Solidarität zwischen den Generationen
Wir leben im Schraubstock der Demografie, formulierte Peer Steinbrück am 7. Februar in einer ZEIT-Kolumne. Unheilspropheten haben da leichtes Spiel, mit provozierenden Schlagworten Ängste zu schüren und Aggressionen zu wecken. Doch bei näherem Hinsehen profitieren alle drei Generationen einer Familie voneinander. Enkelkinder schätzen, lieben, bewundern ihre rüstigen und verständnisvollen Großeltern. Sobald Familie ins Spiel kommt, ist vom Konflikt der Generationen wenig zu spüren.
Jeder neue Tag bringt uns sechs Stunden mehr Lebenszeit. Wir werden dann am Ende des Tages zwar wieder älter sein, aber unser Leben hat sich zugleich verlängert. Die Lebenserwartung steigt jedes Jahr um drei Monate oder eben sechs Stunden pro Tag. Dieser Trend begann vor etwa anderthalb Jahrhunderten und setzt sich seitdem unaufhaltsam fort. Lag die Lebenserwartung bei Neugeborenen in Deutschland 1910 bei 51 Jahren (Frauen) und 47 Jahren (Männer), so waren es 1960 schon 72 Jahre (Frauen) und 67 Jahre (Männer). Und 2009 werden es bereits 83 Jahre bei den Frauen und 77 Jahre bei den Männern sein. Jedes zweite neugeborene Kind kann, so die Prognose, gut 100 Jahre alt werden. Medizinischer Fortschritt und wachsender Wohlstand machen es möglich.
Fazit: Früher starben die Alten früh. Heute werden sie ihrem Namen zusehends gerecht: Sie werden „richtig“ alt. Sie leben nicht nur länger, sondern auch besser. Und das ist gut so.
ALTERSPYRAMIDE STEHT KOPF
Aber es gibt ein großes Problem: „Unten“ wächst immer weniger nach. Die Geburtenzahlen gehen kontinuierlich zurück. Die Alterspyramide steht auf dem Kopf. Heute gibt es bereits weitaus weniger Jüngere als Ältere. Deutschland altert – und wie! Das Verhältnis der Bevölkerung im Erwerbsalter und jener im Rentenalter verändert sich ganz dramatisch. Standen 1990 noch 100 Erwerbstätige 23 Rentnern gegenüber, waren es 2010 bereits 34 Rentner und werden es in zwanzig Jahren vermutlich 53 sein. Dann werden zwei Menschen im Erwerbsalter für einen Rentenbezieher aufkommen müssen. Und die Rentenbezugsdauer lag 2010 bereits bei fast 19 Jahren (1960 noch bei 9,9 Jahren!). Wir leben zusehends „im Schraubstock der Demografie“ (Peer Steinbrück). Und der Druck wird von Jahr zu Jahr stärker.
So weit die Zahlen und Fakten. So weit – so gut? Der „demografische Faktor“ bestimmt die täglichen Diskussionen nicht nur in der „großen Politik“, sondern auch in der „kleinen Lebenswelt“ der Menschen in der Familie und im Freundes- und Kollegenkreis und löst stets heftige Debatten aus. Allein die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre, die in monatlichen Stufen über 18 Jahre erst im Jahr 2029 (!) erreicht wird, hat einen Proteststurm ausgelöst, so als käme die Rente mit 67 quasi über Nacht. Die Alten gewinnen nicht nur an Lebenszeit, sondern auch an Macht: an politischer Macht, an ökonomischer Macht, an gesellschaftlicher Macht. Wer will sich den Ärger und den Zorn der älteren Generation zuziehen? Schon ist alarmierend von der Gerontokratie, der Herrschaft der Greise, die Rede.
AUFSTAND DER JUNGEN
Und die Jungen? Kommen sie zu kurz? Machen sich die Älteren auf ihre Kosten ein schönes Leben? Kassandra, die Unheilsprophetin, hat viele Nachkommen hierzulande. In fast apokalyptischer Sicht rufen sie den „Krieg der Generationen“ aus und prophezeien den baldigen „Aufstand der Jungen“ gegen die „Altlasten der Alten“. Von einer bedrohlichen „Seniorenlawine“ ist die Rede, die die Jungen mit ihren Ansprüchen überrollt. Andererseits wird ein „grassierender Altersrassismus“ (Frank Schirrmacher) beklagt, der den Jugendkult von der Mode über die Werbung bis hinein in den Arbeitsmarkt und das tägliche Leben anprangert und die Alten ganz schön alt aussehen lässt.
Wer die öffentliche Diskussion aufmerksam verfolgt, muss sich Sorgen machen über das Verhältnis der Generationen. Umfragen wie die der Bertelsmann-Stiftung zum Verhältnis der Generationen bestätigen – auf den ersten Blick – die bedrohliche Situation. Die ältere Generation hat ein eher skeptisches Bild von der jüngeren. Sie kritisiert deren konsumorientierte Lebensführung (76 Prozent der Befragten) und ihr Verhalten im Alltag, vor allem die Gewaltbereitschaft und den Vandalismus. Die Jungen seien zudem vorrangig auf den eigenen persönlichen Vorteil bedacht (64 Prozent). Von der eigenen Generation haben die Alten wie selbstverständlich ein deutlich positiveres Bild.
