Tugend kommt von taugen
Das Wort Tugend klingt recht verstaubt und unzeitgemäß. Schon Friedrich Nietzsche stellt in seinem philosophischen Werk Jenseits von Gut und Böse fest, dass jede Tugend zur Dummheit neige und dass sie bewirke, dass der Mensch zahm, verträglich und der Herde nützlich ist. Sie gehöre zu einer angepassten und mittelmäßigen Moral für kleine Leute und enthalte den schlechten Geschmack mit vielen übereinstimmen zu wollen. Die so genannten bürgerlichen Tugenden wie etwa Fleiß, Anständigkeit, Rücksicht, Bescheidenheit, Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Wohlwollen gebärdeten sich wie eine alte, keifende, zahnlose Jungfer. Sie leisteten nur der menschlichen Lieblingsbeschäftigung des moralischen Urteilens und Verurteilens Vorschub.
Nur bürgerliche Fassade? Offensichtlich waren Nietzsches Angriffe gegen die Verformung der Tugenden gerichtet. Als Ausdruck bürgerlicher Wohlanständigkeit waren sie zu Fassaden geworden, waren heruntergekommen zu äußerlich vorgeschriebenen Regeln, aber sozial gültig und bedeutsam, gleichsam als eine Art von Polizeiforderung, durch die das Leben in Ordnung gehalten wird (Robert Musil). |
Moderne Tugenden zielen sowohl auf das Verhältnis des Menschen zu sich selber als auch auf seine Beziehung zur Umwelt. Moderne Tugenden müssen nicht unbedingt modern klingen. Oft sind es gerade die bewährten alten Tugenden, die höchst aktuell sind und nur einer zeitgemäßen Vermittlung bedürfen. Moderne Tugenden richten sich mitunter auch kritisch gegen bestimmte Zeitströmungen und verweisen so auf Defizite der gängigen Lebenspraxis. Welche Tugenden braucht unsere Zeit?
Sich wahrhaft annehmen. Dieser Tugend begegnen wir weder in den griechischen, noch in den römischen Tugendkatalogen. Wahrhaftigkeit beinhaltet nicht bloß die Bereitschaft, nicht mit Absicht etwas Unwahres auszusagen; sie meint mehr als nur Richtigkeit. Wahrhaftigkeit beinhaltet die Bereitschaft, die eigene Wirklichkeit mit all ihren positiven und negativen Seiten so wahrzunehmen und anzunehmen, wie sie ist. |
Leben nach Maß. Eine andere Grundgestalt der traditionellen Kardinaltugend ist die temperantia. Die Rede von Mäßigung klingt allzu verneinend und einengend. Am ehesten läßt sich die Bedeutung mit dem Wort Maß umschreiben. Es geht um das menschengerechte Maß, um die innere Ordnung des Menschen, die ja nicht statisch vorgegeben, sondern in freier Verantwortung zu gestalten ist. |
Immer mehr? Im Umfeld unserer Konsum- und Erlebnisgesellschaft werden Menschen zudem durch aggressive Werbung manipuliert und in die Maßlosigkeit getrieben. Entlastung Gottvertrauen. Wenn an der Wurzel des Immer-mehr-haben-Wollens die Angst steht (Heiden-Angst), dann ist diese Haltung letztlich nicht durch Appelle zu ändern, sondern nur so wie Angst zu überwinden ist: durch Vertrauen. |
Und der Heiden-Angst - es klingt sehr einfach, aber ich weiß keinen anderen Weg - ist letztlich nur mit Gott-Vertrauen beizukommen. Im Vertrauen auf Gott bin ich ein ganzes Stück entlastet von der Vorstellung mein Leben selbst absichern zu müssen.
Zur Tugend des Maßes gehört die Konsumaskese, das heißt positiv: Besinnung auf unsere wahren Bedürfnisse, kritisches Hinterfragen des so genannten Wohlstandes (dessen Kehrseite die seelische Armut ist), Aufdecken der Raffiniertheit und Verlogenheit der Reklame, Pflege der eigenen kreativen Fähigkeiten und der seelischen Kräfte. Negativ bedeutet dies: konkreter Verzicht auf Vieles, was angepriesen wird, Verweigerung der Gefolgschaft hinsichtlich der Reklame, Kampf gegen die Absolutsetzung ökonomischer Probleme in der Öffentlichkeit.
In spirituell begleiteten Fastenkursen entdecken viele Menschen den Weg der Konsumaskese und beginnen ihn in ihren Familien einzuüben. Dies führt nicht zu einer Verminderung ihrer Lebensqualität, vielmehr erleben sie diesen neuen Weg als Schritt in die Freiheit, hin zum wirklichen Genuss.
Leben nach Maß gehört heute zur Überlebenskunst der Menschheit. Wir sind nur zukunftsfähig, wenn wir auf das noch mehr in unseren Ansprüchen, in den Raffinessen und dem Streben nach Besitz verzichten. Dies ist ein Beitrag, der nicht nur der individuellen Bewältigung der eigenen Wunschwelt dient, sondern auch der Herstellung sozialer Gerechtigkeit.
