Sergeis neue Freiheit
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Das orthodoxe Christentum wurde 988 von Byzanz übernommen. Großfürst Wladimir leitete damals die Christianisierung der Kiewer Rus’ (die Vorfahren der heutigen Russen) ein. Zunächst ließ sich der Fürst selbst von byzantinischen Priestern taufen, und dann folgten ihm der Adel und das Volk. So wurden die Ostslawen in den byzantinischen Kulturkreis eingegliedert.
Im 17. Jahrhundert führte der berühmte Patriarch Nikon liturgische Reformen durch, die später zu dem schmerzhaften ‘raskol’ (Abspaltung bedeutender Bevölkerungsgruppen) führen sollten. Die Altgläubigen hielten an den alten Riten fest, und schrieben so ein bewegtes Kapitel in der russischen Geschichte. Die Kirche begann mit dem ‘raskol’ das Vertrauen und die religiöse Substanz einzubüßen, auf die sie bisher selbstverständlich hatte bauen können.
Eine zweite Spaltung gab es nach der Oktoberrevolution von 1917. Die russisch-orthodoxe Auslandskirche distanzierte sich damals von der russisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, die sich ihrer Meinung nach zu sehr der sowjetischen Realität angepasst hatte.
Standortbestimmung. Mitte der achtziger Jahre ermöglichte die Politik der Perestroika unter Staatspräsident Gorbatschow das Wiedererwachen vieler Glaubensgemeinschaften in Russland. Bereits 1986 wurden erste Stimmen laut, den Atheismus aus dem staatlichen Leben zu verbannen. Weihnachten 1987 berichtete die Nachrichtenagentur TASS erstmals über katholische und protestantische Weihnachtsfeiern, aber es sollte noch einige Jahre dauern, bis auch orthodoxe Christen in der Öffentlichkeit ihre kirchlichen Festtage begehen konnten.
Innerhalb der Orthodoxie ist die russisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats die größte und einflussreichste. Patriarch Alexej II. unterstützt gegenwärtig den Reformkurs der Regierung Putins, versucht sich aber auch als Vermittler zwischen Regierung und (kommunistisch-nationalistischer) Opposition. Gleichzeitig fördert die russisch-orthodoxe Kirche vereinzelt konservative Bestrebungen von Monarchisten. Die Kontakte zur katholischen Kirche sind eher verhalten, Begegnungen finden meistens nur auf offizieller Ebene statt, und das Patriarchat macht keinen Hehl daraus, dass es den Proselitismus, das Abwerben der Russen zur katholischen Kirche, nicht akzeptieren kann.
Trotz der angespannten Situation unter den Vertretern der Kirchen auf höchster Ebene ist an der Basis der Kirchen langst ein Frühling der Ökumene angebrochen.
Finanzberater Sergei. Sergei ist Mitte zwanzig, ein aufgeschlossener junger Russe, der nach seinem Hochschulstudium jetzt als Finanzberater in einer russischen Firma arbeitet. Er berichtet von seinem Weg zur Kirche.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass man in Russland ein negatives Bild von der Kirche, von Gott und der Religion hatte. Ich wurde im Glauben erzogen, dass es Gott nicht gibt und dass alles, was über ihn erzählt wird, nichts weiter als das Geschwätz alter Leute ist. Als ich größer wurde, merkte ich schnell, dass ich kämpfen muss, um mir einen Platz an der Sonne zu erobern. Randgruppen wie Alte, Behinderte und Kranke hatten in meinem Weltbild keinen Platz. Ich wusste nicht, wie ich mich diesen Personen gegenüber verhalten sollte und beschloss, sie einfach zu ignorieren. Heute weiß ich, dass ich damals im Unterbewusstsein Angst vor dem Schmerz hatte. Ich konnte mit dem Leid nicht umgehen und schloss jedes Mal die Augen, wenn ich mit ihm konfrontiert wurde.
Heilsame Erkenntnis. Eines Tages lernte der junge Mann eine Gruppe Jugendlicher kennen, die einen absolut anderen Lebensstil als er hatten. Im täglichen Umgang mit ihnen erfuhr er, dass zwischenmenschliche Beziehungen nicht unbedingt auf Konkurrenzverhalten und Kampf angelegt sein müssen, sondern dass es durchaus möglich ist, im gegenseitigen Respekt und Einvernehmen, ja sogar in Solidarität mit anderen zu leben. Anfangs habe ihn diese Entdeckung schockiert, aber langsam habe er verstanden, dass auch er echte Beziehungen aufbauen könne, wenn er zum Beispiel den ersten Schritt auf einen ihm unsympathischen Menschen zumachte.
