Um der Menschen willen!
28. Mai 2015
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Eine Wirtschaft, die tötet, hat Papst Franziskus in seinem Schreiben „Evangelii Gaudium“ angeprangert. Sie stärkt die ohnehin Starken und beutet die Schwachen aus. Die Schere geht auseinander. Der Mensch muss wieder in den Mittelpunkt – ein gemeinsames Anliegen der Christen.
„Wie ein Riss in einer hohen Mauer“: Unter dieser Überschrift nahm die Evangelische Kirche in Deutschland bereits im Juni 2009 zur immer noch anhaltenden globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise Stellung. Ein Riss in einer Mauer, zunächst kaum sichtbar, wird zunehmend breiter, bis der Mörtel, der die Steine zusammenhält, zerbröselt und am Ende die ganze Mauer einstürzt. „Wie ein Riss in einer Mauer“, mit diesem Bild beschreibt der Prophet Jesaja das Verhängnis seines Volkes und mahnt es zur Umkehr.
Passt das Bild des fast 3.000 Jahre alten Textes in unsere komplexe und kaum mehr überschaubare Welt, in der die Globalisierung die ökonomischen und ethischen Schutzmauern längst beiseite geschoben hat? Brauchen wir überhaupt Mauern? Und wenn ja, wovor sollen sie uns schützen? Was könnte der Mörtel sein, der alles zusammenhält? Worin besteht die Umkehr, worin neues Denken und Handeln?
GEMEINSAMES SUCHEN NACH ANTWORT
Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Und wenn es sie überhaupt gibt, dann werden wir Antworten auf die Fragen der weltweiten Wirtschafts-, Umwelt-, Generationen- und Gerechtigkeitskrise nur gemeinsam finden. Gemeinsam, global und nachhaltig.
Dass der Mörtel in der deutschen Gesellschaft bröckelt und der gesellschaftliche Zusammenhalt in einer zerklüfteten Republik schwindet, macht der aktuelle Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands (2014) deutlich. Dass der Mörtel in den Ländern der Eurozone bröckelt, machen die aktuellen Turbulenzen um die Finanzierung der griechischen Staatskrise deutlich. Dass der Mörtel des Zusammenhalts im globalen Dorf bröckelt, macht die Abschottung gegen die weltweiten Flüchtlingsströme überdeutlich. Wir sitzen alle in einem Boot.
Der Mangel an Verantwortung – darin sind sich die Analysten einig – war und ist die Ursache der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die um sich greifende Gier nach unvorstellbaren Renditen und Wachstumsmargen hat dazu geführt, dass die Risiken aus den Augen verloren wurden. Das ist hinlänglich bekannt.
EINFACHE GRUNDEINSICHTEN
So stellt sich die Frage, wie wir diese Krise angesichts der unüberschaubaren Problemzusammenhänge meistern können. Eine Hilfe bietet der Philosoph Karl Popper, wenn er feststellt: „Unsere Probleme sind kompliziert. Aber die Grundeinsichten sind alle sehr einfach. Daran kann man sich halten.“ Von einem der Gründungsväter der sozialen Marktwirtschaft, Wilhelm Röpke, stammt der Satz: „Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch; das Maß des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott.“ Das kann man im Sinne Poppers zu den einfachen Grundeinsichten rechnen, auch wenn immer weniger Menschen im christlichen Abendland diese Einschätzung teilen. Der Satz Röpkes kann sicher nicht die komplexen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge vereinfachen und bewältigen. Aber diese einfache Grundeinsicht aus der Zeit der Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft gehört mit zu den Voraussetzungen unseres freiheitlichen, säkularen Staates, die dieser nicht selbst garantieren kann, wie es der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde einmal ausgedrückt hat. Sie lenkt die Blicke auf das, was uns als Christen leitet und stärkt. Es geht um die Menschen, um deren Gottesverhältnis und um das, was unsere Gesellschaft zusammenhält.
Die Formulierung „um der Menschen willen“ entstammt einer biblischen Geschichte, in der es um das Halten des Sabbatgebotes geht (Mk 2,23-28). Die Jünger Jesu haben Hunger. Sie raufen Ähren am Wegesrand aus, um sie zu essen. Das wird beobachtet und als Verstoß gegen das Gebot angesehen, wonach am Sabbat keinerlei Arbeit verrichtet werden dürfe. Jesus verweist auf den König David, der – als er in Not war – die heiligen Schaubrote aß, die nur der Priester essen durfte. Und er fügt hinzu: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ (Mk 2,27)
VON GOTT GESCHENKTE WÜRDE
Gottes Gebote sind um der Menschen willen gemacht. Der Satz Jesu gehört zu den einfachen Grundeinsichten des christlichen Glaubens und er legt aus, was der biblische Schöpfungsbericht mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen aussagt: Das Maß des Menschen ist die ihm geschenkte Gottebenbildlichkeit. In diesem Gegenüber zu Gott besitzt der Mensch seine Würde, die er sich weder verdienen noch verlieren kann. Diese Einsicht ist durchaus umstritten, denn viele Jahrhunderte hindurch wurde die Würde als Tugend angesehen, die sich der Mensch verdienen müsse und die er, etwa durch seine Sünde, wieder verlieren könne.
