Türen öffnen
Gottesdienst lebt von Grundzeichen. Essen und Trinken, Waschen, Salben, Berühren – Grundvollzüge des menschlichen Lebens wurden in den Sakramenten zu heiligen Symbolen; sie zeigen das Heil an, das in den Sakramenten gewirkt und gefeiert wird. Andere wesentliche Vollzüge des menschlichen Lebens brachten es nicht zur Würde von Sakramenten, aber sie spielen doch eine tiefe und wichtige Rolle in der Liturgie.
Eines dieser Zeichen, die den Menschen unmittelbar ansprechen, ist das Öffnen. Öffnen kann man vielerlei: Ein Buch, einen Briefumschlag, ein Gefäß und vieles andere. Aber am meisten in die Augen fällt das Öffnen einer Tür: Sie ist groß, sie wird von vielen gesehen, sie hat fast immer eine Seite, die in die Öffentlichkeit zeigt. Und so ist es nicht verwunderlich, dass das Öffnen von Türen in der Liturgie immer wieder eine Rolle spielte und bis heute spielt.
Festlicher Einzug durchs Portal
Eines der ältesten schriftlichen Zeugnisse für einen Türöffnungsritus findet sich in einer Ordnung für die Weihe einer Kirche aus der Zeit um 800. Bevor die Feiernden in die Kirche einzogen, wurde an der Tür der Psalm 24 gesungen. Er legt sich nahe wegen der bekannten Zeilen:
„Ihr Tore, hebt euch nach oben, hebt euch, ihr uralten Pforten; denn es kommt der König der Herrlichkeit. Wer ist der König der Herrlichkeit? Der Herr, stark und gewaltig, der Herr, mächtig im Kampf. Ihr Tore, hebt euch nach oben, hebt euch, ihr uralten Pforten; denn es kommt der König der Herrlichkeit. Wer ist der König der Herrlichkeit? Der Herr der Heerscharen, er ist der König der Herrlichkeit.“ (Ps 24, 7–10)
Unter dem Psalmengesang wurde die Tür geöffnet, und der Bischof und alle Mitfeiernden zogen in die neue Kirche ein. Die Deutung ergibt sich fast von selbst: Christus, der Herr, der König, auf den in der mittelalterlichen Frömmigkeit die Psalmen oft bezogen werden, ergreift von der neuen Kirche Besitz. Repräsentiert durch den Bischof tritt er in die Kirche ein und wird ihr Herr.
Weiterentwicklung des Ritus
Im späteren Mittelalter wurde der Ritus weiter ausgebaut. Man trug die Psalmverse jetzt als Dialog vor. Der Bischof rief die Worte: „Ihr Tore, hebt euch nach oben ...!“ und klopfte mit dem Stab an die Kirchentür. Die Frage „Wer ist der König der Herrlichkeit?“ wurde von einem Diakon aus dem Inneren der Kirche gerufen, die Antwort kam wieder vom Bischof. Diesen Dialog wiederholte man dreimal; dann folgte ein ebenfalls dreimaliger Ruf „Öffnet!“, und das Tor ging auf. Man kann sich vorstellen, dass dieser Ritus auf die Zeitgenossen einen nachhaltigen Eindruck machte.
In einfacherer Form wurde ein ähnlicher Ritus am Palmsonntag begangen. Nach spätmittelalterlichen Quellen und auch dem römischen Messbuch von 1570 sang man beim Einzug der Prozession in die Kirche den Hymnus „Ruhm, Lob und Ehre sei dir, König Christus, Erlöser“ im Wechsel zwischen einem kleinen Chor in der Kirche und den anderen Teilnehmern der Feier außerhalb. Am Ende stieß der Subdiakon mit dem Schaft des Vortragskreuzes an die Tür, die sich daraufhin öffnete.
