Von der Kunst, anzufangen und zu verzeihen
Nur sechs Tage jünger als der Sozialreformer Adolph Kolping war die Gründerin der Oberzeller Franziskanerinnen, Antonia Werr, geboren am 14. Dezember 1813 in Würzburg. Sie ist ein leuchtendes Beispiel für den Frühling der Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert. Aus der Theologie der Kindheit Jesu entwickelte sie für strafentlassene Frauen den Impuls zu einem Neubeginn.
Wir stehen am Anfang eines neuen Jahres. Wie ein weißes, unbeschriebenes Blatt liegt es vor uns. Manches werden wir fortführen, was 2013 begann, anderes wird ganz frisch in unser Leben treten. Die jüdische Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) hat in ihrer politischen Theorie den Schlüsselbegriff der Natalität, beziehungsweise der „Gebürtlichkeit“ verwendet. Jeder Mensch ist aufgrund seines Geborenseins eine Schöpfung und ein Anfang in dieser Welt. Weil wir alle Geborene sind, können wir demnach handeln und sprechen, Initiative ergreifen und etwas Neues anfangen.
DER ANFANG IN BETLEHEM
Unter religiösem Vorzeichen hat hundert Jahre vor Hannah Arendt die Würzburgerin Antonia Werr (1813-1868) ebenfalls von der Geburt her gedacht und gehandelt. Sie ging aus von der Geburt Gottes in der Gestalt eines Kindes. Das Lukasevangelium bezeugt, dass Jesus in eine Krippe gelegt wurde, weil in der Herberge kein Platz war (Lk 2,7). Seit diesem ersten Weihnachtsfest im Stall von Betlehem steht die Krippe für die Geburt Gottes im menschlichen Kind. Es ist der Ort der Würdigung des Kleinen und Unscheinbaren, Ohnmächtigen und Verwundbaren.
Ähnlich wie dem Kreuz, kommt der Krippe die theologische Qualität zu, die innerweltlichen Machtverhältnisse umzukehren. Im verborgenen Anfang offenbart sich die Größe Gottes. Die Krippe ist der Ort, an dem Gott mit den Menschen neu anfangen wollte, indem er sich in Jesus den Bedingungen menschlichen Daseins aussetzte. Gott wählte für sein Erlösungshandeln mit den Menschen einen kleinen, unscheinbaren Anfang in Betlehem. Genauso klein waren die Anfänge, mit denen die Würzburgerin Antonia Werr ihre Gründung begann.
KLEINER ANFANG IN OBERZELL
Vor genau 200 Jahren, am 14. Dezember 1813, wurde Antonia Werr in Würzburg geboren. Im Lauf ihres Lebens festigte sich der Wunsch, an der Seite von strafentlassenen Frauen zu leben. Diesen Frauen, die gesellschaftlich und kirchlich an den Rand gedrängt waren, wollte sie neue Perspektiven eröffnen helfen. Sich dabei am Anfang des irdischen Lebens Jesu zu orientieren, bedeutete für Antonia Werr, zunächst einmal selber Anfängerin zu sein. Im November 1853 schrieb sie an einen Freund und Berater:
„Vor Allem aber muß ich Ihnen die große Freude schildern, welche mir ... Ihr erster Brief gewährte, um so mehr, als ich ... schon anfangen wollte, die Ausführung der begonnenen Sache für etwas Unmögliches zu halten. [...] Ich aber rief den heiligen Antonius ... um seinen Beistand an, daß er mir Kraft erflehen möge, damit ich das werden könne, was Sie glauben, daß ich bereits sei.“
Neben Antonia Werrs großer Verehrung für ihren Namenspatron, den heiligen Antonius von Padua, kommt hier das Prozesshafte des Anfangs zum Vorschein. Wer anderen zu Neuanfängen verhelfen will, muss selber klein anfangen, muss erst selber werden, was er/sie einmal sein will. Als Antonia Werr nach langem Zögern – sie war sich nicht sicher, ob er ihr Ansinnen unterstützen würde – dem Würzburger Bischof Anton von Stahl ihr Gründungsvorhaben mitteilte, nahm er sie freundlich auf, ermutigte sie und soll sich zufrieden gezeigt haben, dass sie ganz klein anfangen wollte, denn er sagte: „Betlehem war auch klein.“
JESUS WAR AUCH ANFÄNGER
Antonia Werr hat für die Spiritualität ihrer Gemeinschaft, der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu, ein Gebetbuch ausgearbeitet, mit dem ihre Schwestern das ganze Jahr über die Stationen des Jesuskindes nachvollziehen sollten, die in den Kindheitsgeschichten des Lukas- und Matthäusevangeliums überliefert worden sind. Einfühlend und betend sollten die Schwestern die ersten Lebensjahre Jesu meditieren und in dieser prägenden Phase der Kindheit Jesu die gesamte Tragweite der göttlichen Entäußerung erkennen, die der Erlöser des Menschengeschlechtes in seiner grenzenlosen Liebe bis zum Kreuz auf sich genommen hat: Als Kind war Jesus nackt und arm, in einem schlichten Stall kam er zur Welt. Von Herodes wurde er verfolgt, mit seinen Eltern musste er ins Ausland fliehen. Die heilige Familie waren Migranten, Fremde in Ägypten. Später kehrten sie in ihre jüdische Heimat nach Nazareth zurück. Jesus Christus war für sie der entäußerte Sohn Gottes, der in seiner Menschwerdung den Weg des Abstiegs wählte und ein wehrloses, nacktes Kind wurde. Ihren Schwestern schrieb sie ins Testament:
„In Wahrheit, nicht zum Scheine stieg Er [Jesus Christus] in den Schoß der heiligsten Jungfrau herab; in Wahrheit, nicht zum Scheine nahm Er unser sterbliches Fleisch an und wandelte unter uns Menschen. – In Wahrheit, nicht zum Scheine weinte Er, der gewaltige Gott, als ein armes Kind in der Krippe. – In Wahrheit, nicht zum Scheine nur, war der große, gewaltige Gott von Leiden und Mühseligkeiten beladen von Jugend auf.“
Wenn der große, erhabene Gott als armes Kind in der Krippe weinte und von Anfang an ein von Leiden und Mühen gezeichnetes Leben führte, um die Menschheit zu erlösen, dann sollte das Frauen Mut machen, ihre – oft von Kindheit an verfahrene Lebensgeschichte – anzuschauen und sich mit der leidvollen Vergangenheit zu versöhnen, um neu anfangen zu können.
