Roms berühmtestes Christkind

16. November 2010 | von

Lange franziskanische Tradition hat die römische Kirche Santa Maria in Aracoeli auf dem Kapitolhügel. Sie ist nicht nur wegen ihres grandiosen Treppenaufgangs berühmt, sondern auch wegen des dort verehrten Jesuskindes, des Santo Bambino. Viele Gläubige, vor allem Kinder, schreiben ihm Briefe, in denen sie ihre Wünsche äußern oder ihr Herz ausschütten.





Jeder Rombesucher trifft fast unweigerlich auf das Vittoriano, jenes gewaltige Nationaldenkmal, das mit seiner Baumasse die zentrale Piazza Venezia beherrscht und den Blick des Betrachters fast vollständig ausfüllt. Nur wer sich durch den tosenden Verkehr des Platzes zu den Seiten des Denkmals bemüht, stellt fest, dass die Anlage für ihre hochaufragende Konstruktion geschickt die Hanglage eines Hügels ausnutzt und somit die dahinterliegenden Gebäude dem Blick des Betrachters vom Platz aus entzieht: die Bauten am Kapitolsplatz, die heute vor allem die berühmte Sammlung des kapitolinischen Museums beherbergen, und die Kirche S. Maria in Aracoeli, die in der Geschichte der Stadt Rom und des Franziskanerordens einen bedeutenden Platz hat.

Die erste Kirche war an dieser Stelle im 6. Jahrhundert von griechischen Mönchen auf den Ruinen des Tempels der Juno Moneta errichtet worden. Sie trug den Titel St. Marien im Kapitol und war Teil jenes Klosters, das im 9. Jahrhundert den Benediktinern übergeben wurde. Wie in vielen anderen Fällen entstanden um das Kloster bald weitere Gebäude, ein Markt und an den Hängen des Hügels schließlich ein kleines Viertel, während die übrigen antiken Bauten auf dem Kapitol verfielen.

Von der Lage auf dem Burgberg (lat. arx), einer der beiden Spitzen des kapitolinischen Hügels, leitet sich auch der heutige Name der Kirche ab. Die Ortsbezeichnung in arce wurde im römischen Dialekt zu arceli, was dann wiederum Grundlage für die poetische lateinische Bezeichnung Ara coeli war, zu Deutsch etwa „St. Marien am Himmelsaltar“. Eine mittelalterliche Legende will allerdings wissen, die Kirche sei an jener Stelle errichtet, wo Kaiser Augustus nach einer Marienvision einen Altar für den Sohn Gottes – eben den besagten Himmelsaltar – errichtet habe.

Der Kapitolinische Hügel erwachte wieder zum städtischen Leben, als es dem römischen Volk im Verlauf des 12. Jahrhunderts gelang, seine politische Eigenständigkeit gegenüber dem Papst durchzusetzen. Als Versammlungsort der politischen Gemeinde wählte es den antiken Platz auf dem Kapitol, und auf den Ruinen des antiken Staatsarchivs wurde der Senatorenpalast als Sitz des Stadtrats errichtet. Just in diesem Umfeld übertrug Papst Innozenz IV. das Eigentum des Ortes (Kirche und Kloster) 1250 den Franziskanern. Diese bauten die Kirche von Grund auf um und gaben ihr das heutige romanisch-gotische Aussehen. 1445 wurde Aracoeli schließlich Hauptsitz (Generalkurie) des Ordens, und der gewaltige Klosterkomplex nahm mit seinen Verwaltungs- und Wohngebäuden, Kreuzgängen und Gärten nahezu die gesamte Nordseite des Hügels ein.

Als Gemeinschaft, die selbst im städtischen Umfeld geboren war, zeigten die Franziskaner eine große Nähe zur städtischen Gemeinde von Rom. Neben ihrer Rolle als Kultort und Hauptsitz des Ordens wurde Aracoeli somit auch Zentrum des politischen Lebens der Stadt.



Ordenskirche fürs VOlk

Der Einklang der neu errichteten Kirche mit den neuen Zeiten der Stadtgemeinde zeigt sich konkret in der Veränderung ihrer Ausrichtung: Während die alte Benediktinerkirche zum Forum, dem antiken Zentrum der Stadt, hin ausgerichtet war, blickt die Fassade der Franziskanerkirche zum mittelalterlichen Stadtzentrum über das Marsfeld in Richtung Petersdom.

Weit mehr als Petersdom oder Lateranbasilika, die als päpstliche Bauten vor allem Ruhm und Macht des Kirchenoberhauptes demonstrierten, war Aracoeli seitdem die Kirche des römischen Volkes und seiner politischen Körperschaften. Im Kloster fanden Versammlungen des Stadtrats statt, die Kirche diente als Ort für religiöse Feiern der Stadtgemeinde. Hier hielt der Volkstribun Cola di Rienzo seine Reden an das Volk, hier wurde 1341 Francesco Petrarca als Dichter gekrönt; hier fand 1571 der römische Triumph von Marcantonio Colonna nach dem Sieg in der Seeschlacht von Lepanto statt (und aus diesem Anlass wurde die vergoldete Kassettendecke eingezogen, die wir heute noch bewundern können). In Aracoeli findet auch heute noch zum Jahresende das Te Deum als Dankfeier des römischen Volkes statt, die vom 14. bis zum 19. Jahrhundert ununterbrochen der Papst leitete.