Zivilcourage gefragt. Tugenden sind ohne Zivilcourage, die in moderner Sprache einen Aspekt der Kardinaltugend der Tapferkeit verkörpert, nicht verwirklichbar. Diese Tugend beinhaltet den Mut, für seine Überzeugungen öffentlich einzutreten. Sie schließt eine gewisse Unabhängigkeit vom Urteil anderer mit ein. Gemeinsam geteilte Sinneinsichten sind rar geworden, die Sinnhaftigkeit der Wahrheitssuche wird häufig bestritten, obwohl immer wieder recht deutlich vor Augen steht, was Lüge ist. Deshalb gilt nach wie vor: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (Ingeborg Bachmann). In einer Gesellschaft, in der das Einbringen von gelebten Überzeugungen keinen Mut und keine Zivilcourage mehr erfordert, wäre bereits alles gleichgültig und beliebig. In unserer offenen Gesellschaft droht immer die Gefahr, dass der Mensch von Interessen und Interessengruppen vereinnahmt wird. Es gehört großer Mut dazu, gegen die Interessen der Mächtigen die Rechte der Armen und der am Rande der Gesellschaft Lebenden einzuklagen. Die Kirche kennt in ihrer Geschichte viele, die sich aus Tapferkeit engagierten und dies mit dem Leben bezahlen mussten. Trotzdem, oder gerade deswegen gilt: |
Tugenden sind personifizierte Ermutigungsgestalten, die auf eine Vermenschlichung des Lebens in allen seinen Entfaltungsdimensionen abzielen.
Einsatz für andere. In dieser Tugend kommt das wechselseitige Verbunden- und Verpflichtetsein der Menschen in Not und Mangelsituationen zum Ausdruck. Wer sich solidarisch verhält sieht die soziale Grundstruktur des Lebens. Durch die Medien ist die Menschheit zusammengerückt. Solidarität gründet zunächst im bereitwilligen Erkennen solcher Situationen und sodann in der Fähigkeit, sich davon auch zuinnerst treffen zu lassen. Sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle in Verantwortung genommen sind. (Johannes Paul II., Enzyklika Solicitudo rei socialis Nr. 38). Es geht hier um ein Engagement für andere, das auf die je größere ausgleichende Gerechtigkeit abzielt. Solidarität beinhaltet sowohl den gewaltlosen Kampf gegen behebbare Formen und Strukturen der Ungerechtigkeit, als auch die Verbundenheit im Leid bei mitunter nicht veränderbaren Situationen. Sie wird authentisch nur dort gelebt, wo die Bereitschaft gegeben ist, auch persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Die Tugend der Solidarität erinnert an die Grundformel der Ethik, Die Tugend der Solidarität erinnert an die Grundformel der Ethik, die so genannte Goldene Regel, die lautet: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem andern zu. In der Bergpredigt hat Jesus formuliert: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen. (Mt 7,12). |
Dialog mit dem Ungewohnten. In einer Welt der unzähligen Meinungen und Überzeugungen ist ein Ringen um die Art und Weise gelungenen Zusammenlebens unumgänglich. Wirklicher Dialog gründet in der Voraussetzung, den anderen in seiner Freiheit und Würde ernst zu nehmen, und konkretisiert sich darin, sich verstehend auf dessen Anliegen und Denkkategorien einzulassen. Dies erfordert die Fähigkeit mit Ungewohntem, Nichtvertrautem und Fremdartigem umgehen zu können. Toleranz und Anerkennung legitimer Differenz sind hier vonnöten. Dialog ist deshalb aber niemals unverbindlich. Er leistet keiner beliebigen Standpunktlosigkeit Vorschub, vielmehr zielt er auf Entscheidung hin. In ihm geht es um die gemeinsame Suche nach dem Richtigen, Wahren und Guten. Andernfalls handelt es sich um einen Scheindialog, in dem nichts und niemand wirklich ernst genommen wird, da alles gleich-gültig ist.
Reich beschenkt. Im normalen Lebensalltag wird einem oftmals nicht bewusst, dass der Mensch unendlich mehr empfängt als er gibt, und dass Dankbarkeit das Leben erst reich macht. Man überschätzt leicht das eigene Wirken und Tun in seiner Wichtigkeit gegenüber dem, was man nur durch andere geworden ist (Dietrich Bonhoeffer). Dankbarkeit ist Denkarbeit. Das hat seinen Grund nicht nur darin, dass die Wörter danken und denken einer gemeinsamen althochdeutschen Wurzel entstammen. Es rührt daher, dass erst durch nüchternes Nachdenken realisiert wird, wie sehr man die Entfaltung und damit die Wahrheit seines Lebens anderen verdankt. Nur die Demütigen, also diejenigen, die sich richtig einzuschätzen wissen, werden wirklich dankbar sein können. Max Scheler hat einmal gesagt, die wirkliche Demut ist die Tugend der Reichen, das heißt derer, die sich reich beschenkt wissen.
Fundament Liebe. Wenn die Tugenden in Gott ihre Begründung haben, ist damit eine Letztbegründung geliefert und sie führen auch nicht zu menschlicher Überforderung. In und vor Gott gelangt der Mensch zur Verwirklichung seiner selbst. Er entdeckt, dass die Tugenden erst durch Gott ihre eigentliche Richtung und Verwurzelung finden und ihre gemeinsame Heimat in der Liebe liegt. Die Liebe ist daher bei allen großen Denkern des Abendlandes das formende Prinzip und Fundament aller Tugenden, denn ohne sie wäre alles nichts (vgl. 1 Kor 13). Die Liebe aber ist Gott selbst. Der Mensch darf wissen, dass die letzte Erfüllung seines Tugendbemühens ein Geschenk Gottes ist. |
Niemand sage: Was können Einzelne schon bewirken. Auch die Revolution von 1968 wurde von nur wenigen angestoßen und getragen. Die Lage ist also nicht hoffnungslos.