Spektakulärer Fund am Fuß des Sinai
Vor 150 Jahren begab sich der Leipziger Gelehrte Konstantin von Tischendorf zum dritten Mal zum Katharinenkloster auf der Sinai-Halbinsel. Er fand dort endlich, wonach er schon früher gesucht hatte: die bisher älteste vollständige Bibelhandschrift des Neuen Testaments.
Leipzig, im Jahr 1840: Der an der dortigen Universität beschäftigte Wissenschaftler Konstantin von
Tischendorf hat sich eine große Aufgabe vorgenommen. Er will uralte Bibelhandschriften aufstöbern. Zu diesem Zweck führten ihn schon mehrere Studienreisen nach Frankreich, Groß-britannien und Italien. Was in Europa an alten Abschriften vorhanden ist, hat er bereits studiert und durchgearbeitet. Wenn es noch ältere Textzeugen gibt, dies seine Überzeugung, dann müssen die sich da finden, wo das Christentum sich zuerst verbreitete, nämlich im Vorderen Orient. Aber wo genau? Vermutlich in jenen uralten Klöstern, welche der Zerstörung durch Kriege und Erdbeben entgangen sind.
Die älteste bestehende Mönchsniederlassung der Welt ist das zwischen 548 und 565 gegründete Katharinenkloster auf der Sinai-Halbinsel. 1844 macht sich Tischendorf auf den Weg. Die dortigen Mönche sind zwar fromm, aber größtenteils ungebildet; von ihnen kann er sich keine Hilfe erwarten. Immerhin erlauben sie ihm den Zutritt zur Bibliothek. Tischendorf durchforstet die Regale, durchsucht die Abstellkammern – vergeblich. Vor seiner Abreise begibt er sich nochmals in die Bibliothek, wo er beinahe über einen Papierkorb stolpert.
Kostbarkeit im Abfalleimer
Ein offenbar mehr ordnungsliebender als wissenschaftsbegeisterter Mönch entschuldigt sich: Der Papierkorb stehe sonst in der Ecke, aber er habe gerade ein paar Abfälle zum Verbrennen bereitgestellt. Tischendorf wirft einen Blick darauf. Unter anderem finden sich da Pergamentblätter, die offensichtlich zu einem Kodex, einem handgeschriebenen Buch, gehörten. Der Gelehrte zieht das Bündel heraus, beginnt zu lesen und erkennt gleich, dass es sich um Teile einer altgriechischen Bibelhandschrift des Alten Testaments handelt. Nach langem Hin und Her überlassen ihm die Mönche schließlich 43 Blätter; die übrigen 86 behalten sie in Verwahrung. Immerhin darf der Gelehrte sie abschreiben. Die geschenkten Seiten dieses nach seinem Fundort benannten Codex Sinaiticus übergibt er nach der Veröffentlichung der Leipziger Universitätsbibliothek, wo sie noch heute aufbewahrt werden. Woher der Fund stammt, verrät Tischendorf allerdings nicht. Er möchte auch den noch verbleibenden Teil der Handschrift publizieren und fürchtet, dass jemand ihm zuvorkommen könne. Als er neun Jahre später wiederum im Kloster weilt, weiß niemand mehr, wo sich der Rest des Kodexes befindet. 1859 begibt sich Tischendorf ein drittes Mal zum Sinai. Auch diesmal sind alle Nachforschungen vergeblich, bis er, eher zufällig, vom Verwalter auf eine Pergamenthandschrift aufmerksam gemacht wird. Konstantin von Tischendorf verschlägt es die Sprache. Was er vor sich sieht, sind nicht nur fast alle fehlenden Blätter des Alten Testaments, sondern auch der älteste vollständige Text des Neuen Testaments mit allen 27 Büchern – abgeschrieben gegen 350 n. Chr.! „Ich hatte Tränen in den Augen, und das Herz war mir ergriffen wie noch nie", schreibt er an seine Frau.
Nach mühseligen Verhandlungen erreicht Konstantin von
Tischendorf schließlich, dass er die alte Handschrift nach Kairo mitnehmen darf, um sie abzuschreiben. Im Katharinenkloster gibt es nämlich nicht genug Papier und Tinte. Die Arbeit ist enorm; insgesamt müssen 110.000 Zeilen akribisch kopiert werden. Dabei sind dem Forscher noch zwei Kenner der griechischen Sprache behilflich, ein Arzt und ein Apotheker. Weil die Reise mit russischer Unterstützung finanziert wurde und die Mönche in Zar Alexander II. den Schutzherrn der orthodoxen Christenheit sahen, beschloss Tischendorf, den Kodex an die russische Regierung zu verschenken. Da aber der für das Sinai-Kloster zuständige Erzbischof gerade eben verstorben war und die Wahl eines Nachfolgers noch ausstand, konnte die Schenkung nicht vollzogen werden.
Tischendorf begab sich daher persönlich in diplomatischer Mission nach Petersburg, um über die Übergabe des Jahrtausendfundes zu verhandeln. Die kam erst zehn Jahre später zustande. Im Gegenzug erhielt das Kloster eine Spende von 9.000 Goldrubel. In dieser Sache wird Tischendorf bis heute manchmal noch fälschlicherweise der Unlauterkeit bezichtigt. Im Katharinenkloster zeigt man noch immer eine ‚Quittung’, die den Vorwurf begründen soll, dass er den Kodex gestohlen habe. 1933 war die sowjetische Regierung mehr an Geld als an einer alten Bibel interessiert. Sie verkaufte die Handschrift für 100.000 Pfund nach England. Seitdem ist sie im Britischen Museum in London zu besichtigen.
Damit ist die Geschichte dieses einzigartigen Fundes noch nicht zu Ende. 1975 wurden im Katharinenkloster in einem zugemauerten Raum Hunderte von Handschriften entdeckt. Da-
runter fanden sich weitere 12 Blätter des Codex Sinaiticus mit Texten aus dem Alten Testament. Bekanntlich besitzen wir von keinem einzigen biblischen Buch eine Originalhandschrift. Forschungen wie jene von Tischendorf aber belegen, dass die alten Abschriften der biblischen Bücher weit weniger Textvarianten enthalten als die Werke anderer antiker Autoren. Offenbar waren sich die Kopisten bewusst, dass es sich bei der Bibel nicht um ein gewöhnliches Buch handelt.
Seit Mai 2008 sind große Teile des Codex Sinaiticus auch im Internet zugänglich: http://www.codex-sinaiticus.net/de.