiben mit der Hand das Wesen des Schreibenden in die Feder. Handschrift ist ein Markenzeichen für Menschen, die ihre Mitteilungen noch mit dem Füllfederhalter auf ausgesuchtem Papier verfassen und gestalten. Menschen, die sich in unserer schnelllebigen Zeit Muße gönnen für das Verfertigen der Gedanken beim Anblick des vor ihnen liegenden Blattes Papier. Und vielleicht ist dann nicht nur der Duft der Tinte, die zarte Farbe des Papiers, sondern auch die schöne, melodische Sprache sinnliches Element eines vollendeten Briefes.
Diese Menschen sind beim Schreiben dem Empfänger zugewandt. So wie der „geneigte Leser“, an den die Botschaft gerichtet ist, die über den Moment des Lesens hinaus Bestand haben soll, sich die Person des Schreibers gegenwärtig machen wird. Jene Person, die mit ihrem schön geschriebenen Brief durch Inhalt und Form ausdrückt: „Du bist mir wichtig.“ Keine SMS, keine E-Mail führt menschliche Zuneigung so unmittelbar vor Augen wie ein handgeschriebener Brief.
Goethe erreichte mit seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ bekanntlich die Gefühlswelt einer ganzen Generation. Er wusste, dass die Feder auf dem Papier die Schwingungen der Seele transportiert. Und vom „Werther“ behauptete er, er sei statt mit Tinte „mit dem Blute meines eigenen Herzens geschrieben“.

Informationen:

Kalligraphie-Kurse (in Basel, in einem Kloster am Luganer See, gelegentlich auch in Norddeutschland), Literatur („Kalligraphie. Die stille Kunst eine Feder zu führen“ von Andreas Schenk), eine Auswahl aus 800 Schreibfedern und mehr gibt es im Baseler Scriptorium (Andreas Schenk, Scriptorium am Rheinsprung 2, Ch-4051 Basel). Weitere Informationen unter www.kalligraphie.com

Handgemachte Tinten in großer Auswahl gibt es zum Beispiel bei „De Atramentis“ (Tintenmanufaktur Jansen, Rosenbergstr. 24 A, 56579 Hardert), weitere Informationen unter www.tintenmanufaktur.de

   

 


 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016