NEUES VERTRAUEN INS LEBEN
Die Aufgabe der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu und Zweck der Oberzeller Einrichtung bestand in dem Wunsch, Frauen zu einer „zweiten Geburt“ und damit zu neuem Leben zu verhelfen. Antonia Werrs Anliegen war es, marginalisierte Frauen auf dem Hintergrund der Spiritualität der Menschwerdung an den Ursprung des Lebens zurückzuführen und ihnen Mut zu machen, neues Vertrauen ins Leben und in sich selbst auszubilden.
Frauen, deren Kindheit überlagert war von Verwahrlosung und Vernachlässigung, Frauen, die wohnungslos auf den Straßen der Welt umher geirrt waren, die verarmt oder sexuell ausgebeutet worden waren, sollten im Blick auf das Kind, das sich in seiner Menschwerdung mit ihnen solidarisierte, ermutigt werden, wieder zur Einfachheit und Freude der Kindschaft Gottes zurückzufinden. Gemäß den Statuten des Oberzeller „Rettungshauses“ genügte es nicht, „mit ihnen zu arbeiten, sie zu belehren, zurecht zu weisen“; vielmehr sah die Gründerin ihre Aufgabe darin, die Bewohnerinnen „nicht blos äußerlich zum Scheine, sondern innerlich wahrhaft zu bessern“. Deutlich kommt hier die Parallelität zum Ausdruck, mit der sie oben ihre tiefste Glaubensüberzeugung formulierte, dass Gott Mensch geworden ist.
TODESSPIRALE DURCHBROCHEN
Die Botschaft an die Frauen lautete: So wie Gott in dem unscheinbaren Kind geboren worden ist, könnt auch Ihr neu anfangen! An der Krippe und angesichts des wehrlosen Jesuskinds könnt Ihr euren Ursprung und neue Unschuld finden! Die Krippe ist der theologische Ort der Geburt Christi und der Wieder-Geburt der ausgegrenzten Frauen. Hier sollen sie ihre ureigene Würde als Kinder Gottes wieder geschenkt bekommen und in aller Armut, Wahrheit, Demut und Einfachheit neu zur Welt kommen. Die Todesspirale, in der die Frauen durch den familiären, sozialen und kirchlichen Ausschluss gefangen waren, soll auf ein neues, religiös motiviertes, selbstbestimmtes, sozial-inkludierendes Leben hin durchbrochen werden.
Dies geschah praktisch durch die sogenannte Lebensbeichte, mit der die Frauen gemäß der Satzungen „zur richtigen Erkenntniß ihres Seelenzustandes“ geführt werden und „auf die Bahn des Guten“ gebracht werden sollten. Antonia Werrs Vision ihrer „herrlichen, wenn auch höchst schwierigen Aufgabe“ war es, „unglückseligen Menschen den Frieden mit Gott wieder zu geben und sie wieder auszusöhnen mit einem, oft mehr unglücklichen als tief verschuldetem Geschicke“.
