Versklavt und vergessen
Man nannte Archiv MSA sie ‚Verdingkinder’, da sie selber für ihren Lebensunterhalt aufkommen mussten. Als billige Arbeitskräfte wurden Bergbauernkinder aus armen und sozial schwachen Familien bis weit ins 20. Jahrhundert ausgebeutet, geschlagen und missbraucht. Die längst fällige Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte hat eben erst begonnen.
„Du kannst nichts, du bist nichts und wirst nichts." Diesen Ausspruch musste sich Nelly H. von ihrem siebten Lebensjahr an bis zur Volljährigkeit immer wieder anhören. Denn die 1925 geborene Nelly war ein so genanntes Verdingkind. Als sie gerade sieben Jahre alt war, wurde sie ihren Eltern weggenommen und auf einem Bauernhof wie eine Ware abgeliefert.
Von jetzt an ist Nelly kein Mensch mehr, sondern eine Arbeitskraft. Sie gilt nicht mehr als die Nutztiere im Stall. Da verwundert es nicht, dass sie vom ersten Tag an das Bett nässt, was zu Hause längst nicht mehr der Fall war. Dafür erhält sie jeden Morgen mit einem Lederriemen Schläge auf den nackten Hintern; manchmal wird sie für die Züchtigung an die Bank gefesselt. Das nasse Bettlaken wird für alle gut sichtbar vor dem Hof aufgehängt, weshalb das Mädchen von den Nachbarskindern als „Bettseicherin" verhöhnt wird. Von morgens früh bis abends spät muss Nelly mit anpacken. Im Sommer hat sie um fünf Uhr beim Mähen zu helfen. Dann bringt sie die Milch in die Käserei. Wenn sie zurückkommt, ist vom Frühstück meistens gerade noch ein Stück Brot und eine Tasse Kaffee übrig. Dann geht’s ab, in die Schule. Über Mittag und am Abend arbeitet Nelly im Stall. Zeit für die Hausaufgaben findet sie keine.
Sklavenhalter statt Pflegeeltern
Ledigen Müttern oder armen Eltern nahm man früher die Kinder oft einfach weg, ernannte für sie einen Beistand oder einen Vormund, steckte sie zuerst in ein Kinderheim und brachte sie später in eine Anstalt oder auf einen Bauernhof. Statt die leiblichen Eltern finanziell zu unterstützen, gab es Geld für die Sklavenhalter – Hauptsache, die Kinder waren „versorgt". Und vergessen waren sie auch, wie Marco Leuenberger und Loretta Seglias anhand von vierzig Schicksalen ehemaliger Verdingkinder in einem jüngst erschienenen Buch dokumentieren (siehe Kasten). Je weiter man mit der Lektüre dieses Buches vorankommt, desto zynischer erscheint einem der Begriff „Pflegeeltern". Gerade drei oder vier von den vierzig Kindern haben es einigermaßen ‚gut getroffen‘ – aber auch sie nicht für lange. Wenn die Behörden den Eindruck hatten, dass die Minderjährigen zu wenig arbeiten mussten, wurden sie anderswo „fremdplatziert", damit, wie man sagte, „etwas Rechtes aus ihnen wird".
Um die Betroffenen kümmerten sich die Behörden allenfalls in Ausnahmefällen – etwa wenn ein Lehrer sich ausnahmsweise einmal für ein Kind einsetzte, dessen Körper von Narben und Wunden übersät war, die von Schlägen herrührten. Selbst in solchen Fällen musste meist erst der Dorfpfarrer einschreiten, um Abhilfe – sprich einen Hofwechsel – zu erreichen.
Skandalöse Ignoranz
Einmal im Jahr fand eine vorher angemeldete Pflegeplatzinspektion statt. Dabei kümmerten sich die ausschließlich männlichen Vertreter der Fürsorge praktisch nie um die Schutzbefohlenen. Die wurden bei dieser Gelegenheit in bessere Kleider gesteckt – falls man sie nicht einfach wegsperrte und sagte, sie befänden sich gerade auf einem Schulausflug. Die Aufsichtspersonen gaben sich mit den Auskünften der Pflegeeltern zufrieden und ließen sich in der ‚guten Stube‘ bewirten. Skandalös ist auch, dass die Behörden die Pflegeplätze weit weniger streng beurteilten als die Lebensverhältnisse in den Herkunftsfamilien der Kinder. Dass die Vormünder und Beistände ihre Aufsichtspflicht kaum wahrnahmen, hängt auch damit zusammen, dass sie Angst davor hatten, sich mit einflussreichen Personen im Dorf anzulegen. Nellys Pflegevater beispielsweise war der reichste Bauer weit und breit und gleichzeitig Schulkommissionsmitglied und Gemeindevorsteher. Und, so die heute über Achtzigjährige, „der reinste Tyrann und Sklaventreiber. Alle auf dem Bauernhof litten unter ihm, auch seine Frau, sein Sohn und die Knechte." Ein bisschen Zuspruch erfuhr Nelly lediglich seitens des sechs Jahre älteren Sohnes. Der steckte sogar mehrmals Schläge für sie ein. Mit 22 Jahren nahm er sich das Leben.
Nicht nur die Behördenvertreter, auch die Lehrerschaft und die Nachbarn haben einfach weggeschaut, wenn es um die Verdingkinder ging. Angeblich hat niemand auch nur eine blasse Ahnung gehabt, was sich da tat in den meisten Pflegefamilien. So wie heute viele keine Ahnung haben, weil sie wegschauen und nichts wissen wollen von dem Unrecht, das geschieht vor ihren Augen, vor ihrer Haustür und in der großen weiten Welt.
Marco Leuenberger und Loretta Seglias, Versorgt und vergessen, Rotpunktverlag, Zürich 2008, 320 Seiten. In diesem Buch sind vierzig Schicksale von Schweizer Verdingkindern geschildert. Ergänzt werden die Erinnerungen der Betroffenen mit fachlich kompetenten Beiträgen über die diesbezügliche Gesetzgebung im 20. Jahrhundert und die damaligen sozialen Zustände.