Vom Abriss bedroht

Einen tiefen Einschnitt brachte hier die staatliche Einigung Italiens. Die neue Regierung hob 1872 sämtliche Klöster der Stadt auf; der Komplex von Aracoeli ging in das Eigentum des Staates über, und im Konvent wurden eine Kaserne und der Sitz der Stadtpolizei eingerichtet. Nach dem Tod Viktor Emanuels II. wurde beschlossen, ihm als erstem König des geeinten Italiens ein Denkmal zu errichten, das zugleich den Ruhm des neuen Staates symbolisieren sollte. Für den geplanten Bauplatz in der Achse der Via del Corso wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, und 1885 begannen die Bauarbeiten, in deren Verlauf die gesamte Bebauung am Nordhang des Kapitols bis zur Einmündung des Corso abgerissen wurde, darunter das ehemalige Wohnhaus Michelangelos, der Sommerpalast Papst Pauls III. und auch das Aracoeli-Kloster mit der Generalkurie des Franziskanerordens. Nur um ein Haar entging die Kirche dem gleichen Schicksal.



Himmelstreppe zum Schrein

Heute wird St. Maria in Aracoeli wieder von Franziskanern betreut, die in einem kleinen Konvent hinter der Kirche wohnen, und sie ist immer noch die eigentliche Kirche des römischen Stadtrats. Das Kapitol direkt neben ihr ist der Sitz der römischen Stadtverwaltung; im Senatorenpalast sind die Amtsräume des Bürgermeisters, und im Konservatorenpalast befinden sich die städtische Registratur und das Standesamt. Daher sieht man auch oft Brautpaare auf dem Kapitolsplatz posieren, und Ara-coeli ist bei der römischen Bevölkerung eine beliebte Kirche für Hochzeiten. Zwei Treppen führen an der Westseite des Hügels zum Kapitol hinauf, und sie scheinen die geistliche und die weltliche Macht zu repräsentieren, die hier über Jahrhunderte im Ausgleich lagen.

Die majestätische Rampe der sogenannten Cordonata führt zum harmonischen Kapitolsplatz, dessen Gesamtanlage von Michelangelo entworfen wurde. Zur Aracoeli-Kirche führt dagegen eine steile Stiege aus 124 Stufen, die 1348 von der Stadtgemeinde aus antiken Marmorresten erbaut wurde. An der Spitze dieser Himmelsleiter erhebt sich die Westfassade der Franziskanerkirche, deren einziger Schmuck zwei kleine Fensterrosen über den beiden Seitenportalen sind. Die nackte Ziegelfläche lässt kaum ahnen, was den Besucher im Innern erwartet. Denn wie alle historischen Kirchen der Stadt ist auch diese ein Schrein von Kunstwerken aller möglichen Zeit- und Stilepochen, darunter neben der bereits erwähnten Kassettendecke der Fußboden im Kosmatenstil, Grabdenkmäler von der Hand Arnolfo di Cambios, Donatellos und Michelangelos, Fresken von Pietro Cavallini und Pinturicchio.



Hochverehrtes Jesuskind

Der größte Schatz der Kirche befindet sich allerdings im linken Seitenschiff. Dort wird in einem kleinen Nebenraum bei der Sak-ristei das Santo Bambino aufbewahrt, eine hölzerne Figur des Jesuskindes. Der Überlieferung nach wurde es im 15. Jahrhundert von einem Franziskanerbruder in Jerusalem aus dem Holz eines Olivenbaums aus dem Garten Gethsemani geschnitzt. Bei der Schiffsreise nach Europa geriet es in einen Seesturm und ging über Bord, doch wundersamerweise folgte die Kiste mit der kostbaren Fracht im Kielwasser dem Schiff und landete schließlich zu Füßen des Bruders am Strand von Livorno. In Rom ist man von dem wunderbaren Wirken der Figur überzeugt. Über Jahrhunderte wurde die Figur in Krankenhäuser und an die Betten der Kranken und Sterbenden gebracht, und eigens für diesen Zweck stifteten die Römer eine goldene Kutsche. Zahlreiche wertvolle Votivgaben zeugen von Gebetserhörungen, und P. Paolo, der

Guardian von Aracoeli, fasst die besondere Beziehung der Stadtbewohner zu ihrem Christkind zusammen: „Wenn man ein echter Römer sein will, muss man das Santo Bambino lieben.“

Nicht ganz so überzeugt zeigte sich dagegen Charles Dickens in seiner italienischen Reisebeschreibung (Pictures from Italy, 1846): Ich traf das nämliche Christkind kurze Zeit später auf der Straße im großen Staat unterwegs zum Haus eines Kranken. Mit diesem Ziel wird es beständig in ganz Rom herumgetragen; doch ich erfuhr, dass es nicht immer so erfolgreich ist, wie man gerne möchte; denn wenn es umgeben von seiner zahlreichen Begleitung am Bett einer geschwächten und angegriffenen Person in den letzten Zügen erscheint, erschrickt es diese nicht selten zu Tode. Hoch gerühmt ist es auch im Fall einer Niederkunft, wo es solche Wunder bewirkt hat, dass wenn eine Dame länger als üblich in den Wehen liegt, mit aller Eile ein Bote ausgesandt wird, um für den unmittelbaren Beistand des Christkinds zu sorgen. Es ist ein sehr wertvoller Besitz, auf den man großes Vertrauen setzt – insbesondere die religiöse Gemeinschaft, der es gehört.