GEGENSEITIGE HILFE IN DER FAMILIE
Ein völlig anderes „Generationenbild“ jedoch ergibt sich auf den zweiten Blick, wenn es um die persönlichen Erfahrungen der Generationen geht. Hier wird das Miteinander als gut und vertrauensvoll bezeichnet. Für beide Generationen hat die Familie einen überraschend hohen Stellenwert. Familie ist der Ort, wo „Menschen sich gegenseitig helfen“. Wechselseitige Solidarität ist die Brücke zwischen Alt und Jung. Und es gibt eine Fülle an Hilfe und Unterstützung auf Gegenseitigkeit in Form materieller und immaterieller Transferleistungen.
Bei den Alten sind dies: finanzielle Zuwendungen; Kauf von Kleidung und Spielsachen; gemeinsame Reisen in den Urlaub; alltägliche Dienste wie Babysitten, Abholen vom Kindergarten, Fahrten zum Sportplatz usw. Der Beitrag der Jungen besteht in: Hilfe beim Einkauf und im Haushalt; Arbeiten im Garten; Hilfestellung beim Umgang mit technischen Geräten wie Internet oder Handy; Besuche und gemeinsame Freizeit.
Der große Zusammenhalt in den Familien lässt die Großeltern wie selbstverständlich dazugehören. Auch wenn von ihnen nur 7 Prozent im selben Haus wohnen, so leben doch immerhin über 30 Prozent im selben Ort und 36 Prozent weniger als eine Stunde voneinander entfernt. Da wohnen alle aus der Familie doch relativ nah beieinander, und die Großeltern können jederzeit in Notfällen einspringen. Sie engagieren sich in vielfältigen Rollen: als Betreuer, als Spielkamerad, als Ratgeber, als Geschichtenerzähler, als Taxifahrer.
GROSSELTERN KOMMEN GROSS HERAUS
Großeltern machen ihrem Namen alle Ehre. Sie kommen groß heraus, wenn ihre Enkel noch klein sind. Dann leisten sie Großartiges. Ohne sie geht heute in vielen Familien so gut wie nichts mehr. Was den Eltern (als Doppelverdiener) weithin fehlt, haben sie in reichem Ausmaß: Zeit, Ruhe und meist auch Geduld. „Großeltern sind Eltern, die vom lieben Gott eine zweite Chance bekommen“, behauptet wohl zu Recht ein holländisches Sprichwort.
Tatsächlich gab es niemals zuvor eine so enge Beziehung zwischen den Generationen wie heute. Nie zuvor konnten sich so viele Großeltern so intensiv um ihre Enkelkinder kümmern. Und das über eine Zeitspanne nie gekannten Ausmaßes. Heute kommen die Großeltern nicht nur zur Einschulung ihrer Enkel, sondern immer häufiger auch zur Abitur- oder sogar zur Examensfeier.
Was das Verhältnis der Generationen entscheidend verbessert hat, ist der Abbau patriarchalischer Strukturen hin zu mehr partnerschaftlichen Verhaltensweisen. Es gibt eine große Toleranzbreite der Großeltern gegenüber ihren Enkeln, die die Eltern immer wieder überrascht aufmerken lässt. „Das hätten wir uns mal erlauben sollen“ oder „Das hat es früher bei uns nicht gegeben“.
RUHESTAND ALS ZÄSUR
Die Zeiten ändern sich, und sie ändern auch die Menschen. Das alte Stereotyp der strickenden Oma und des Pfeife rauchenden Opas ist längst überholt durch die junggebliebenen, mobilen, unternehmungslustigen Großeltern. Von wegen „alte Oma“, „alter Opa“! „Meine Oma spielt Tennis – mein Opa joggt jeden Morgen – meine Oma surft im Internet – mein Opa klettert noch auf die höchsten Berge“, so berichten Kinder von ihren Großeltern.
Die Alten sind längst nicht mehr die Alten! Zwischen diesen Zeiten liegen gerade mal einige Jahrzehnte oder kaum mehr als zwei Generationen. Heute erleben die Enkel ganz „neue“ Omas und Opas: modern frisiert, chic gekleidet, gut informiert, aufgeschlossen für neue Ideen und oft für manchen Streich zu haben. 70-Jährige und Ältere sehen heute viel jünger aus als früher – und sie fühlen sich auch so, mindestens um zehn Jahre jünger. „Auch mit sechzig kann man noch vierzig sein – aber nur noch eine halbe Stunde am Tag“, spottete einst der Filmstar Anthony Quinn.
