Rettet Internet die Welt?

17. April 2012 | von

Seitdem Jesus seine Jünger beruflich umpolte und sie zu Menschenfischern machte, ist der Begriff „ins Netz gehen“ auch theologisch besetzt. Aus der englischen Bezeichnung Interconnected Networks für weltweit miteinander verbundene Rechnernetzwerke entstand der Kurzname Internet. Der bisherige klassische Datenaustausch über das World Wide Web (www) wird inzwischen ergänzt durch weitere Mediendienste wie Telefonie, Fernsehen und Radio, die jetzt ebenfalls über das Internet erreichbar sind. Über praktischen Nutzen, Entdeckerfreude und lauernde Gefahren erzählt unsere Autorin aus eigenem Erleben.



Das Gespräch mit Svetlana und Leonid verläuft lebhaft, und die kleine Mascha schenkt mir ihr noch zahnloses Lächeln. Der Kontakt mit der Familie ist – wie immer – herzlich und direkt. Kleines Detail am Rande: Svetlana und Leonid sitzen vor ihrem Computer in einer Wohnung am Leningradski Prospekt in Moskau, ich bin mit meinem Notebook in Nieuwkuijk, Holland. Über Skype, dem preiswerten Anrufsystem im Internet, und mit Hilfe einer Webcamera können wir uns sehen und miteinander sprechen. Unsere Freundschaft besteht auch über 4000 Kilometer Entfernung.



DIE NET-GENERATION

Unzählige Entwicklungen der Technik haben entscheidende Änderungen in unserem Leben bewirkt. Vor 40 Jahren genügte uns zum Telefonieren das Festnetz. Für das abendliche Entspannen am Fernseher standen uns zwei bis drei Programme zur Auswahl. Heute zappen wir durch 40 Kanäle, die via Satellit in unser Wohnzimmer kommen, und sind immer noch nicht zufrieden.

Die im Januar geborene Mascha aus Moskau wird bald mühelos ein Nintendo und wenig später ein iPhone bedienen. Dominik, der vierzehnjährige Sohn von Freunden aus Deutschland, hat für die Arztpraxis seiner Eltern eine Website entworfen und ins Netz gestellt. Das ist für ihn nichts Besonderes. Denn Mascha und Dominik gehören zu der sogenannten „net generation“ oder den „digital natives“, die in eine Gesellschaft hineingeboren wurden, in der das Internet bereits existierte. So mancher Erwachsene taumelt sprachlos verwirrt durch das World Wide Web, und da muss eben der Junior den Senior in die Welt (der Media) einführen.



AUCH SENIOREN GEHEN INS NETZ

Es geht aber auch anders. Da ist zum Beispiel meine heute 86-jährige Mutter. Im Alter von 75 Jahren beschloss sie, einen Computerkurs zu besuchen. „Meine Kinder lebten damals in Russland und Österreich. Da wurde häufiges Telefonieren zu teuer, und die Briefe waren ewig unterwegs.“ Um Kontakt mit uns halten zu können, konfrontierte sie sich unerschrocken mit dem Online-Medium. Im Internetcafé des Wohnstifts, wo sie heute wohnt, ist sie nicht die Einzige, die am Computer eifrig E-Mails tippt, begeistert digitale Fotos der Familie betrachtet oder nach Lösungen für das Kreuzworträtsel bei Google sucht.

Eine ARD/ZDF-Onlinestudie aus dem Spätsommer letzten Jahres zeigt, dass bereits 35 Prozent der über 60-Jährigen ins Netz gehen und die Zahl am Steigen ist. Bald werden also auch die Senioren keine „Exoten“ mehr im medialen Universum sein. Aber, so wie ich sie kenne, werden sie auch weiterhin bei Bedarf dankbar die Hilfe der Junioren in Anspruch nehmen, die ihnen – zumindest auf diesem Gebiet – weit überlegen sind.



FACEBOOK UND TWITTER

Im Juli 2011 wurde statistischen Erhebungen zufolge das Internet von mehr als zwei Milliarden Personen in Anspruch genommen. Das entspricht circa 30 Prozent der Erdbevölkerung. Die Zuwachsrate beim Gebrauch des Internets lag innerhalb von 10 Jahren bei schwindelerregenden 480 Prozent. In Kürze werden wir gar die Hälfte der Weltbevölkerung im Internet antreffen!