Sergei erinnert sich: Die erste Zeit war dieser neue Weg sehr steinig und häufig fiel ich in meine alten Verhaltensmuster zurück. Aber angespornt von meinen neuen Freunden, schaffte ich es immer öfter, die anderen anzunehmen.
Schlüsselerlebnis Taufe. Heute steht der junge Mann in Kontakt mit einer interkonfessionellen Jugendgruppe, der Katholiken, Russisch-Orthodoxe und Baptisten angehören. Einige Mitglieder schlugen ihm vor, mit ihnen zusammen nach dem Evangelium zu leben.
Sie wählen für jeden Monat einen Satz aus der Schrift, den sie im täglichen Leben zu verwirklichten suchen. So entdeckte auch ich, wie die Worte Jesu, konkret im Alltag verwirklicht, begannen, mein Leben zu verändern.
Mit der Zeit wuchs in dem jungen Mann der Wunsch, die Kirche näher kennen zu lernen. Mit seinen Freunden ging er öfter in den russisch-orthodoxen Gottesdienst und spürte nach einigen Monaten das starke Bedürfnis, sich taufen zu lassen.
Und dann ist das passiert, was ich als Schlüsselerlebnis meines Lebens betrachte: Mit der Taufe ist Jesus in meine persönliche Geschichte eingetreten, und ich lebe jeden Moment mit ihm. Je mehr ich die Beziehung zu ihm vertiefe und mich meinen Nächsten zuwende, umso glücklicher und freier fühle ich mich.
Nach dem Ende des Kommunismus und aufgrund schwerer ökonomischer Krisen muss sich mein Land jetzt mit Problemen auseinander setzen, die vorher nicht so evident waren. Ein Großteil der Bevölkerung lebt unter dem Existenzminimum und besonders die Randgruppen, die ich früher zu ignorieren versuchte, leiden unter dem neuen System. Die alten Leute beispielsweise bekommen monatelang ihre Pension nicht ausbezahlt, die eh sehr bescheiden ist, und riskieren zu verhungern.
Neuanfang mit Großeltern. Sergei studierte in Moskau und, obwohl seine Großeltern nicht weit von der Universität wohnten, hatte er keinen Kontakt zu ihnen. Mit seinem neuen Leben nach dem Evangelium kam die Erkenntnis, dass er seine Beziehung zu ihnen ändern müsste. Er begann sie öfter zu besuchen, für sie einzukaufen und ihnen im Haushalt zu helfen. Nach dem Staatsexamen fand der zielstrebige Mann sofort Arbeit und man bot ihm an, gegen eine geringe Miete im Studentenwohnheim zu bleiben. Er aber beschloss, zu seinen Großeltern zu ziehen, auch wenn ihm diese Entscheidung nicht leicht fiel, wie er betont. Die ersten Monate waren sehr schwierig: Der große Altersunterschied, die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und eine andere Mentalität schafften zwischen uns fast unüberwindbar erscheinende Barrieren. Zudem waren meine Großeltern überzeugte Atheisten, und wenn ich sonntags morgens sehr früh aufstand, um zum Gottesdienst zu gehen, wurde mein Großvater immer sehr böse und beobachtete misstrauisch mein Verhalten auch während der Woche. Dies alles war für mich eine große Herausforderung und eine ständige Einladung, den ersten Schritt zu machen.
Innere Freiheit. Manchmal verlor Sergei die Geduld, aber im ständigen Neuanfang, den Großeltern zu verzeihen, fand er eine innere Freiheit von den äußeren Umständen. Mit der Zeit ist unsere Beziehung entspannter und familiärer geworden. Als meine Großmutter starb, hat mein Großvater die Herzlichkeit und Nähe meiner Freunde erfahren dürfen – vielleicht hat er damals etwas von meinem Leben verstanden. Im Februar diesen Jahres ist auch er gestorben und ich bin dankbar dafür, dass wir zusammen erlebt haben, dass das gelebte Evangelium wirklich alle Barrieren zum Einstürzen bringt.