Vergeben schenkt Leben
„Die Erde zu heilen, schuf Gott diese Tage“, so formuliert es ein Hymnus der österlichen Bußzeit. Die schlimmsten Verletzungen sind die inneren, ganz tief im Herzen und in der Seele. Sie heilen erst, wenn Vergebung gewährt wird. Im Epheserbrief 4,32 nennt der Apostel auch das Motiv zu einem solch heilenden Schritt: „Vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat!“
„Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern…“ Oft spreche ich diesen Satz im „Vaterunser“ und bin dabei – zugegebenerweise – nicht immer konzentriert. Aber Vergebung verdient meine volle Aufmerksamkeit. Sie ist wichtig für mich als Christin, die in einer offenen, pluralen Gesellschaft ihren Glauben und ihre Wertvorstellungen zu bezeugen sucht.
Gelegentlich steht mir dabei Dostojevskis Romangestalt Fürst Myschkin aus „Der Idiot“ vor Augen. Als christlich geprägter Charakter ist Myschkin stets bereit, zu verzeihen und in den Menschen das Beste zu sehen. In der Politik haben beispielgebende Menschen wie Mahatma Gandhi und Nelson Mandela einer Weltöffentlichkeit gezeigt, wie durch Vergebung tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft erreicht werden können. Aber wie sieht es bei mir aus? Es sei die etwas lapidare Frage gestattet: Ist Vergebung etwa nur für Gutmenschen oder charismatische Persönlichkeiten?
ICH BESCHENKE MICH SELBST
Was bedeutet also Vergebung für mich heute in meinem persönlichen Leben? Um vergeben zu können, muss ich zunächst mit mir selbst ins Reine kommen: überhöhte Ansprüche an mich selbst zurückschrauben und das Bemühen wachsen lassen, mich so anzunehmen, wie ich bin, Ja-sagen zu den Fehlern der Vergangenheit. In dem Film von Mitch Albom „Dienstags bei Morrie“ erteilt der unheilbar an Muskelschwund ALS erkrankte Hochschulprofessor seinem Ex-Studenten bei den wöchentlichen Besuchen eine Lektion fürs Leben. Kurz vor seinem Sterben gibt er dem jungen Mann einen Rat, der seine Existenz verändern soll: „Es sind nicht nur die andern, denen wir vergeben müssen. Wir müssen auch uns selbst vergeben.“
Und – so die erstaunliche Entdeckung in der Psychologie: Diese Haltung des Vergebens, in den großen und kleinen Momenten unseres Lebens, macht frei. Wir werfen Ballast ab. Es sind die eigenen Gefühle, die sich verändern. „Vergebung ist im Grunde ein Geschenk an Dich selbst, nicht an die Personen, die Dir Verletzungen zugefügt haben“, resümiert der amerikanische Philosoph Steven Hayes.
DAS UNVERZEIHBARE VERZEIHEN?
In der Beziehung zu anderen Menschen geht es nicht ohne Ungerechtigkeit und Verletzungen ab. Das ist unsere condition humaine. Wir werden gekränkt, enttäuscht und tief verletzt, wir verletzen andere durch Inkompetenz, Gedankenlosigkeit oder Vorurteile und zwingen ihnen unsere Ansichten und Wünsche auf. Und es fällt manchmal so unendlich schwer, einen Schlussstrich unter erlittenes Unrecht zu ziehen.
In der Geschichte gibt es genügend Beispiele dafür, dass dies nicht immer gelingt. Da ist zum Beispiel Vladimir Jankélévitch (1903 – 1985), französischer jüdischer Philosoph und Opfer des Nazi-Regimes. Er hält ein Verzeihen – spezifisch für die Nazi-Täter – für ausgeschlossen. Holocaust als Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei unverzeihlich. Der französische Philosoph Jacques Derrida (1930-2004) geht so weit, dass die Absolution von Schuld bis zur Verzeihung des Unverzeihlichen geht. „Man muss von der Tatsache ausgehen, dass es … Unverzeihbares gibt. Ist es nicht eigentlich das Einzige, was es zu verzeihen gibt? Das einzige, was nach Verzeihung ruft? Wenn man nur bereit wäre, zu verzeihen, was verzeihbar scheint, was die Kirche ‚lässliche Sünde‘ nennt, dann würde sich die Idee der Vergebung verflüchtigen. Wenn es etwas zu verzeihen gibt, dann wäre es das, was in der religiösen Sprache ‚Todsünde‘ heißt, das Schlimmste, das unverzeihbare Verbrechen oder Unrecht.“
ABSOLUTION NUR IM ABSOLUTEN
Verzeihen ist nicht eine momentane Gefühls- oder Willens-
sache. Wahre Vergebung – so die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz – gibt es nicht im Relativen menschlicher „Verrechnung“, sondern nur bei Gott. Sie formuliert es in Anlehnung an Derridas dichten Gedanken überaus kühn und treffend: Absolution gibt es nur im Absoluten. In Gott ist Sünde nicht nicht geschehen, aber in der göttlichen Vergebung wirkt sie nicht mehr nachhaltig negativ.
Und plötzlich wird das Verzeihen immer wieder neu ein Akt, da wir einen neuen Anfang setzen, oder besser: uns einen neuen Anfang schenken lassen. Denn nicht wir verzeihen, sondern vielmehr wird uns verziehen. Als Christen glauben wir: Gott allein verzeiht und befähigt so auch uns, zu verzeihen. Wie Gott mir, so ich Dir. Das ist die einmal von Kardinal Lustiger auf den Punkt gebrachte Logik der Verzeihung in Gott. Gott amnestiert uns und sagt: Du sollst vergessen, weil Dir vergeben ist.
MEIN JUBELJAHR 2013
Die Juden geben sich regelmäßig in einem „Jubeljahr“ die Gelegenheit, ihre Beziehungen von Grund auf zu erneuern: Unrecht wird verziehen, Ungerechtigkeiten werden wieder ausgeglichen. Die biblische Grundlage dafür findet sich in Kapitel 25 des Buches Levitikus. Ich habe mir vorgenommen, 2013 zu meinem Jubeljahr zu machen. Ich möchte meine „Schulden begleichen“. Ich werde Zeit brauchen, um mit Schmerzhaftem in der Vergangenheit abzuschließen. Das wird oft nicht einfach sein. Und ich werde den einen oder anderen als Gegenüber benötigen, der mir sein Verzeihen signalisiert.
Aber ich weiß, dass Gott mir bei diesem Unternehmen zur Seite steht und mich mit Seiner Gnade stützen wird. Es wird der Moment kommen, an dem ich Ihm und den Menschen in einer neuen Freiheit begegnen kann. In einer Freiheit, die „absolut“ genannt werden kann, weil sie im „Absoluten“ gründet und von ihm her „Absolution“ erfährt bzw. gewährt. In der Freiheit, die uns als Söhne und Töchter Gottes in der Menschwerdung Jesu zugesagt ist.
Möge 2013 ein solches Jahr der Freiheit, ein Jubeljahr werden. Für uns und all die Menschen, mit denen wir uns verbunden wissen.