Die Reaktionen darauf sind verschieden. Meine Studenten an der Lomonossow-Universität in Moskau waren Mitte der 90er Jahre begeistert, via Internet plötzlich Zugang zum Weltgeschehen zu haben. Ich, ihre Deutschdozentin, war nicht mehr die einzige Informationsquelle über ein Leben außerhalb des Landes. Online verfolgten die jungen Russen weltweit politische und kulturelle Ereignisse und waren häufig besser informiert als ich, die ich noch nicht vernetzt war.

Es war dann auch eine Jugendliche, die mich auf die Online Comunities sozialer Netzwerke wie Facebook und Twitter aufmerksam machte. Kostenlos wurde ich Mitglied, loggte einige meiner Daten und Fotos ein. Jetzt sehe ich Igor auf seiner Promotionsfeier in Novosibirsk, Brautfotos von Tomi und Anja aus Budapest, ich kann Ellemieke auf ihrer Reise rund um die Welt begleiten. Meine Freunde erfahren im Gegenzug von meinem Leben in den Niederlanden.

Da gibt es aber auch Stimmen, die das Internet als einen „Turmbau zu Babel“ verfluchen. Wo bleibt die Privatsphäre der Benutzer? Wer gibt Garantie über die Korrektheit der Informationen, die wir bei den internationalen Suchmaschinen wie Google oder Yahoo finden? Wer schützt uns vor „Neppern und Schleppern“, vor Betrügern?



IN E-MAILS ERTRINKEN

Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, dass das Medium Internet in unserem Alltag allgegenwärtig ist. Aber wissen wir, dass sich psychologisch bei uns etwas verändert, wenn wir den Computer einschalten und uns einloggen? Wissenschaftler stellen immer wieder fest, dass nicht nur wir die Medien nutzen, sondern dass sie uns benutzen. Internet fasziniert, aber es „verschlingt“ uns auch. Die Amerikaner nennen diesen pathologischen Vorgang Time Sink Disorder. 

„Muss nur noch kurz die Welt retten…“, singt der Berliner Tim Bendzko seit einem Jahr erfolgreich in den deutschen Charts. „Noch 148 Mails checken, danach flieg ich zu Dir!“ Und weiter: „Da draußen brauchen sie mich…, unser Leben hängt davon ab.“ Der Song gipfelt schließlich in der Aussage: „Noch 148713 Mails checken, danach flieg ich zu Dir.“ Kurz: Stets anwachsende Kontakte werden von mir hektisch in einer virtuellen Welt gepflegt und Katastrophen grandios online gelöst. Und zwar rund um die Uhr. Die Sorgen des Ehemanns und die Probleme meiner Kinder kommen später… wenn überhaupt!

Mails werden nicht nur am Computer zu Hause oder im Büro gecheckt, sondern auch auf einem mobilen Telefon. Seit der Einführung des iPhones im Jahr 2007 kann der Verbraucher an jedem beliebigen Ort u.a. Zugriff auf Internet nehmen. Mittlerweile ist jeder Vierte im Besitz eines Smartphons. Die Fahrtzeit im Zug, Wartezeiten bei Behörden oder unverplante Freizeit werden mit der Beschäftigung des teuren Gerätes verbracht (es kostet zwischen 200 und 2000 Euro). Muss ich mir mit meinem kleinen einfachen Handy in der Tasche altmodisch vorkommen, wenn ich mit den Mitreisenden ein Gespräch anknüpfe, die Stille genieße oder einen Spaziergang in der Natur mache?



WIE DAS SCHWIMMEN IM OZEAN

Internet bietet eine Unmenge an Verbindungsmöglichkeiten und Informationsquellen. Ich brauche nur zu wählen. Mit Freunden wollten wir entdecken, wie wir es vermeiden können, in die unzähligen Fallen dieses Mediums zu tappen. Da sind wir z.B. gemeinsam auf die Homepage einer Tageszeitung gegangen, um zu analysieren, welche Wirkung sie auf uns hat. Buchstabencharakter, Farben, grafische Gestaltung, Geräusche beeinflussen unsere Entscheidungen, auf welche Information wir zuerst klickten. Beim Arbeiten tauschten wir unsere Eindrücke aus. Als ich beim nächsten Mal allein vor einer Homepage saß, war ich mir plötzlich viel bewusster, von welchen visuellen oder akustischen Reizen ich mich bei meiner Artikelauswahl leiten lasse.