Ehrenplatz zu Weihnachten

Doch vielleicht war der englische Schriftsteller einfach zur falschen Jahreszeit in Rom. Denn seinen ganz besonderen Auftritt hat das Santo Bambino natürlich in der Weihnachtszeit und könnte dabei vielleicht auch einen überzeugten Anglikaner für sich einnehmen. Während die meisten Besucher der Stadt im Dezember auf die Piazza Navona zum Weihnachtsmarkt eilen, ist für viele Römer das Fest unbedingt mit Aracoeli und seinem Christkind verbunden. Dicht gedrängt steigen sie dann am Heiligabend die steile Treppe hinauf, auf deren Stufen an diesem Abend Kerzen brennen. Vor der Kirchentür spielen die traditionellen pifferari – Dudelsackspieler aus den Dörfern im Umland der Stadt – Weihnachtslieder und stimmen die Besucher auf das Fest ein. In der Christmette thront die Figur des Christkinds auf einem kleinen Barockthron vor dem Hochaltar. Unter dem Gesang des Gloria wird es dann von dort in einer feierlichen Prozession in die Weihnachtskrippe übertragen, die in einer Kapelle im linken Seitenschiff aufgebaut ist. Auf den Knien seiner Mutter empfängt es dann dort in den nächsten Tagen seine zahlreichen Besucher, insbesondere Kinder, die ihm von einer kleinen hölzernen Kanzel vor der Kapelle Gedichte, Lieder und sogar kleine Weihnachtspredigten vortragen.

Bis Epiphanie bleibt das Christkind an seinem Ehrenplatz. Am Abend dieses Festtages wird es in einem tragbaren Schrein in Prozession über das ganze Kapitol bis zum kleinen Platz vor der Kirche getragen. An der Spitze der Treppe hebt es dann der Zelebrant empor, damit es seinen Segen über die Stadt und ihre Bevölkerung gibt. Danach kehrt das Santo Bambino wieder in seine Kapelle bei der Sakristei zurück. Als 1994 die Statue gestohlen wurde, war ganz Rom betroffen von der Nachricht, das Santo Bambino sei verschwunden. Die Römer gaben sich zunächst mit der Kopie, die seitdem in Aracoeli steht, nicht zufrieden, aber inzwischen ist die Verehrung wieder so intensiv wie früher.



Briefe aus aller Welt

Auch über das Jahr wird das Christkind von Aracoeli nicht vergessen. Aus aller Welt treffen immer wieder Briefe für das Santo Bambino im Kloster ein. Die Brüder legen diese in einen Korb auf den Altar mit dem Schrein der Figur. Dort verbleiben sie einige Zeit und werden dann ungeöffnet verbrannt, denn – so sagen sie – sie sind an das Christkind gerichtet, und nicht an die Brüder. So bleibt es ein Geheimnis des Santo Bambino, was man ihm dort geschrieben hat. Doch man sagt, die Lippen der Figur färben sich rot, wenn es einen Wunsch erfüllt.







Musikalischer Weihnachtsbrauch

Die pifferari – wörtlich übersetzt die „Pfeifer“ – waren Laienmusiker, die alljährlich aus den Bergdörfern der Abruzzen und Kalabriens nach Rom kamen. In kleinen Gruppen von zwei oder drei Personen spielten sie auf verschiedenen Blasinstrumenten (Flöte, Schalmei, Dudelsack) Lieder und traditionelle Weisen und besserten auf diese Weise ihren Lebensunterhalt auf. Ihr Erscheinen Ende November war für die Römer ein sicheres Zeichen, dass nun der Winter begann, und die Kinder wussten, dass es bis Weihnachten nicht mehr lange dauern würde.

Für die Römer gehören die pifferari also unbedingt zur Weihnacht. 1870 wurde dieser Brauch durch die neue Regierung verboten, was auf das allgemeine Unverständnis der Stadtbevölkerung stieß. Der Direktor der berühmten Vallecelliana-Bibliothek in Rom, Costantino Maes, forderte 1885 in einem Artikel: „Wir wollen die pifferari wiederhaben!“ Doch es sollte einige Zeit dauern, bis dieser Wunsch sich erfüllte. Erst in den letzten Jahren versucht die römische Stadtregierung, den alten Brauch wiederzubeleben, und mit ein wenig Glück kann man inzwischen auf den Straßen der Stadt in der Advents- und Weihnachtszeit wieder auf eine solche traditionelle Musikgruppe treffen.



Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016