NEUANFANG DURCH VERGEBUNG
In der Lebensbeichte sah Antonia Werr die Chance der Versöhnung und des Neuanfangs. Dabei erachtete sie es als ihre ureigenste pastorale Kompetenz, die Frauen selber auf diesen Schritt vorzubereiten, indem sie mit den Frauen die Vergangenheit anschaute und ihre leidvolle Lebensgeschichte aufarbeitete. In einem Brief vom 3. Januar 1857 verwehrte sie sich gegenüber dem Bischöflichen Ordinariat Würzburg gegen Anschuldigungen:
„Die oberhirtliche Stelle wird mir wohl so viel Lebenserfahrung und religiösen Sinn zu trauen, daß hiemit kein gewaltsames Eindringen in das Vertrauen der Büßerinnen beabsichtiget wird; denn diese sind ja nicht gezwungen, sondern freiwillig in der Anstalt. Von Erzielung einer Besserung könnte ja gar keine Rede sein, wenn man ... ihre Freiheit beeinträchtigen wollte. Nein es drängt sie von selbst, sich einer Seele anzuvertrauen, von der sie wißen, daß dieselbe alles für sie zu thun im Stande ist. ... Ich ... erlaube mir ... noch zu bemerken, daß wollte man der Vorsteherin eines Besserungshauses für entlaßene Sträflinge das Recht nicht zugestehen, die Seelenbedürfniße derselben erkennen und beurtheilen zu wollen, dieses mit andern Worten so viel heißen würde, als die Anstalt wieder vernichten wollen.“
SICH SELBST VERZEIHEN
Die menschliche Fähigkeit zu verzeihen und um Vergebung zu bitten, ermöglicht Neuanfänge. Diese Fähigkeit gründet sich wesentlich auf gegenseitigen Beziehungen im zwischenmenschlichen Bereich. Wenn ein Kind zur Welt kommt, wird es entbunden. Es kann sich nicht selbst die Nabelschnur abschneiden. Auch bei Neuanfängen, wie sie das Vergeben und Verzeihen, die Versöhnung mit uns selbst, anderen und Gott betrifft, brauchen wir andere, die uns vom Leidvollen der eigenen Lebensgeschichte, von Schuld oder Sünde entbinden.
Sich selbst zu verzeihen, ist vielleicht das schwerste Werk, vor das wir bisweilen gestellt sind, um neu anfangen zu können. Im religiösen Kontext ist es Gott, der Sünden vergibt. Seine Vergebung erfahren wir bisweilen in unmittelbarer Gottesbeziehung, öfter aber vermittelt durch Menschen oder die Kirche.
NEUES JAHR – NEUE CHANCE
Wir stehen am Anfang eines neuen Kalenderjahres. Neuanfänge sind eine Chance, Geschenk und Gnade, ein Akt der Freiheit und Unverfügbarkeit. Die Bibel ist voller Mut-mach-Geschichten und Aufbrüche. Gott selber zeigt sich darin als Gegenwart, die Anfänge ermöglicht und zum Anfängertum herausruft – und keineswegs als religiöser Garant des Bestehenden. Wo Menschen anfangen und anderen Mut machen, neu zu beginnen, wo wir einander oder uns selbst vergeben, wo wir Mensch sind, indem wir Mensch werden, schreibt Gott die Geschichte mit uns Menschen fort.
FRÜHLING DER FRAUENKONGREGATIONEN
Mit dem Stichwort „Frauenkongregationsfrühling“ wird die weibliche Aufbruchsbewegung innerhalb der katholischen Kirche bezeichnet, die sich im 19. Jahrhundert im gesamten europäischen Raum ausbreitete. Aus der Bindung an und der Identifizierung mit der Kirche heraus wollten die traditionsbewussten Frauen nach den Zeiten der Aufklärung und der Französischen Revolution zur Erneuerung und zum Erstarken der Kirche beitragen und die Gesellschaft (wieder) mit dem christlichen Gedankengut in Verbindung bringen. Als probates Mittel wählten sie dazu tatkräftiges, pragmatisches Handeln.
Mit der Gründung der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu OSF und ihrer „Rettungsanstalt für verwahrloste Personen des weiblichen Geschlechtes“ zählt die am 14. Dezember 1813 in Würzburg geborene Antonia Werr zu den mutigen Pionierinnen, die sich unter Einsatz ihres Vermögens, ihrer Rente, ihrer Gesundheit und Ehre einer besonders unterprivilegierten Personengruppe zuwandte. Während die bürgerliche Gesellschaft die Frauen auf den Bereich des Hauses als der Sphäre des Privaten und Familiären zurückdrängte, wirkten die Ordensfrauen in den öffentlichen Raum hinein und verbanden Berufstätigkeit mit religiöser Überzeugung und gemeinschaftlichem Leben.
So wurden paradoxerweise gerade die Scharen von Krankenschwestern, Fürsorgerinnen, Lehrerinnen, die die Frauenkongregationen hervorbrachten, zu Pionierinnen weiblicher Berufe in Krankenpflege, Erziehung und Unterricht. Durch ihr pragmatisches Vorgehen und praktisches Handeln statuierten die Schwestern ein Exempel für ihre herausragenden Fähigkeiten im Dienste des sozialen Gemeinwesens.
Darüber hinaus bewiesen sie Kompetenzen in der Personalführung, im Management großer Unternehmen und durch die Realisierung umfangreicher Bauprojekte. So gelten die Schwestern heute als „wichtigste Begleiterinnen im Prozess des sozialen Wandels von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft“ (Relinde Meiwes, Arbeiterinnen des Herrn) sowie unbewusst als „Wegbereiterinnen der weiblichen Emanzipation“ (Ute Leimgruber, Avantgarde in der Krise).