Unser Kloster ist die Welt
Anfangs ziehen die Minderbrüder von Ort zu Ort – die Welt ist im wahrsten Sinn ihr „Kloster“. Doch die Gemeinschaft entwickelt sich, es entstehen neue Notwendigkeiten und man muss Wege finden, mit dem Dilemma zwischen Kloster und gelobter Armut umzugehen.
In vielen Städten des mittelalterlichen Deutschen Reichs haben sich Kirchen und Klöster der Franziskaner mehr oder weniger gut erhalten. Wenn auch die meisten Gebäude heute nicht mehr von Brüdern bewohnt werden, leben doch in wenigen Klöstern noch immer franziskanische Brüder: so etwa in Würzburg oder in Graz. Dabei war es in der Gemeinschaft der Brüder um Franziskus von Assisi anfangs nicht vorgesehen, überhaupt Klöster zu bauen. Ihre christusgleiche Art zu leben sprach dagegen: Sie wanderten in kleinen Gruppen umher, um den Menschen das Evangelium zu verkünden, sie zu einem besseren Leben auf Erden zu bewegen und ihnen die Hoffnung auf ein ewiges Leben zu vermitteln. In allem wollten sie – Jesus und den Aposteln gleich – arm unter den Armen leben. Dafür brauchte es keine Klöster, wie der genaue Beobachter der Brüder, Bischof Jakob von Vitry, noch zu Lebzeiten des Franziskus feststellte: Für diesen „Orden der Vollkommenheit“ ist das „Kloster die Weite der Welt“. Ganz ähnlich formuliert es nur wenig später die allegorische Erzählung „Der geheiligte Bund des seligen Franziskus mit der Armut“. Darin erkundet die „Herrin Armut“ die Lebensweise der Brüder und bittet sie, ihr das Kloster zu zeigen: „Die Brüder führten sie auf einen Hügel, zeigten ihr die ganze Welt, soweit man sehen konnte, und sprachen: Das ist unser Kloster, Herrin!“
Neue Erfordernisse
Dieser Geist durchzieht auch die Ordensregel von 1223, wenn sie mahnt: „Die Brüder sollen sich nichts aneignen, weder Haus noch Ort noch sonst eine Sache. Und gleichwie Pilger und Fremdlinge in dieser Welt, die dem Herrn in Armut und Demut dienen, mögen sie voll Vertrauen um Almosen bitten gehen.“ Indes konnte ein derart strenges, ja radikales Leben in der rasant wachsenden Gemeinschaft der Franziskaner dauerhaft nicht verwirklicht werden. Franziskus versuchte zwar, sich rigoros gegen in seinen Augen zu „komfortable“ feste Unterkünfte, die seinen Brüdern von Gönnern überlassen worden waren, zu wehren. Doch erforderte die sich weiterentwickelnde Form ihres Gemeinschaftslebens längerfristig stabile Orte: sei es für Gebet und Messe, zur Ausbildung neuer beziehungsweise zur Pflege älterer Brüder oder schlicht zur Ruhe und Erholung von den mitunter strapaziösen Predigt- und Almosenreisen.
Klösterlicher Bauboom
Es setzte folglich ein Veränderungsprozess ein, der in der Chronik des Jordan von Giano für Deutschland sehr konkret nachvollziehbar wird. Jordan selbst hat diesen Prozess nicht nur erlebt, er hat ihn persönlich gestaltet. Am Beispiel Erfurts lässt sich der Prozess der Sesshaftwerdung und des Klosterbaus in der Frühzeit des Ordens wie durch ein Brennglas verfolgen. Als 1223 die Brüder zu ihrem Provinzkapitel in Speyer zusammentrafen, fand es vor den Mauern der Stadt bei den Aussätzigen statt, wo Jordan als Guardian der dortigen Franziskaner gewissermaßen die „Hausleitung“ innehatte. Im darauffolgenden Jahr beauftragte ihn der Provinzial, eine Gruppe von sieben Brüdern nach Thüringen zu führen, „damit sie dort Häuser fänden und er die Brüder in geeigneten Niederlassungen ansiedelte.“ Zuerst gingen sie nach Erfurt, der größten Stadt Thüringens. Wie in Speyer, fanden die Brüder um Jordan auch hier eine erste Unterkunft bei den Leprosen vor den Stadtmauern, ehe ihnen Erfurter Bürger die verlassene Heilig-Geist-Kirche zuwiesen. Nachdem die Brüder dort sechs Jahre zusammengelebt hatten, fragte der von den Bürgern beauftragte Verwalter der Franziskaner den Bruder Jordan, „ob er etwas nach Art eines Klosters gebaut haben wolle? Er nun, der niemals im Orden Klöster gesehen hatte, antwortete: ‚Ich weiß nicht, was ein Kloster ist. Baut uns nur ein Haus nahe genug am Wasser, damit wir zum Waschen der Füße hinabsteigen können.‘ Und so geschah es.“
Das Haus am Fluss wurde in einer ganzen Reihe von Städten zur Keimzelle eines Franziskanerklosters, so etwa im thüringischen Mühlhausen, in Salzwedel in der Altmark oder in Graz in der Steiermark, um einige Beispiele zu nennen. In Erfurt begannen alsbald die Bauarbeiten an einer Konventskirche und einem Kloster, deren Fertigstellung Jordan vermutlich noch erlebte, als er 1262 seine zitierte Unkenntnis von Klöstern in seiner Chronik niederschreiben ließ. Vielleicht steckt hinter der Bemerkung Jordans auch Kritik am Bauboom, der den Orden inzwischen erfasst hatte. Mit der 1245 erteilten päpstlichen Erlaubnis für den Orden, Immobilien zum Nießbrauch anzunehmen, war eine rechtliche Konstruktion gefunden worden, die es erlaubte, der gelobten Armut zu folgen und gleichzeitig Klosteranlagen zu nutzen, denn diese gehörten formal dem Heiligen Stuhl. Auf dieser Basis erließen die Ordenskonstitutionen von 1260 Bauvorschriften, die gewissermaßen eine sichtbare Umsetzung des Armutsgebots in der Architektur gewährleisten sollten.
Treffpunkt Kreuzgang
Ebenfalls nicht gänzlich vergessen wurde das universale Klosterverständnis aus der Frühzeit. Kirche und Kloster schieden die Brüder nicht kategorisch von der Welt. Vielmehr boten sie den Menschen Einlass: Nicht nur große Teile der Konventskirche standen den Gläubigen offen, sondern die gerade im deutschsprachigen Raum nachgewiesene franziskanische Eigenart des doppelten Kreuzgangs stand für ein „teiloffenes Kloster“: Während der eine Kreuzgang für die Öffentlichkeit zugänglich war, blieb der zweite, kleinere und schlichtere den Brüdern als Teil der Klausur vorbehalten. Den ihnen zugänglichen Kreuzgang nutzen die Menschen für unterschiedlichste Zwecke: Es wurden Rats- und Gerichtssitzungen abgehalten, Hochzeiten gefeiert und Menschen beerdigt. Zünfte und Bruderschaften feierten dort zum Teil in eigenen Kapellen Messen und trafen sich anschließend im Kreuzgang zum gemeinsamen Essen und Trinken. Die Welt kam ins Kloster, und den Laienbruder, der als Steinmetz unter anderem den imposanten Chor der Franziskanerkirche in Erfurt baute und auch dort begraben wurde, verehrte die Sächsische Provinz sogar als Seligen.
Was für die ersten Franziskaner kaum vorstellbar war, war für die nachfolgenden Brüder sehr konkret: Die Welt zu Gast im Kloster.