Verstehen und Versöhnen
Ich habe noch das Klirren der Metallscheiben im Ohr, die schreiende Gesichter darstellen: große und kleine, vielleicht zwei Zentimeter dick, alle mit aufgerissenen Augen und Mündern, stummen Mündern. Zahllos sind sie, liegen übereinander auf dem Boden verstreut. Die mutigeren Besucher betreten diese Fläche, gehen zaghaft über das Feld, sind gezwungen auf die Gesichter zu sehen, denn ein Wegsehen birgt die Gefahr zu stolpern. Für die anderen Besucher ist schon der Anblick der Gesichter beklemmend genug. Und das Klirren das Metalls, wenn jemand darüber geht. Was ist berührender: Der stille Blick auf die stummen Schreie oder dieses Klirren?
Beklemmende Leerstellen. Diese Frage kann wohl jeder Besucher des Jüdischen Museums in Berlin nur für sich selbst beantworten. So wie es hier viele Stellen gibt, die sicher sehr unterschiedlich auf die Menschen wirken. Der Garten des Exils zum Beispiel: Sehe ich stärker das Labyrinth oder die Bäume, die darüber wachsen? Der Holocaust-Turm: Halte ich die Stille, die kahlen, nackten Betonwände aus oder erdrückt mich dies?
„Voids“ hat man diese „Leerstellen“ genannt, und damit ein englisches Wort gewählt, das soviel wie „leerer Raum“ bedeutet. Sie sollen hinweisen auf die nie wieder zu füllenden Lücken, die durch die Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten gerissen wurden. Somit stehen sie für eine untergegangene Kultur und daneben für viele Millionen einzelner ausgelöschter Menschenleben.
Gewiss sind sie die beeindruckendsten Teile des neuen Museums. Doch will dieses nicht nur verstanden werden als Erinnerungsstätte. Es versucht die Balance zwischen Mahnung und Information.
Reich an Symbolkraft. Der preisgekrönte Bau des amerikanischen Architekten Daniel Libeskind (geb. 1946) an sich ist dafür ein großartiges Zeichen. Er hat die Form eines Blitzes, oder auch eines Risses, ist nicht geradlinig oder angepasst. Libeskind selber deutet ihn als geborstenen Davidstern. Schon der leere Bau (Grundsteinlegung 1992) zog nach seiner Fertigstellung und bevor die Ausstellung eingerichtet wurde, viele Besucher an.
Diese betreten das Museum durch ein Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, das mit dem Libeskind-Bau unterirdisch verbunden ist.
Im Innern kann man drei sich unterirdisch kreuzenden Achsen folgen: Zunächst der Achse der Kontinuität, die in 14 Abschnitten die 2000-jährige Geschichte der Juden in Deutschland nachzeichnet. Eine umfangreiche, modern gestaltete Präsentation mit vielen Bildern und Texten, aber auch Originalgegenständen, Filmen, Computerpräsentationen und anderen kreativen Ideen zeigt geschichtliche Entwicklungen, aber auch individuelle Lebensgeschichten von den Anfängen bis heute. Dass dabei nicht nur das Berliner, sondern das gesamte deutsche Judentum thematisiert worden ist, ist dem Museumsleiter W. Michael Blumenthal zu verdanken. Geboren 1926 in der Nähe von Berlin, überlebte er die Zeit des Holocaust in Shanghai, und machte später in Amerika eine Wirtschafts- und Politikkarriere. Seit 1997 leitet er den Bau und die Konzeption des Museums.
Die Achse des Holocaust endet im Betonturm: Hier hört man zwar den Straßenverkehr von Kreuzberg, hat aber keinen Kontakt nach außen. Situation der Häftlinge? Fehlen der vernichteten Kultur? Dazu gibt es sicher viele Interpretationen und Empfindungen.
Die Achse des Exils zeichnet die Wege der Vertriebenen nach und endet im Garten des Exils und der Emigration. Dessen Betonwände und die Schräge des Bodens spiegeln die Orientierungsschwierigkeiten der Emigranten wider, aber die Ölweiden, die aus den 7 mal 7 Betonsäulen wachsen, symbolisieren gleichzeitig Hoffnung und Frieden.
Entdecken und Verstehen. Das Museum hilft, eine dem Christentum eng verbundene Religion und eine teilweise zerstörte Kultur zu verstehen. Dadurch können Missverständnisse und Vorurteile weiter überwunden werden. Deshalb ist es dem Museum zu wünschen, dass es fester Bestandteil aller privaten und organisierten Berlin-Besuchsprogramme wird. Man sollte mehrere Stunden Zeit dafür einplanen. Sie vergehen schnell in der abwechslungsreichen Ausstellung und an den Orten der Erinnerung und der Mahnung.
Jüdisches Museum Berlin
Lindenstraße 9-14
10969 Berlin (Kreuzberg)
Öffnungszeiten: 10-20 Uhr
weitere Informationen: www.jmberlin.de