Vergebung, Heilung und Trost
Franziskus war ganz von Christus ergriffen. Deshalb suchte er von Anfang an auch andere für Christus zu gewinnen. Im Jahr 1209 kamen die ersten Männer zu ihm, die Brüder werden wollten. Kaum waren sie zu acht, teilte er sie in vier Gruppen von je zwei Brüdern und sagte ihnen: „Gehet, Geliebteste, je zwei und zwei nach den verschiedenen Weltgegenden und verkündet den Menschen die Botschaft vom Frieden und von der Buße zur Vergebung der Sünden! Seid geduldig in der Trübsal, voll Zuversicht, dass der Herr seinen Ratschluss und seine Verheißung erfüllen wird! Denen, die euch fragen, antwortet demütig; die euch verfolgen, segnet..." (1Cel 29). Er umarmte die Brüder und sagte liebevoll und gütig zu jedem: „Richte dein Denken auf den Herrn. Er wird dich ernähren." Im Spätherbst 1209 brach der 27-jährige Franziskus mit Bruder Philippus ins Rietital auf. Unterwegs predigten sie, gaben Zeugnis von der Armut, Brüderlichkeit und Freude.
Die westliche Seite dieses Tales ist begrenzt von den Sabiner Bergen, die östliche von den Höhen der Abruzzen. Die Landschaft tut der Seele gut. Nicht zufällig trägt dieser Landstrich, der wie ein großes Amphitheater wirkt, den Namen „Heiliges Tal".
Einfache Höhlen. Der Ort Poggio Bustone, der 756 Meter über Meereshöhe liegt, ist seit dem Ende des 12. Jahrhunderts urkundlich belegt. Erhalten sind ein gotisches Tor, die sogenannte Porta Buon Giorno, und die Torre del Cassero, Teil einer Burg, von der allerdings nur noch wenig zu sehen ist. Nach der örtlichen Überlieferung grüßte Franziskus bei seiner ersten Ankunft die Menschen: „Buon giorno, buona gente", „Guten Tag, ihr guten Leute!" Zur Erinnerung an dieses Ereignis geht noch heute jedes Jahr am Fest des heiligen Franziskus der Ortsbürgermeister – begleitet von einem Trommler – von Haus zu Haus und wiederholt den Gruß des Franziskus. Das Familienoberhaupt beziehungsweise die Familie antwortet dann: „Buon Giorno!" Oberhalb des Ortes, etwa einen knappen Kilometer weiter und höher in Richtung Osten, am Anfang einer waldigen Schlucht, liegt der franziskanische Konvent San Giacomo (Sankt Jakobus). Und noch weiter oben am Berg die heilige Höhle (Sacro Speco). Das untere Heiligtum umfasst die dem Apostel Jakobus dem Älteren geweihte Kirche aus dem 14. Jahrhundert sowie das Kloster und den schlichten Kreuzgang. Das Refektorium (allen Besuchern zugänglich) wurde im 17. Jahrhundert ausgemalt. Von hier aus kann man in die einfachen, in den letzten Jahren restaurierten Höhlen und Grotten hinabsteigen, in denen Franziskus und seine Brüder lebten. Vor dem Konvent ist eine Loggia mit Arkaden, die eine herrliche Aussicht bietet.
Innere Heilung. Lässt man den Konvent und die Kirche zur Rechten liegen und geht auf dem Fahrweg in die Schlucht hinein, trifft man nach einigen hundert Metern links auf einen schönen Pfad, der in einer halben Stunde zum oberen Heiligtum (Sacro Speco) führt. Hier ist die Felsenhöhle, in der Franziskus über Wochen verweilte und zwei wichtige Erfahrungen machte. Um die Franziskusgrotte ist eine armselige Kirche gebaut. Der beschwerliche Weg hierher lohnt sich. Das Heiligtum liegt in großer Einsamkeit und tiefem Schweigen. Nur das Zwitschern der Vögel, das Rauschen eines fernen Bergbaches dringen in die intime Atmosphäre und tiefe Stille. Offensichtlich sind für Franziskus Felsen und Felshöhlen besonders wichtig. In Felsgrotten suchte er die Einsamkeit. Die Nacktheit des Felsens ist ihm Symbol für die absolute Armut und Ort des Kampfes gegen ungeordnetes Streben. Die Felshöhle ist ihm aber auch Zeichen für die Geborgenheit im Mutterschoß und die bergende Hand Gottes.
