Tänzer mit Leidenschaft und Charisma
Der Befehl von oben an den Geheimdienst war unmissverständlich: Brecht ihm die Beine und arrangiert alles so, dass es wie ein Unfall aussieht. Er verdient es nicht anders, denn er ist eine Ausgeburt der Hölle! Diese geplante Strafaktion, die zum Glück dann doch nicht stattfand, galt mitnichten einem Schwerverbrecher oder einer menschlichen Bestie, sondern einem höchst sensiblen Künstler, dessen einziges Verbrechen darin bestand, dem politischen System seines Landes den Rücken zu kehren – und zu fliehen.
Leben der Extreme. Rudolf Nurejew – der begnadetste Tänzer des vergangenen Jahrhunderts – war dieser Künstler. Er wagte 1961 die Flucht in den Westen. Als Mitglied des Leningrader Kirow Balletts (das seinen ersten Auftritt im Westen überhaupt hatte) bat er am Pariser Flughafen um politisches Asyl. Wohlweislich äußerte er in seiner neuen Heimat kein ungutes Wort über das verlassene Sowjetsystem – er wolle einfach nur befreit ein neues, zeitgenössisches Repertoire tanzen und sei nur deshalb geflohen. Eine weise Wortwahl, denn sonst hätte man ihn vielleicht nicht verschont...
Das Leben des Tataren Nurejew war von vielen Extremen geprägt. Schon seine Geburt verlief nicht gerade gewöhnlich. Er erblickte das Licht der Welt 1938 während einer Bahnreise durch Sibirien nach Wladiwostok. Er wuchs am Fuße des Urals auf und sah im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal einen klassischen Tanz. Ab diesem Zeitpunkt wusste er (so weiß es zumindest die Legende), dass er nur dies und nichts anderes in seinem Leben tun wollte – nämlich tanzen.
Magnetischer Ausstrahlung. Doch niemand unterstützte ihn zunächst darin und so kam er erst mit 17 Jahren nach Leningrad an die Ballettschule. Die Ausbildung stand dort ganz im Zeichen einer ungebrochenen klassischen Tradition und fand unter dem strengen Regiment des Lehrers Alexander Puschkin statt, der auch schon mal absichtlich den Boden im Tanzsaal bewässern und damit extrem rutschig werden ließ - seine Eleven sollten lernten, ihr Gleichgewicht unter allen Umständen zu bewahren!
Nurejews Begabung war so außergewöhnlich, dass er sofort nach seiner Abschlussprüfung, die er mit 20 Jahren machte, Hauptrollen am Kirow-Theater bekam. Innerhalb nur weniger Jahre konnte er eine Virtuosität und magnetische Ausstrahlung auf der Bühne sein Eigen nennen. Die Fachwelt verglich ihn bereits zum damaligen Zeitpunkt mit dem legendären Nijinsky, dem eigentlichen Erfinder des modernen Tanzes, der in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts das Publikum mit seinem geradezu ätherischen Tanz verzauberte (und tragischerweise in geistiger Umnachtung früh verstarb).
Traumpaar. Aber Nurejew war eben Nurejew. Und dieser hatte einen unstillbaren Drang, neue Möglichkeiten tänzerischer Bewegung zu entdecken. Und so floh er aus einem ungeliebten System und landete zunächst am Royal Ballet in London.
Dort kam es zur berühmten Begegnung mit einer anderen Ikone des klassischen Tanzes, der Primaballerina Margot Fonteyn. Ihre gemeinsamen Auftritte sind legendär und dauerten bis 1963 – trotz ihres Altersunterschiedes: Sie war zum Zeitpunkt ihrer Begegnung ja bereits 40 Jahre alt und auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes angelangt, er war erst 23.
Ihr getanzter Pas de deux (also Tanz zu zweit) war bei diesen Beiden nun auch wörtlich zu nehmen, denn Nurejew wollte der männlichen Hauptrolle mindestens ebenso viel Gewicht verleihen wie der der Ballerina, und nicht nur ihr unterstützender (Neben-)part sein, wie es im klassischen Balletttanz bis dahin üblich war. Purer Egoismus wurde ihm natürlich auch unterstellt, als er als Vorkämpfer mit Visionen und dem entsprechenden Druck daran ging, das klassische Ballett umzugestalten. Dies schaffte er innerhalb kürzester Zeit, er veränderte das Gesicht des (etwas angejahrten) Balletts und verschaffte ihm ein sehr modernes Image. Ihm gelang es wie keinem Zweiten, eine Atmosphäre der Verzauberung auf die Bühne zu tragen, wenn er schwerelos wie der Flug eines Vogels, so die Primaballerina Margot Fonteyn, über sie glitt. Erst durch Nurejew wurde das Interesse eines breiten Publikums am Ballett geweckt.
Visionär mit höchstem Anspruch. Er füllte mühelos Londoner oder New Yorker Theater, auch wenn er drei Wochen lang täglich mehrmals (!) am Abend auf der Bühne wortwörtlich den Standard seiner Virtuosität mit gewaltigen Sprüngen steigerte. Seine charismatische Persönlichkeit ließ Nurejew die Anziehungskraft eines Popstars erreichen, dem Publikum und Kritiker zu Füßen lagen – und der es schaffte, seine Bühnenpartner zu Höchstleistungen anzuspornen. Er wurde zur Leitfigur für die Verbreitung des männlichen Tanzes, durchbrach darüber hinaus die Grenzen individuellen Geschmacks und wurde zum Kunstsymbol (wie etwa Picasso im Bereich der Bildenden Kunst oder die Callas als Sängerin). Der höchste Anspruch an sich selbst war für ihn das Absolute. Selbst als er schon ein gefeierter Superstar war, schritt er noch jedes Mal hinter den Kulissen beutegierig wie ein Tiger auf und ab, wechselte noch sechsmal die Schuhe, um anschließend die ausgemusterten zu beschimpfen und sodann in der Pose des Siegers auf die Bühne zu gleiten. Dieser Meister des Vergangenen und Gegenwärtigen und Visionär des Zukünftigen (wie er von der Kritik einmal betitelt wurde) arbeitete zugleich mit zeitgenössischen Choreografen zusammen, um ständig die Prinzipien des klassischen Balletts zu hinterfragen.
Verlust. 1980 wurde Nurejew zum Ballettdirektor der Pariser Opéra ernannt. In Paris verstarb er auch vor zehn Jahren, am 6. Januar 1993, an Aids, nachdem er die letzten Jahre seines Lebens, schwer gekennzeichnet durch seine Krankheit, körperlich nur mehr ein Schatten seiner selbst war. Die Welt des Tanzes verlor damals eine Person von herausragender Bedeutung.