Oft scheint mir das Surfen im Internet wie das Schwimmen im Ozean. Ich lasse mich von der Neugierde treiben, klicke – und statt der gesuchten Information erfahre ich plötzlich etwas Anderes, völlig Neues.



UNERWARTETE GLÜCKSFUNDE

Manchmal ist das Ergebnis positiv. Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen Serendipität (vom englischen Wort serendipity = Glücksfund). Aber ich merke auch, dass ein unbedachtes Klicken genügt, und ich verliere den Boden unter den Füßen, werde sozusagen von den Strömungen des Ozeans abgetrieben. So habe ich neulich einen Routenplaner konsultiert. Zehn Tage später fand ich eine gesalzene Rechnung über die geleistete Information im Briefkasten. Da halfen kein noch so empörtes Telefonat und kein dezidierter Beschwerdebrief. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen waren deutlich gewesen, und ich hatte mich durch einen unbemerkten Mausklick mit ihnen einverstanden erklärt.



ABSCHALTEN DURCH AUSSCHALTEN

Die Medienausstattung deutscher Familien mit Teenagern ist beeindruckend. Im Durchschnitt besitzt ein Haushalt mit Jugendlichen 4 Mobiltelefone, 2-3 Fernseher und 2-3 Computer mit den dazu gehörenden Internetanschlüssen.

Und da kommt es fast schon automatisch: Computer an, ein Spielchen oder Surfen im Internet! Entspannen am Abend, ohne viel nachdenken zu müssen. Wer kennt diesen Wunsch nicht? Aber Achtung, Falle! In solchen Momenten treten Bilder und Informationen in unser Unterbewusstsein ein, ohne durch den Verstand gefiltert zu werden. Jetzt benutzt Internet mich! Der Abend ist jedoch die wichtige Spanne zwischen Tagesaktivität und Schlaf, er ist der Moment, in dem wir die Lichter – auch im übertragenen Sinn – langsam ausknipsen können. Deshalb schlagen Forscher vor, den Fernseher oder Computer auch wirklich auszuschalten. Untersuchungen zeigen, dass vor dem Schlafengehen die Beschäftigung mit einem „geschlossenen“ Medium, z.B. einem Buch, mehr Entspannung bringt als das Sicheinlassen auf den eklatanten Mix von Fotos, Infos, Farben, Chats und Mails, die das Internet als „offenes“ Medium bietet.

Diesen Tipp versuche ich – mehr oder weniger erfolgreich – zu beherzigen: Spät abends möglichst keine Mails mehr beantworten oder noch schnell die letzten Nachrichten lesen. In Anlehnung an den Komiker Groucho Marx können wir etwas abgewandelt augenzwinkernd sagen: „Der Computer ist ein ausgezeichnetes erzieherisches Mittel. Wenn er abends eingeschaltet wird, gehe ich ins Nebenzimmer und schlage ein Buch auf.“



ÖKOLOGISCHER UMGANG

Mit der kommerziellen Verbreitung der Internet-Email Anfang der 1990er und durchgreifend dann mit dem World Wide Web etablierte sich das Internet seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend als Standard für die Verbreitung von Informationen jeder Art. Es hat so eine umwälzende Veränderung in unser aller Leben gebracht.

Ich genieße den technischen Fortschritt, die schnelle und problemlose weltweite Information und Kommunikation. Doch ich will mich von diesem Medium nicht dominieren lassen. Ich will nicht non-stop via iPhone erreichbar sein. Ein ungestörtes Mittagessen zu Hause oder ein kurzer Spaziergang machen mir den Kopf und die Seele frei, um mich danach wieder mit neuen Kräften meinen Mitmenschen widmen zu können: im persönlichen Kontakt oder virtuell online, aber immer heraus aus einem Bedürfnis nach echter Kommunikation.

Ich will einen „ökologischen“ Umgang mit den modernen Kommunikationstechniken lernen, d.h. immer mehr ihre positiven Seiten entdecken. Aber auch stets mehr deren Fallen, störende Einflüsse und Beeinträchtigungen erkennen, um mich und andere davor zu schützen. Das ist ein stetiger Lernprozess. Dafür muss ich aktiv sein. Doch dann kann ich bald der Hälfte der Weltbevölkerung im Internet – so wie es die Statistiken sehen – gegenübertreten. Und vielleicht doch noch einen – wenn auch kleinen – Beitrag leisten, um „die Welt zu retten“!



 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016