Höllischer Lärm beim Öffnen
Weitgehend vergessen ist ein dramatischer Türöffnungsritus, der in manchen Kirchen in der Osternacht stattfand. Nach dem Zeugnis des Bamberger Rituale von 1587 – hier nur als Beispiel – machte sich eine Prozession auf den Weg über den Friedhof oder durch den Kreuzgang der Kirche. Man sang eine textlich beeindruckende Antiphon „Als der König der Herrlichkeit Christus die Unterwelt betrat, um sie zu besiegen, und der Chor der Engel vor seinem Angesicht befahl, dass die fürstlichen Pforten sich heben, da schrie das Volk der Heiligen, das im Tod gefangen war, mit tränenreicher Stimme: Du bist gekommen, Ersehnter, den wir in der Dunkelheit erwartet haben, dass du uns in dieser Nacht aus dem Gefängnis führst: Dich riefen unsere Seufzer, dich ersehnten lange Klagen, du bist die Hoffnung der Verzweifelten geworden, der große Trost in den Qualen. Alleluja.“ Man klopfte dann mit dem Kreuzschaft nacheinander an drei Türen der Kirche, wiederum mit den Versen aus Psalm 24. Die Frage „Wer ist dieser König der Herrlichkeit?“ kommt nach diesen Anweisungen aus dem Inneren der Kirche von einer Person, die den Teufel darstellt und mit einer Kette oder einem Hammer an die Tür schlägt – also höllischen Lärm macht. Aber an der dritten Tür wird die Macht des Teufels gebrochen; die Tür geht auf. Und das Rituale erklärt: Dadurch soll dargestellt werden, wie Christus nach seinem Leiden zu den Vätern hinabsteigt und die Pforten der Unterwelt für die Väter (und Mütter) des Glaubens öffnet.
Erste Heilige Pforte
Man kann auf dem Hintergrund solcher und ähnlicher mittelalterlicher Riten die Öffnung von Heiligen Pforten leichter verstehen und einordnen. Eine Heilige Pforte an der Lateranbasilika zum Heiligen Jahr ist erstmals für das Jahr 1400 bezeugt. Aber erst im Heiligen Jahr 1500 hat sich ein Ritus zur Öffnung herausgebildet und seither weiterentwickelt: Der Papst öffnet am Weihnachtsfest symbolisch mit einem Hammer eine der fünf Pforten des Petersdoms. Als Begleittext spielt hier noch ein anderer Psalmvers eine Rolle: „Öffnet mir die Tore zur Gerechtigkeit, damit ich eintrete, um dem Herrn zu danken. Das ist das Tor zum Herrn, nur Gerechte treten hier ein.“ (Ps 118,19f.)
Türen zu Gott hin
Türen öffnen sich in der Liturgie. Die Bedeutung ist vielfältig. Türen öffnen sich auf Gott und auf Christus hin. Türen öffnen sich – rituell dargestellt am Palmsonntag und bei der Kirchweihe – für Christus, der bei den Menschen einziehen und Gottes Nähe vermitteln will. In den Gesängen des Advents und des Palmsonntags ist häufiger von Türen die Rede: „Denn verschlossen war das Tor, bis ein Heiland trat hervor“ – hier öffnet Christus selbst die Tür hin zum Menschen, aber auch hin zu Gott. „Komm, o mein Heiland Jesus Christ, mein’s Herzens Tür dir offen ist“ heißt es in einem der beliebtesten Adventslieder, das auch am Palmsonntag passt. Der Mensch selbst öffnet sich für Jesus Christus.
Derselbe Jesus Christus setzt in seinem Tod und seiner Auferstehung einen Akt der Befreiung. Das Gefängnis des Bösen wird aufgebrochen, seine Türen halten nicht mehr stand, die an ihn glauben sind frei von Sünde und Tod – auch das kann Botschaft einer offenen Tür sein: „Er führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich, denn er hatte an mir Gefallen“ (Ps 18,20).
Türen führen aber auch den Menschen zu Gott hin. „Nur Gerechte treten hier ein“: Was erst wie eine Bedingung klingt, kann auch eine Wirkung sein. Die Tür zum Herrn steht offen. Wer zu ihm kommt, erfährt Erlösung und Rechtfertigung. Nicht die Heilige Pforte selbst vergibt Sünden – das wäre Magie –, aber die Nähe Gottes, in die sie führt, macht den Sünder gerecht.
Anders hinausgehen
Im außerordentlichen Heiligen Jahr 2016 ist einiges anders als sonst. Es gibt nicht nur in Rom Heilige Pforten, sondern überall in der Welt. Die Schwelle soll möglichst niedrig sein, und Papst Franziskus weist darauf hin, dass für alle, die keine offizielle Heilige Pforte erreichen können, eine andere Tür diese Funktion übernehmen kann, auch die Tür des Krankenzimmers oder der Gefängniszelle. Es geht nicht um irgendeine Leistung, sondern um den Zugang zu Gott und seiner Barmherzigkeit.
Und schließlich kommt in der Umsetzung des Heiligen Jahres mancherorts noch eine neue Deutung der Heiligen Pforten zum Tragen. Man kann durch Türen nicht nur hinein-, sondern auch hinausgehen. Und so stehen diesmal die Pforten auch für die Zuwendung der Christen zur Welt, besonders zu den Notleidenden und Schwachen, um die Werke der Barmherzigkeit verwirklichen und Gottes Barmherzigkeit ein Gesicht und Hände und Füße zu geben.