Verschlungen wie der Lebensweg
In der Jerusalemer Altstadt erwartet den Besucher orientalisches Ambiente, eine Vielzahl von Gerüchen und Eindrücken und ein Labyrinth von Gassen, das der Unkundige nur schwer durchschaut. Verwirrt mag er sich fragen, ob er je wieder aus diesem Gewirr von kleinen Straßen und Gassen herausfinden mag. Umgangssprachlich hat sich eingebürgert, ein solches Durcheinander, das orientierungslos machen kann, Labyrinth zu nennen.
Ein Weg zur Mitte. Dabei wäre der Begriff Irrgarten angemessener, denn ein Labyrinth ist im Gegensatz zum Irrgarten kreuzungsfrei, ohne Wahlmöglichkeit des Weges und keinesfalls unübersichtlich. Als solches führt es den Menschen auf nur einem Weg zu seiner Mitte.
Auch hier kann man sich hilflos fragen, ob man dieses Ziel je erreichen wird, denn oft genug führt der Weg von der greifbar nahen Mitte wieder weg und scheinbar in eine andere Richtung. Jedoch die “Verheißung“ eines Labyrinthes liegt gerade in der Gewißheit, dass der Mensch in seiner Mitte ankommen wird, vorausgesetzt der Mut verläßt ihn nicht auf seinem Weg.
Dass ein solches System sich den Menschen zu allen Zeiten als Symbol geradezu aufgedrängt hat, liegt nahe. In fast allen Kulturen und Ländern sind solche Formen bekannt – von Amerika bis hin zum asiatischen Raum, von Finnland bis Sardinien. Prähistorische Felszeichnungen, die einfache Labyrinthformen darstellen, sind ebenso zu finden wie antike griechische Labyrinthe.
Das Christentum greift dieses Symbol des menschlichen Lebensweges auf, denn auch in seinem Verständnis ist der Mensch nicht ziellos unterwegs, sondern schon immer auf eine Mitte – auf Gott, auf Jesus Christus hin – orientiert, mag er nun darum wissen oder nicht.
Eines der berühmtesten christlichen Labyrinthe befindet sich in der Kathedrale von Chartres mit den beeindruckenden Ausmaßen von über 12 Metern Durchmesser. Von außen betrachtet imponiert es durch seine Regelmäßigkeit, trotz seiner verschlungenen Wege. Aber ein Labyrinth lädt gerade nicht zur äußerlichen Betrachtung ein, es will vielmehr meditiert und gelebt werden. Mitten im Lebens-Labyrinth gehend, kann die Übersicht schon mal verloren gehen, die Mitte aus dem Blick geraten, der Frust über die Mühsal des Lebens überhand nehmen, und der Eindruck entstehen, all das sei vergeblich. Doch das Bild des Labyrinthes kann trösten: Jeder scheinbare Rückschlag, jeder Umweg gehört unabdingbar zum Leben, die Mitte kann nicht auf geradem Weg erreicht, sozusagen “im Sturm erobert“ werden.
Im Irrgarten gefangen? Doch kann man sich fragen, ob dieses Symbol für einen Menschen heutiger Zeit noch gut nachvollziehbar ist. Die Vorstellung, dass es nur einen Weg gibt, widerspricht scheinbar der Lebenserfahrung moderner Menschen, denn in ihr spielt gerade die Freiheit, die Wahlmöglichkeit eine große Rolle. Auch die schwierige Seite daran, der Entscheidungszwang, liegt ihnen oft näher als die Labyrintherfahrung. Das Leben heute ist also eher ein großer Irrgarten, in dem man dann und wann in Sackgassen gerät? Er hat keine wirkliche Mitte und man ist nur froh, wenn man irgendwann wieder herausgelangt. Vielleicht ist die Botschaft des Labyrinthes heute umso wichtiger: Bei aller modernen Irrgartenerfahrung spricht sie von der Sinnhaftigkeit menschlicher Wege und Umwege.