Die dem Menschen von Gott geschenkte Würde bestimmt nicht nur das Verhältnis des Menschen zu Gott, sondern auch das Verhältnis der Menschen untereinander. Wer in seinem Mitmenschen ein Mitgeschöpf erkennt, das – unabhängig von seiner Leistung, seines Geschlechts, seiner Rasse, seines gesellschaftlichen Standes und seiner sozialen bzw. kulturellen Herkunft – dieselbe geschenkte und unverlierbare Würde besitzt, wird ihm mit Achtung, Respekt und Verantwortung begegnen (müssen). Diese theologische Einsicht hat enorme Bedeutung für alle gesellschaftlichen und globalen Zusammenhänge. Vielleicht darf man sogar so weit gehen und in dieser Einsicht den hermeneutischen Schlüssel für alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse erkennen.
DER GLAUBE ORIENTIERT
„Um der Menschen willen“ – die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch Jesus Christus allein aus Gnade eröffnet eine Perspektive, die über unsere menschlichen Möglichkeiten hinausweist. Im Glauben überschreitet der Glaube die Grenzen der eigenen Schwäche. Im Glauben weiß der Mensch um seine Schuld und um die Gefahr des Scheiterns. Der christliche Glaube bewahrt uns vor der Selbstüberschätzung der vom Menschen gemachten Systeme. Er macht uns demütig in allem Bemühen um die rechte Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. „Auf die orientierende Kraft des Glaubens können auch die moderne Marktwirtschaft und der Wettbewerb nicht verzichten“, so formuliert es Michael Ungethüm, der frühere Vorstandsvorsitzende eines weltweit operierenden Medizintechnikunternehmens.
FREIHEIT UND VERANTWORTUNG
„Zur Freiheit hat euch Christus befreit“, so heißt es bei Paulus (Gal 5,1). Und Martin Luther entfaltet diesen Satz in seiner bekannten Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520)“ mit den berühmten Worten: „Ein Christenmensch ist freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Der Reformator verbindet den Ruf in die Freiheit mit der Verantwortung für das Ganze. Um des Evangeliums willen ist der Mensch befreit von seiner Sünde. Er muss sich von niemandem knechten lassen. Das Evangelium spricht ihn frei und verleiht ihm den aufrechten Gang. Die Botschaft von der Rechtfertigung und der Ruf in die Freiheit spricht dem Menschen zu: Du bist frei! Du bist mehr als die Summe deiner Taten. Deine Würde musst Du Dir nicht erarbeiten. Du kannst ohne Angst auftreten. Was wäre das für eine friedliche Revolution, wenn all die geknechteten und unterdrückten Menschen auf unserem gefährdeten Globus erfahren könnten und für sich erkennen würden: Ich bin frei! Im Glauben kann ich Grenzen überschreiten. Die Freiheit des Menschen – das ist die eine Seite der Medaille. Die andere bewahrt den freien Menschen vor maßloser Selbstbezogenheit: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“ Freiheit, „um der Menschen willen“. Freiheit, um der Verantwortung willen. Freiheit und Dienst – so nennt es Luther.
Gemeinwohl und Eigennutz – das sind die beiden Brennpunkte der wirtschaftsethischen Ellipse des Protestantismus. Und dazwischen liegt der Raum, den wir durchschreiten und in dem gesellschaftliches Handeln geschieht. Erfolg und Verantwortung nennt es die Wirtschaftsethik: „Verantwortete Freiheit“ – das ist die Gestalt, mit der der evangelische Glaube wirtschaftliches Handeln ethisch begründet.