Als Franziskus nach Poggio Bustone kam, belastete ihn seine Vergangenheit und auch die Unsicherheit der Zukunft setzte ihm zu. Thomas von Celano berichtet: "Als er dort lange Zeit, vor dem Beherrscher des ganzen Erdkreises stehend, verharrte und in Bitterkeit der Seele die schlecht verbrachten Jahre überdachte, wiederholte er immer wieder das Wort: Gott, sei mir Sünder gnädig" (1 Cel 26). Franziskus tut hier wichtige Schritte, die noch heute beispielhaft sind und eine wichtige Lebenshilfe sein können. „Lange Zeit" – er war über viele Wochen in Poggio Bustone. „Vor dem Beherrscher des ganzen Erdkreises" – er blickt auf Gott, auf seine Heiligkeit, seine Allmacht, seine Barmherzigkeit. „Die schlecht verbrachten Jahre" – er vergegenwärtigt sich die jämmerlich vertanen Jahre und auch die bitteren Erfahrungen seines bisherigen Lebensweges. Angesichts des Herrn kommen in Franziskus die Bilder, die Worte, die Gefühle, die noch in seiner Tiefe sitzen, hervor. Auch die Personen, die an ihm schuldig geworden sind, lässt er wieder lebendig werden, sowie die Gefühle der Wut und Aggressionen, die sich in ihm angestaut haben. Er durchlebt gewissermaßen noch einmal – diesmal vor Gott – die Situationen und sucht sie dem Herrn zu übergeben.
Geistig erneuert. „Gott, sei mir Sünder gnädig!" Dieses Wort wiederholt er immer wieder in diesen Wochen. Dabei vertieft er sich ganz in Gottes Erbarmung und öffnet sich für das Heil, das von Gott ausgeht. Die Wirkung dieser Übungswochen vor Gott sind wunderbar und heilsam: „Da begann unsagbare Freude und höchste Wonne sich nach und nach in das Innerste seines Herzens zu ergießen. Auch ward er allmählich ganz verändert; der Gemütssturm legte sich, die Finsternis wich, die in Folge von Sündenangst sich über sein Herz gebreitet hatte; es wurde ihm die Gewissheit zuteil, alle seine Sünden seien ihm vergeben und die Zuversicht in ihm erweckt, wieder zu Gnaden zu kommen" (1 Cel 26).
Wichtig an dieser Aussage: Die Veränderung geschieht „nach und nach" und „allmählich". Offensichtlich geht es bei diesen Übungswochen des Franziskus nicht nur um Sündenvergebung, sondern auch um Heilung. Er kann am Ende dieser Periode Poggio Bustone verlassen ohne Sündenlast und ohne belastende und lähmende Erinnerungen. Sein Biograph vermerkt eigens, er sei geistig erneuert, schon in einen anderen Menschen umgewandelt gewesen. Und er bekommt in Poggio Bustone ein zweites Geschenk. Franziskus darf einen Blick in die Zukunft tun. Er lässt seine Brüder an dieser Freude teilhaben. „Habt Mut, Geliebteste, und freut euch im Herrn und lasst euch nicht traurig machen, weil wir scheinbar nur wenige sind… So ist es mir in Wahrheit vom Herrn gezeigt worden: Zu einer sehr großen Schar wird uns Gott anwachsen lassen und bis an die Grenzen der Erde und mehren und ausbreiten... Ich sah eine große Menge Leute zu uns kommen, die im Kleid und nach der Regel des heiligen Ordens mit uns zusammen leben wollten; und seht, ich habe jetzt noch den Lärm im Ohr, wie sie kamen und gingen, je nachdem es ihnen der heilige Gehorsam auftrug... Es kommen Franzosen, es eilen Spanier herbei, Deutsche und Engländer schließen sich an, und eine ungeheure Menge aus verschiedenen anderen Sprachen strömt herzu" (1 Cel 27). Diese Aussichten waren eine freudige Botschaft für die Brüder, denn sie wollten, dass ihre Zahl sich mehre und viele für den Weg nach dem Evangelium gewonnen würden.
Brüderlicher Zuwachs. Trotz der großen Gnadenerweise bleibt Franziskus nüchtern. Er schildert durch zwei Bilder die Zukunft sehr realistisch: Zu dem süßen und wohlschmeckenden Obst, das ihnen jetzt am Anfang der Gemeinschaft geschenkt werde, werden bald Früchte kommen, die weniger Geschmack haben und später auch solche voller Herbe. Jetzt werden sie ihr Netz auswerfen und einen reichen Fischfang machen. Man werde aber von den Fischen nicht alle gebrauchen können. In diesen beiden Bildern spricht Franziskus von der Zukunft der Gemeinschaft. Er sieht das Kommen von unwürdigen beziehungsweise unbrauchbaren Brüdern.
Über mehrere Jahre war die Einsiedelei Poggio Bustone sehr schwach besetzt. Zeitweilig gab es nur einen Bruder, der zugleich Pfarrer in Poggio Bustone war. An den Sonntagen fand dann kein Gottesdienst in der Einsiedelei statt. Inzwischen sind wieder einige Brüder dort. Zusätzlich zur Seelsorge im Dorf betreuen sie das Heiligtum und sind für die franziskanische Oase neben dem Konvent zuständig. Diese umfasst 15 Betten in Zwei- und Dreibettzimmern mit Bad sowie Schlafsäle. Es gibt auch eine Küche zur Selbstversorgung.