Wir altern nach dem Bild, das wir uns selbst machen oder von anderen machen lassen. 60 Jahre oder 65 oder 70 – wer bin ich dann? Wer bin ich nach „getaner Arbeit“ in Familie und Beruf? Der Ruhestand ist die Zäsur in der Lebensbiografie eines Menschen, einer der schwierigsten Lebensübergänge. Oft von hundert auf null – entlassen in die „Zeitlosigkeit“ des Lebens und in die „Regellosigkeit“ des Alltags. Neue Lebensziele gilt es zu setzen, die wiederum neue Lebensmöglichkeiten erschließen. Die „jungen“ Großeltern sind nicht mehr so ausschließlich auf Kinder und Kindeskinder fixiert. Schließlich haben sie ihre eigenen Pläne, gehen auf Reisen, holen ein Studium nach, frönen ihren Hobbys, überwintern in südlichen Gefilden. Da gibt es viel Nachholbedarf. Großeltern leben ihr eigenes Leben und genießen ihre Autonomie. Sie kollidiert gelegentlich mit den familiären Erwartungen einer allzeit abrufbaren Indienstnahme.
GROSSELTERN UND FAMILIENPLANUNG
Großeltern „springen“ nicht sofort und zu jeder beliebigen Zeit, aber sie springen ein, wenn es die Situation erfordert. Sie stehen sozusagen „in Rufweite“ (i.R.) und bilden so ein Sicherheitsnetz für die junge Familie.
Für die jungen Eltern sind die eigenen (Schwieger-) Eltern mit Blick auf die Familienplanung von grundsätzlicher Bedeutung. Sie erleichtern ihnen die Entscheidung für Kinderwunsch und Kinderzahl. Großeltern sind ganz wichtige Knotenpunkte im eng geknüpften sozialen Netz, wichtiger als alle institutionelle Unterstützung. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist heute ein vordringliches Anliegen junger Paare. Ohne Oma und Opa geht da nichts, trotz Kita und Ganztagsschule. Sie sichern den Alltag ab, wenn Unvorhergesehenes eintritt, wie Krankheit der Kinder oder ungeplante Überstunden der Eltern. Die Generationen sind heutzutage mehr denn je aufeinander angewiesen und rücken näher zusammen. Großeltern geben viel, aber sie bekommen auch viel zurück, an Wertschätzung, an Anerkennung, an Zuneigung, an Fürsorge! Sie werden gebraucht – und das tut ihnen gut. Noch mehr werden sie gebraucht, wenn es in der Familie schwierig wird durch ständigen Streit zwischen den Eltern oder gar durch Trennung und Scheidung. Dann brauchen gerade die Kinder den Rückhalt und das Vertrauen der Großeltern als eine „emotionale Verankerung“. Sie brauchen eine Anlaufstelle für ihre Sorgen und Nöte.
WICHTIGE MITERZIEHER
Der Verlust an Macht und Verantwortung ist die Stärke der Großeltern. Sie haben nichts mehr zu sagen und gerade deshalb so viel zu sagen. Sie sind da, ohne sich aufzudrängen. Sie geben Rat, wenn sie gefragt werden. Sie halten sich diskret zurück und mischen sich nicht ein. Auch wenn sie selbst früher anders erzogen wurden, stimmen sie meist mit den Erziehungsvorstellungen der Eltern überein und halten sich auch daran. Großeltern sind Mit-Erzieher, nicht mehr, aber auch nicht weniger! Das gilt auch für den Bereich der religiösen Erziehung. Hier gibt es wohl den größten Dissens. In vielen Familien spielt Religion eine untergeordnete Rolle, zunehmend kaum noch eine. Oft sind die Großeltern noch die Einzigen, die ihren Glauben im Alltag praktizieren und zur Kirche gehen. Was ihnen für ihr Leben wichtig war und ist, würden sie liebend gern an ihre Enkel weitergeben. Aber was tun, wenn die eigenen Kinder davon nichts halten oder gar strikt dagegen sind?
Auch hier gilt es, das Erziehungsrecht der Eltern zu respektieren. Aber nach Absprache (und Aussprache?) mit den Eltern können Großeltern, etwa an religiösen Fest- und Feiertagen, über den Mehr-Wert des Glaubens (auch ihres persönlichen) sprechen. Christliche Rituale, Bräuche und Traditionen, die nach wie vor auch in jungen Familien großen Anklang finden, können da eine gute Brücke schlagen zwischen Leben und Glauben. Großeltern können Glauben nicht erzeugen, wohl bezeugen! Allein durch ihr Verhalten geben sie oft unbewusst ihre Überzeugungen nachhaltig weiter.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es beim Blick auf das „Generationsbarometer“ sowohl eine Innen- als auch eine Außenwahrnehmung gibt, wie sie unterschiedlicher nicht sein kann. Schaut man in die Gesellschaft hinein, fällt das Barometer. Geht der Blick auf die Familien, steigt es an. Wobei es in beiden Lebensbereichen durchaus Höhen und Tiefen gibt. Aber das Verständnis der Generationen untereinander wächst. Wie im Einzelnen sich die Generationen untereinander beeinflussen, darüber gibt es noch keine verlässlichen Auskünfte. Aber dass sie es tun, ist wohl erwiesen. „Jeder junge Mensch macht früher oder später die verblüffende Entdeckung, dass auch Eltern gelegentlich recht haben können“, behauptet der französische Schriftsteller André Malraux. Gleiche Erfahrungen machen umgekehrt wohl auch Eltern und Großeltern. Eine gute Basis für ein friedvolles Zusammenleben der drei Generationen!