MEHR ALS NUTZEN UND FUNKTION
In der Haltung der verantworteten Freiheit – so heißt es in der Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ – spiegelt sich „ein Verständnis von Freiheit, das sich auf den christlichen Glauben gründet.“ Und dieses Verständnis „steht im Widerspruch zu einer bloßen Orientierung an der Nutzenmaximierung. Alle, die in einem Unternehmen tätig sind, ob Vorstände oder Hilfsarbeiter sind … vor allem Geschöpfe Gottes, geschaffen zum Bild Gottes … Menschen werden als Geschöpfe Gottes wahrgenommen, wenn sie nicht nur funktional als Arbeitskraft, sondern auch als Person mit ihrer eigenen Biographie und ihrem persönlichen Umfeld angesehen werden.“
OPTION FÜR DIE ARMEN
Eine im Glauben verankerte Werteorientierung geht aus vom biblischen Doppelgebot der Liebe, wie es Jesus – unter Aufnahme alttestamentlicher Traditionen – formuliert (Mk 12,28-32): „Das höchste Gebot lautet: Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und mit all deiner Kraft. Das andere kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Der Mensch lebt in der Beziehung zu Gott, seinem Nächsten und zu sich selbst. In der sinnvollen und verantworteten Ausgewogenheit der dreifachen Beziehung kann der Mörtel erkannt werden, der menschliches Zusammenleben festigt. Wir dürfen in den Krisen die nahen und fernen Nächsten nicht vergessen. Dazu gehört der verantwortungsvolle und nachhaltige Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen. Dazu gehört aber auch, dass wir Verantwortung übernehmen für die eine Welt. Wer Verantwortung für das Ganze tragen will, darf die Armen und Ausgegrenzten nicht vergessen.
Man spricht oft von den Verlierern der Globalisierung. Diese Verlierer sind nicht nur weit fort, sie leben mitten unter uns. Zum Doppelgebot der Liebe gehört es, dass wir „um der Menschen willen“ die „Option Gottes für die Armen“ beachten. Der Begriff stammt aus der südamerikanischen Befreiungstheologie. Er legt aus, was die Bibel in ihren beiden Teilen ins Zentrum rückt: die alttestamentlichen Sozialgesetze, die prophetischen Sozialethik und der integrative Lebensstils Jesu lassen die Parteinahme Gottes für die Armen und Schwachen erkennen. Der französische Bischof Gaillot drückt es so aus: „Wer in Gott eintaucht, taucht neben den Armen wieder auf. Es gibt keine Gotteserkenntnis an der Barmherzigkeit vorbei.“ Die Option für die Armen muss eine globale Dimension haben.
EINSATZ FÜR GERECHTE STRUKTUREN
Es geht – um den eingangs zitierten EKD-Text noch einmal aufzugreifen – ein Riss auch durch unsere Gesellschaft. Der amerikanische Soziologe Richard Sennet formuliert es so: „Der Kern des Problems, vor dem wir in der Gesellschaft und insbesondere im Sozialstaat stehen, liegt in der Frage, wie der Starke jenen Menschen mit Respekt begegnen kann, die dazu verurteilt sind, schwach zu bleiben.“
Die weltweit agierenden kirchlichen Hilfsorganisationen „Brot für die Welt“ – „Evangelischer Entwicklungsdienst“ – „Misereor“ und „Adveniat“, und in Deutschland die kirchlichen Sozialdienste der Diakonie und der Caritas setzen sich mit anderen Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege gleichermaßen ein für gerechte Strukturen und die Werke der Barmherzigkeit (Mt 25,31-46).
TEILHABE UND WERTE
Eine der wegweisenden Einsichten und Verdienste des Reutlinger Pfarrers und Sozialreformers Gustav Werner war sein sozialdiakonischer Einsatz für die Teilhabe aller am Leben. Das ist bleibend vorbildhaft und zugleich eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit: „Um der Menschen willen“ Teilhabe ermöglichen. Die EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ (2006) fordert: „Eine gerechte Gesellschaft muss so gestaltet sein, dass möglichst viele Menschen tatsächlich in der Lage sind, ihre jeweiligen Begabungen sowohl erkennen, als auch sie ausbilden und schließlich produktiv für sich und andere einsetzen zu können.“
Was trägt unsere Gesellschaft? Was ist der Mörtel, der alles zusammenhält? Es sind die Werte, die eine Teilhabe aller Menschen am Leben eröffnen. Viele dieser Werte verdanken wir der jüdisch-christlichen Tradition, die ihren Ursprung in der biblischen Überlieferung genommen hat. Vielleicht können wir den Mut, die Kraft und die Weisheit zur Umkehr und zum Neuanfang dadurch bekommen, dass wir – wenigstens ab und zu – dem Wort des Propheten aus dem alten Israel trauen: „Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.“
Der Autor
Prälat Dr. Christian Rose hat Verwaltungswissenschaften und Evangelische Theologie studiert, wirkte u. a. als Gemeindepfarrer und Professor für Biblische Theologie und Gemeindediakonie in Ludwigsburg. Seit 2007 ist er Prälat in Reutlingen. Er hat zahlreiche wissenschaftlich-theologische und religionspädagogische Publikationen verfasst.
Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016